6 SELTENE ERKRANKUNGEN September 2019
U
nsere Gene mögen winzig sein, ihre
Bedeutung und Zusammenspiel
sind umso komplexer. Deshalb kurz vor-
weg: Es geht um die DNA, ein Kettenmo-
lekül, das aus sogenannten Nukleotiden
besteht. Mit Gen ist ein Abschnitt auf der
DNA gemeint, der die Ausbildung eines
Merkmals bestimmt, Proteinbausteine
codiert oder eine Regulationsfunktion
hat. Wie all das abläut, wirkt und zu-
sammenhängt, ist Spezialgebiet von Pro-
fessor Rieß. Er ist ärztlicher Direktor des
Instituts für Medizinische Genetik und
Angewandte Genomik, Sprecher des Be-
handlungs- und Forschungszentrums
für Seltene Erkrankungen Tübingen und
Experte für Next Generation Sequencing
(NGS). Ein Begrif, unter dem neue DNA-
Sequenzierungstechniken subsumiert
werden. Sequenzierung meint das „Lesen“
der Nukleotid-Abfolge eines DNA-Mole-
küls. Und die neuen Lese-Möglichkeiten
durch NGS kommen einer Revolution in
der Genetik gleich. Deshalb haben diese
Verfahren eine besondere Relevanz für
die Diagnostik seltener Erkrankungen,
von denen 80 Prozent genetisch verur-
sacht sind. „In Deutschland sind drei bis
vier Millionen Menschen betrofen. 1,5
Millionen bleiben bisher selbst dann noch
ohne Diagnose, wenn man die heutige
genetische „State of the Art“-Diagnostik
anwenden würde, die in Deutschland aber
nur in wenigen Pilotprojekten möglich
ist“, wie Rieß erklärt.
Lesen von Exom und Genom
Was uns zu den Exomen und Genomen
führt. Der Begrif Genom bezeichnet die
Gesamtheit aller genetischen Informatio-
nen einer Zelle, Exom die Gesamtheit der
DNA, die zur Kodierung von Proteinen
fähig ist. Die NGS von Exom und Genom
sind zwei von vier Stufen einer Diagnos-
tik. Rieß erklärt: „Wenn es eine klare
Indikation gibt, wird das einzelne Gen
untersucht. Wenn Veränderungen in vie-
len unterschiedlichen Genorten klinisch
ähnliche Erkrankungen auslösen können,
wir also nicht vorab entscheiden können,
wo wir suchen müssen, machen wir Gen-
Panels.“ Beides ist üblich und erlaubt. Die
dritte Stufe wäre die Exom-Sequenzie-
rung, eine Untersuchung der gesamten
aktiven Anteile der DNA. Dies entspricht
etwa 23.000 Genen.“ Was im Vergleich zu
einer umfassenden Sequenzierung wenig
ist – „Selbst wenn wir nur zwei Menschen
genomweit vergleichen würden, kämen
wir auf vier Millionen Unterschiede“, so
der Professor. Da wäre es ot unmöglich,
die für eine Erkrankung verantwortliche
Sequenzvariante herauszuischen und
eine Diagnose zu stellen. Nach Exom-
Sequenzierung und weiteren Ausschluss-
verfahren blieben „nur“ ein paar hundert
Varianten, über die entschieden werden
müsste, ob sie eine Erkrankung auslösen.
Hier sind dann die medizinischen Fähig-
keiten des Genetikers gefordert, sein Wis-
sen um das Krankheitsbild, biochemische
Prozesse und die Familienanamnese des
Patienten. Hilt die Exom-Sequenzierung
aber auch nicht weiter, was ja circa 1,5 Mil-
lionen Patienten betrit, bleibt noch die
vierte Stufe, die Genom-Sequenzierung.
Wobei bereits eine Exom-Sequenzierung
nur im Rahmen der oben erwähnten Pi-
lotstudien erlaubt ist. Genome dürfen mo-
mentan nur auf Forschungsbasis sequen-
ziert werden, zum Beispiel im EU-Projekt
Solve-RD, das in Tübingen koordiniert
wird. Rieß beschreibt: „Ziel ist es, heraus-
zuinden, welche Bestandteile man wie
untersuchen muss, um die Diagnose eines
Patienten mit einer seltenen Erkrankung
zu inden. Wir entwickeln Standards und
lösen ungelöste Fälle.“
Lesen für alle
Insgesamt sei es aber so, dass sie gehot
hätten, bis heute mehr Fälle lösen zu kön-
nen. Dafür bräuchte es jedoch bessere
Versorgungsstrukturen. Hier müsse der
Gesetzgeber unterstützen, dass die an ei-
nigen Zentren bereits vorhandenen Tech-
nologien auch in der Krankenversorgung
eingesetzt werden dürfen. Das würde
auch bei der Erforschung anderer Krank-
heiten helfen, denn der Erkenntnisgewinn
ist nicht begrenzt. Rieß gibt ein Beispiel:
„Wir betreuten vor einigen Jahren eine
Parkinson-Familie. Damals haben wir
eine spezielle Mutation in einem Gen ge-
funden, die es in dieser Form nur einmal
auf der Welt gibt. Von solchen Fällen ler-
nen wir. Hier geht es um ein Eiweiß, das
der Hauptbestandteil der sogenannten
Lewy-Körperchen ist, Eiweißklumpen im
Gehirn. Zu dieser Aggregation kommt es
aufgrund genetischer Veränderungen.
Auch wenn das sehr selten ist, stellte sich
die Frage, ob dieser Zusammenhang
ebenfalls eine Bedeutung bei den sporadi-
schen Parkinson-Patienten hat. Heute
wissen wir, dass dies so ist und dass sogar
unsere Darmbakterien-Genome mitver-
antwortlich sind, dass Eiweiße im Darm
und Gehirn ‚verklumpen’. Das hängt alles
zusammen, da forschen wir jetzt weiter.“
Solche Beispiele zeigen, wie wichtig die
Erforschung von Exom und Genom ist,
nicht nur für die Diagnose seltener Er-
krankungen, sondern insgesamt, um Ge-
sundheit und Krankheit des menschli-
chen Körpers besser zu verstehen.
NGS – besser lesen
VON JOHANNA BADORREK
Professor Olaf Rieß von der Uni Tübingen hat sich auf
medizinische Genetik und Genomik spezialisiert.
Mit seinem Team erforscht er genetische Zusammenhänge,
entwickelt Diagnoseverfahren und Therapien für genetisch
bedingte Erkrankungen. Hier ein Exkurs mit ihm in den
komplexen Kosmos der Genetik und Genomik.
Prof. Dr. Olaf Rieß ist ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik in
Tübingen und Experte für Next Generation Sequencing (NGS).