verfahren weiter vereinfacht werden. Hier müsse die
Koalition überlegen, was sie zusätzlich tun könne.
„Deutschland befindet sich in einer technischen
Rezession“, stellte DIW-Konjunkturchef Claus Mi-
chelsen fest. Mit seinen Kollegen vom IfW und vom
RWI ist er sich allerdings einig, dass sich diese Rezes-
sion „kurzfristig nicht zu einer Krise auswachsen
wird“: Der Konsum sei dank der weiterhin guten Ar-
beitsmarktlage kräftig, und laut DIW entstünden
auch in diesem Jahr noch 200 000 neue Jobs – auch
wenn die Arbeitslosigkeit wegen der schwachen In-
dustrie erstmals seit der großen Rezession von 2009
leicht steige. Alle drei Institute rechnen derzeit mit
einer Rückkehr zu schwachem Wachstum im vierten
Quartal – und für das Gesamtjahr 2019 mit einer Ra-
te von 0,4 bis 0,5 Prozent. Für nächstes Jahr erwar-
ten sie ein Wachstum zwischen 0,9 und 1,4 Prozent.
Zu einem gewissen Teil sei es normal, dass sich
die Wirtschaft nach einer jahrelangen Boomphase
abkühle, so das IfW. Zur Erholung komme es aller-
dings nur dann, wenn die Handelskonflikte nicht
zunehmen und die USA keine Strafzölle auf euro-
päische Autos erlassen.
„Es ist daher jetzt nicht Zeit für ein klassisches
Konjunkturprogramm“, sagte auch RWI-Experte
Torsten Schmidt. Denn den Konsum habe die Re-
gierung bereits angekurbelt durch ihr Entlastungs-
programm aus dem Koalitionsvertrag.
Das DIW hat ausgerechnet, dass die Bürger von
2019 bis 2021 durch Koalitionsbeschlüsse wie höhe-
res Kindergeld, Mütterrente und Soliabbau insge-
samt um 41,4 Milliarden Euro entlastet werden.
Mehr kurzfristig wirkende Konjunkturprogramme
seien nicht nötig, zumal weitere Lohnsteigerungen
den Konsum weiter beflügelten, sind sich die Öko-
nomen einig.
Die Ursache der aktuellen Rezession liegt nach
allen drei Herbstprognosen in der Schwäche der
Exportindustrie, vor allem der Autoindustrie, die
unter der weltweit schwachen Nachfrage leidet.
Die von Merkel erwähnte grassierende Unsicher-
heit über die von US-Präsident Donald Trump be-
feuerten Handelskriege gilt als wichtigster Auslöser.
Die oft genannte Abschwächung der Konjunktur in
China trifft bislang zwar die Autoindustrie, aber
nicht alle deutschen Exporteure: Die Rückgänge
sind laut DIW bisher im Euro-Raum am stärksten.
„Der Brexit wirkt bereits“, so Michelsen. Die Aus-
fuhren nach Großbritannien seien schon 2018 um
0,3 Prozent gesunken und dürften 2019 in einer
ähnlichen Größenordnung zurückgehen.
Die Brexit-Unsicherheit hat demnach auch weite-
re Effekte: Wenn etwa Frankreich weniger nach
Großbritannien exportiere, dann würden auch die
deutschen Exporte nach Frankreich sinken, weil
Deutschland vor allem Ausrüstungsgüter
ausführe. So sei auch ein Großteil der
rückläufigen Exporte in die Nieder-
lande zu erklären, und dort
komme dann noch der „Rotter-
dam-Effekt“ hinzu: Dort liege
eben der wichtigste Hafen
Europas.
Ein harter Brexit dürfte
damit insgesamt das deut-
sche Wachstum 2020 um 0,
Prozentpunkte schmälern und
2021 um weitere 0,3 Prozent-
punkte. Ein weiterer Aufschub
des Brexits mit anhaltender Unsi-
cherheit dürfte allerdings den gleichen
Effekt haben. „Rein ökonomisch betrachtet
würde ein erneuter Aufschub des Brexits Deutsch-
land nichts nutzen“, sagte DIW-Chef Marcel Fratz-
scher. Es sprächen aber womöglich politische
Gründe dafür, wie eine dauerhafte Bindung der
Briten an Europa.
Die Ökonomen sind sich einig, dass die wirt-
schaftliche Schwäche nur durch ein langfristig an-
gelegtes Investitions- und Innovationsprogramm
überwunden werden kann. Deutschland habe
zwar die Investitionen erhöht. „Aber die Netto-In-
vestitionen sinken noch immer“, kritisierte Fratz-
scher. „Das Fundament der deutschen Wirtschaft
bröckelt“, lautet die Überschrift seiner Prognose.
Wie groß die Spielräume im Bundeshaushalt
noch sind, darüber gehen die Meinungen auseinan-
der. „Die strukturellen Überschüsse sinken deut-
lich“, so Michelsen, von 45 Milliarden Euro in die-
sem Jahr auf elf Milliarden Euro 2021. Zudem fielen
sie in den Sozialkassen an und nicht mehr im Bun-
deshaushalt – weshalb künftige Investitionen zusätz-
lich über Schulden finanziert werden sollten. RWI
und IfW sind dagegen überzeugt, dass es reiche, die
Überschüsse auf Investitionen zu konzen-
trieren, um bei der Modernisierung
voranzukommen.
„Deutschland exportiert vor al-
lem Fahrzeuge mit Verbren-
nungsmotor, während die gan-
ze Welt elektrifiziert“, sagte
Michelsen. Der Rückstand in
der Digitalwirtschaft sei ekla-
tant, der Netzausbau etwa
müsse viel schneller voran-
kommen.
Dieses Problem sieht auch die
Kanzlerin. „Wir müssen technolo-
gisch wieder auf Weltmaßstab kom-
men“, sagte sie und verwies etwa auf die
Herstellung von Chips, die Plattformwirtschaft
und die Batteriezellenproduktion. Die Ökonomen
warnten dabei allerdings vor Finanzierungsinstru-
menten wie den „Bürger-Anleihen“, die Wirtschafts-
minister Peter Altmaier (CDU) vorgeschlagen hatte.
Der Bund würde dafür Bürgern zwei Prozent Zinsen
zahlen. „Der Vorschlag ist in erster Linie teuer und
vermutlich nicht mal effektiv“, sagte IfW-Chef Ga-
briel Felbermayr. DIW-Ökonom Michelsen konkreti-
sierte: „Die KfW kann das besser und billiger.“
Kommentar Seite 15
Hafen Hamburg:
Die Unsicherheit
drückt auf die Ent-
wicklung der deut-
schen Wirtschaft.
Christian Charisius/dpa
Ökonomisch
betrachtet
würde ein
erneuter
Aufschub des
Brexits
Deutschland
nichts nutzen.
Marcel Fratzscher
DIW-Chef
Wachstum
0,
PROZENTPUNKTE
weniger dürfte das Wachs-
tum 2020 bei einem harten
Brexit betragen.
Quelle: DIW
Autoexport:
Die Ausfuhr deut-
scher Fahrzeuge geht
zurück – vor allem die
Chinesen halten sich
Krisztian Bocsi/Bloomberg beim Kaufen zurück.
Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019, NR. 176^9
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