Die Welt - 07.09.2019

(Axel Boer) #1

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07.09.19 Samstag, 7. September 2019DWBE-HP


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28 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019


I


rgendwann waren wir einmal in Frei-
burg, Peter Kurzeck und ich. Ich sollte
ihn moderieren, der Buchhändler Mi-
chael Schwarz hatte mich darum gebe-
ten. Ich kannte Peter Kurzeck damals
seit sieben oder acht Jahren. Die Le-
sung fand in einem großen Café statt,
es kamen vielleicht 130 Leute. Ich hatte mir
ein paar Sätze aufgeschrieben, um dem
Abend eine kleine Struktur zu geben, vor al-
lem aber, um selbst so kurz wie möglich zu
bleiben. Ich wusste, was auf das Publikum
zukommt, und manche aus dem Publikum
wussten es auch.
Peter Kurzeck war ein großer Erzähler und
ein großer Vorleser. Viele haben sich ihm
über sein improvisierendes, dennoch stets
im Voraus geübtes Reden und sein eigenwil-
lig melodisches Vorlesen genähert, weniger
über seine gedruckten Texte. Ich fand das
von Anfang an etwas seltsam, denn mir als
Schriftsteller war immer klar, was für ein
großer Künstler Peter Kurzeck gewesen ist,
und da ist es schon peinlich, als vergleichs-
weise gewöhnlicher Autor neben so einem
eigenständigen Genie herzulaufen und sich
andauernd klarzumachen, dass dieses Genie
im Vergleich zu einem selbst deutlich weni-
ger Bücher verkauft.
Da beginnst du dir, eigenes Schreiben und
eigener Erfolg hin und her, schon Gedanken
über Betrieb und Publikum zu machen. Ich
kenne einige Wissenschaftler, die sich inzwi-
schen auf Peter Kurzeck eingeschworen ha-
ben, es gibt auch ein kleines Stammpubli-
kum, und Peter Kurzeck hat zwei treue Mit-
arbeiter, die sich postum seinem Werk wid-
men, sein ehemaliger Lektor Rudi Deuble
und daneben Alexander Losse, beide nun He-
rausgeber des eben erschienenen Nachlass-
textes „Der vorige Sommer und der Sommer
davor“ (Schoeffling, 656 S., 32 €). Die Kriti-
ker sind begeistert, aber Zeitungspapier ist
vergänglich, und darüber hinaus liegt doch
ein eigentümliches Schweigen über diesem
Giganten der deutschen Literatur.
Es ist ein spezielles Schweigen, woran ma-
che ich es eigentlich fest – dieses Schweigen?
Vielleicht an Folgendem: Vor ein paar Tagen
hat Jamal Tuschick einen klugen Text über
Peter Kurzeck im Blog der Zeitung „Freitag“
veröffentlicht. Dass der Text klug war, spielt
hier keine Rolle. Jamal Tuschick ist Schrift-
steller, und das spielt für mich eine Rolle.
Plötzlich merkte ich nämlich, wie allein man
eigentlich auf weiter Flur ist, wenn man als
Schriftsteller (oder Schriftstellerin) über Pe-
ter Kurzeck spricht. Ich kenne jetzt neben
mir nur einen zweiten, eben Jamal Tuschick.
Und auch im sonstigen Betriebsgespräch
kommt Peter Kurzeck kaum vor. Jemand wie
Peter Handke oder Thomas Bernhard ist eine
stets gesetzte Referenzgröße. Irgendetwas
kann jeder mit diesen Namen anfangen, und
sei es bloß „Beschimpfungskünstler“ oder

„Princeton-Rede-Halter“. Bei Peter Kurzeck
muss ich oft eher umständlich erklären, wer
das überhaupt war.
Ich habe Schlüsselmomente mit Peter
Kurzeck erlebt, die mich haben begreifen las-
sen, welche Magie im Nahbereich um diesen
Mann herrschte. Im Jahr 2006 konnte ich Pe-
ter Kurzeck als Ehrengast in die Villa Massi-
mo einladen und dem damaligen Direktor,
Joachim Blüher, sogar ein Lesungshonorar
für Peter Kurzeck abringen, der ja stets we-
nig Geld hatte (siehe unten). Peter Kurzeck
las im kleinen Marmorsaal vor vielleicht 30
Leuten, und in der letzten Reihe saß ein klei-
nes, gerade dreijähriges Mädchen. Sie blieb
die ganze Lesung stumm und starrte Peter
Kurzeck völlig erstaunt an. Sie war wie ver-
zaubert. Ein dreijähriges Kind, verzaubert
von der Lesung eines Literaten. Verzaubert
in einer Situation, wo bei anderen Autorin-
nen und Autoren auch die Erwachsenen eher
wegdämmern!
Es liegt etwas nicht wirklich zu Greifendes
in den Sätzen Peter Kurzecks und in seiner
Sprechmelodie (ich vermute, beides – Sätze
wie Sprechton – kam erst im Lauf der Jahre
zusammen, blieb dann aber immer eins). Mit
Singsang ist es nicht beschrieben. Er hielt
den Stimmton in seinen Sätzen am Satzende
hoch, fast als endete er stets in einer Frage.
Oder er endete seine kurzen Sätze wie in ei-
ner Art Aufzählungsmodus, als würde er Sät-
ze hintereinander aufreihen und sie dadurch
zu Sträußen binden. Die Sätze haben, für
sich betrachtet, oftmals einen Charakter, als
könnten sie in einem Gedicht stehen. Ich
schlage eine beliebige Stelle auf: „Also den
Himmel und uns und die Zeit.“ „Es ist warm.
Alles leuchtet. Als ob du getragen wirst.
Wirst getragen und trägst die Welt.“ Die Sät-
ze kadenzieren oft, d.h., sie achten auf einen
metrisch schönen Schluss. An Kapitel- oder
Absatzenden stehen gern volltönende Satz-
schlüsse. Deshalb lautet etwa folgender Satz
nicht: „Aber alles andre an dir dafür nur um-
so verrückter“ sondern „Aber alles andre an
dir dafür nur umso verrückter seither.“
Die letzten drei Worte tanzen ihre Ver-
rücktheit wie einen Walzer. Es ergibt sich
von selbst, wieso bei dieser Art von Schrei-
ben das dritte Wort unbedingt „andre“ und
nicht „andere“ lauten musste. Die Vokal-
auslassung ist rhythmisch erzwungen und
wird auch ins Schriftbild übertragen. Das
noch Prosa zu nennen, ist zwar richtig,
aber erfasst nicht alles. Vielleicht bekommt
die Leserin oder der Leser dieses Artikels
jetzt einen Eindruck, was das dreijährige
Kind in Rom damals so verzaubert hat. Und
diese Verzauberung durch Sprache, die na-
türlich im sehr positiven Sinn auch ihr Ein-
lullendes hat, übertrug sich auch auf die er-
wachsene Zuhörerschaft. Wir alle, die wir
Peter Kurzeck kannten, wussten, dass wir
letzten Endes wehrlos vor ihm standen,

wenn er zu sprechen begann. Er streichelte
uns so dermaßen von innen, dass man,
wenn man vom Bild einer Massage ausge-
hen will, schon eigentlich das Wort Tantra
davorsetzen müsste.
Es existiert seit 2016 eine Monografie über
Peter Kurzeck (Christian Riedel: Peter Kurz-
ecks Erzählkosmos. Idylle – Romantik – Blu-
es. Aisthesis-Verlag), mit deren Hilfe man et-
was aus dem Eingelulltsein herauskommen
kann, weil sie in ihrer Analyse einen distan-
zierten Überblick über die von Peter Kurzeck

kann, weil sie in ihrer Analyse einen distan-
zierten Überblick über die von Peter Kurzeck

kann, weil sie in ihrer Analyse einen distan-

stets angerissenen Themen- und Motivfelder
verschafft. Denn natürlich hat sich Peter
Kurzeck in groß angelegter Weise stilisiert
und inszeniert, vor dem Publikum wie vor
sich selbst. Wer wollte es ihm verübeln? Rie-
del spricht vom Image des Bluessängers, der
immer „on the road“ ist, immer die Gitarre
dabei, der einsam an Bahnhöfen herumsitzt,
stets sein weniges Geld zählt, der eine erfah-
rungsgesättigte, prekäre Biografie besitzt
und am besten noch im vorigen Jahr völlig
verarmt als Tagelöhner auf einem Baumwoll-
feld gearbeitet hat und davon jetzt dem bes-
ser situierten Publikum vorsingt. Das trifft
es schon ziemlich! Für das Publikum ist das
pur romantisch und wirkt dabei zugleich ab-
solut authentisch.
Peter Kurzeck etwa besingt den Stadtteil
Frankfurt-Bockenheim immer aus der glei-
chen Prekärsituation heraus: Hat kein Geld,
lebt arm, hat ein Kind dabei, schreibt an sei-
nem Roman, reist aber durch Europa,
schreibt ständig seine Notizzettel voll und
erlebt immerfort ewige Augenblicke, die man
als Rechtsanwalt am Schreibtisch nicht er-
lebt, aber abends beim großen Gesang nach
dem mühevollen Tag auf dem Baumwollfeld
(um im Bild des Blues zu bleiben).
Gewürzt wird das große Gedicht, das
Kurzecks Werk im Grunde ist, stets durch
tragische Ingredienzien, die verhindern, dass
seine Prosa affirmativ und also kitschig
wirkt. Da wäre als das größte Motiv zu nen-
nen (und es hat seinen abschließenden Ro-
manzyklus „Das alte Jahrhundert“ ausge-
löst): Er hat durch Trennung seine Tochter
verloren. Das fundiert all seine Prosa seit
den 90er-Jahren. Im neuen, jetzt aus dem
Nachlass herausgegebenen Buch „Der vorige
Sommer und der Sommer davor“ stehen
überall wunderschöne Sätze über zwei Ur-
laube, die der Erzähler in Südfrankreich mit
seiner Freundin und der kleinen Tochter
macht. Sätze voller Friede, Ruhe, Ewigkeit,
Sonne und Schönheit. Die Kurzeck-Leser-
schaft weiß, aus welcher Perspektive das ge-
schrieben ist: aus der nach der Trennung und
dem Verlust der Tochter. Deshalb ist alles
durch Schmerz grundiert und für uns nicht
nur dauerhaft erträglich, sondern mitneh-
mend. Jetzt aber mal das Gegenexperiment:
Stellen wir uns vor, es würde diese Trennung
von Freundin und Kind nie stattfinden, viel-

mehr hätten sie gerade drei Millionen im
Lotto gewonnen, eben ein nagelneues Eigen-
heim mit Tiefgarage gekauft und noch in ei-
ne Mietimmobilie mit großer Renditeerwar-
tung investiert, führen dann in den Urlaub,
und wir läsen anschließend all diese Sätze
voller Südfrankreich, Friede, Ruhe, Ewigkeit,
Sonne und Schönheit. Wir würden uns ver-
mutlich übergeben.
Deshalb bietet sich an, Peter Kurzeck auch
immer wieder auf unseren eigenen Erwar-
tungshorizont, unseren eigenen Kitsch, un-
sere eigenen romantischen Klischees zu le-
sen. Er spiegelt und bedient diesen unseren
Horizont nämlich tatsächlich. Aber eben
nicht aus unserer Perspektive, sondern aus
der des prekären lonesome guy, der abseits
unserer Gesellschaft steht. Genau daraus
entsteht, dass Kurzecks ewiges Erzählen
über sich selbst für uns Relevanz hat, banaler
gesagt: dass wir dem gern zuhören. Bei aller
Schrecklichkeit hat dieses Leben nämlich für
uns Wunschcharakter: Es kommt uns näher
an der Wahrheit und überhaupt schöner oder
tiefer vor als unser eigenes. Wir haben nicht
diese Tragik in unserem Leben, und wir erle-
ben nicht solche geradezu metaphysischen
Momente von Welt, Sonne und stehender
Zeit, wir haben unsere Berufe und sind nicht
immerfort beim Singen unseres eigenen Le-
bens und so weiter. Tatsächlich, es ist diese
vermeintliche Authentizität, die wir doch
auch immer beim Hören von Arlo Guthrie,
von Joan Baez, von den 1967er-Beatles und
all diesen anderen Identifikationsfiguren im
Rock-Folk-Blues-Genre geliebt haben. Und
so wurde Peter Kurzeck von seinem Publi-
kum geliebt.
Damals in Freiburg gingen wir noch in ein
Restaurant. Unfassbar, wie viele Leute, vor
allem Frauen, aus dem Publikum mit dem
kleinen Mann mitkamen. Wir rückten alle
Tische zusammen, es wurde eine riesige Ta-
fel, nur teilte uns das Restaurant mit, dass
die Küche eben zugemacht habe. Denn Peter
Kurzeck hatte mal wieder lange, lange von
sich erzählt. Was dann passierte, hatte bibli-
sche Ausmaße. Gegen den zunehmenden
Protest des Restaurants kamen wie von Zau-
berhand immer mehr Schüsseln und Platten
und Schalen und Brote und was es alles gibt
herbei, die Freiburger(innen) waren alle in
ihre nahen Häuser oder Wohnungen geeilt
und speisten nun den kleinen Von-sich-
selbst-Sänger, und Peter Kurzeck, mit dem
glücklichsten aller möglichen Gesichter, saß
vor dieser Schlaraffentafel, die auch wirklich
unvergesslich anzusehen war. Er saß da, ge-
tragen von der Liebe, die er in den Menschen
für sich selbst erzeugt hatte.

Andreas Maier ist Schriftsteller. Im Juni
erschien „Die Familie“ (Suhrkamp) – der
siebte Roman seiner literarischen Vermes-
sung der Wetterau.

Nächster Halt: Bockenheim


Peter Kurzeck war


Frankfurt, Tragik


und Tiefe in einem.


Erinnerung an einen


Giganten der


deutschen Literatur.


VVVon Andreas Maieron Andreas Maier


Peter Kurzeck (1943 bis 2013)

STUDIO DIETER EIKELPOTH

AFP/ GETTY IMAGES

/ DANIEL ROLAND

Tiefgründig wie die
FFFrankfurter U-Bahn-Station rankfurter U-Bahn-Station
Bockenheimer Warte:
das war Peter Kurzeck

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