Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
von marc beise

Bremen – Der Brief erreicht die Empfän-
ger an diesem Wochenende. Er werde,
schreibt Ingo Kramer, 66, seinen Vizeprä-
sidenten, noch einmal verlängern: zwei
weitere Jahre als deutscher Arbeitgeber-
präsident. Das ist insofern bemerkens-
wert, als Kramer das Amt schon dreimal
zwei Jahre inne hat und zuletzt in Berlin
Gerüchte die Runde machten, der oberste
Repräsentant der deutschen Wirtschaft
sei amtsmüde. Wer kommt, wenn Kramer
geht?, lautete zuletzt eine häufiger gestell-
te Frage. Die kann man nun so beantwor-
ten: Er geht gar nicht. Das sagte er jetzt
erstmals öffentlich derSüddeutschen Zei-
tungbei einem Gespräch in seiner nord-
deutschen Heimat.
Am Ende ist diese Entwicklung für ihn
selbst überraschend. Denn der elegante
Hanseat aus Bremerhaven hat zum The-
ma Ehrenämter eine klare Meinung: Die
bekommt man auf Zeit übertragen und da-
bei sollte es auch bleiben: „Fünf Jahre, viel-
leicht eines weniger oder eines mehr.“ So
hat er das immer gesagt, so hat er es in an-
deren Fällen gehalten, und so sollte es
auch in Berlin sein. Dann aber machte ihm
die große Politik einen Strich durch die
Rechnung, und man kann nicht gerade sa-
gen, dass ihm das sehr leid tue. Es macht
ja auch Spaß, in der ersten Reihe mitzu-
spielen. Zu wissen, dass einem alle Türen
offen stehen. Dass die Kanzlerin umge-
hend zurückruft, wenn man sie braucht.


Seit 2013 führt der Anlagenbauer von
der Küste die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA),
den einflussreichsten Spitzenverband der
deutschen Wirtschaft. Als er erstmals den
Stab weitergeben wollte, beim Arbeitge-
bertag im November 2017, war gerade der
Versuch einer Jamaika-Koalition von Uni-
on, Grünen und FDP gescheitert und es
kam unter Mühen zur zweiten großen Koa-
lition von Union und SPD. Heute ächzt die
damals etablierte Koalition in den letzten
Zügen, und vielfach werden ihr Auseinan-
derbrechen vor Weihnachten und Neu-
wahlen im Frühjahr erwartet. Und wieder
also wird Kramer weitermachen. Nach
den Gepflogenheiten des Verbandes ist
ein Gegenkandidat unwahrscheinlich und
seine Wiederwahl sicher.
Anders als vor zwei Jahren sind es dies-
mal weniger die Kollegen, die ihn drän-
gen, es ist vor allem Kramer selbst, der
nicht aufhören mag. Dass ihm Amtsmü-
digkeit nachgesagt wird, hat ihn getrof-
fen, den Eindruck will er im SZ-Gespräch
widerlegen. Er sei keiner, der den Sturm
scheue, im Gegenteil. Im Nebenjob ist Kra-
mer im dreiköpfigen Vorstand der Deut-
schen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrü-
chiger – auch das ein Ehrenamt. Einmal
im Jahr schifft er sich für eine Woche auf
einem der 59 orangefarbenen Rettungs-


boote der DGzRS ein und macht Dienst in
rauer See. Es war dort auf dem Meer, ir-
gendwo zwischen Cuxhaven und Helgo-
land, in der Woche vor Ostern 2019, als bei
Kramer der Entschluss reifte, im Novem-
ber beim Arbeitgebertag in Berlin noch
einmal anzutreten. Interessant ist die Be-
gründung: „Ich kann beitragen, die Ver-
hältnisse in Berlin stabil zu halten“, sagt
Kramer. „Polarisierer gibt es genug, ich
kann vermitteln.“
Genau das allerdings wird im Verband
auch hinterfragt: Ist unser Präsident nicht
zu sanft? Andere wie der Chef des Verban-
des Gesamtmetall, Rainer Dulger, poltern
über den Reformstau der großen Koaliti-
on, halten den CDU-Mann auf dem Lud-
wig-Erhard-Posten, Bundeswirtschafts-
minister Peter Altmaier, für eine glatte
Fehlbesetzung und Angela Merkel für ei-
ne verkappte Sozialdemokratin. Der Ver-
band der Familienunternehmer lässt
kaum einen Tag aus, auf die Koalition ein-
zudreschen. Nicht so Kramer.

Das FDP-Mitglied ist, Achtung: erklär-
ter Merkel-Fan. Er hält ihr zugute, dass sie
mit ihrer „Politik auf Sicht“ das Land auf
Kurs halte. Vor allem ihre Flüchtlingspoli-
tik imponiert Kramer. Mit Merkels „Wir
schaffen das“ hat er kein Problem – ganz
im Gegensatz zu vielen politisch Gleichge-
sinnten und übrigens auch zu vielen Unter-
nehmern. Auch mit vielen anderen Reizfi-
guren des Wirtschaftslagers pflegt ausge-
rechnet der wichtigste Repräsentant der
Wirtschaft engen Austausch.
Seinem hauptamtlichen Gegenspieler,
dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerk-
schaftsbundes, Reiner Hoffmann, ver-
traut er hundertprozentig. Auf Bundesar-
beitsminister Hubert Heil, der unablässig
über neue Vergünstigungen für Arbeitneh-
mer nachdenkt, lässt er persönlich nichts
kommen, fast noch mehr mochte er Heils
Vorgängerin Andrea Nahles. Neuwahlen,
die den Grünen Robert Habeck ins Kanz-
leramt spülen könnten, fürchtet Kramer
kein bisschen, ja selbst mit den Linken
geht er konstruktiv um. Nur die AfD ist für
ihn indiskutabel wegen derer „menschen-
verachtenden Äußerungen“.
„Meine Leute träumen von einem CDU-
Kanzler Friedrich Merz“, sagt Kramer, er
aber gibt der CDU-Chefin Annegret
Kramp-Karrenbauer weiter eine Chance.
Die habe Regierungserfahrung und die Fä-
higkeit, auszugleichen. Wie er selbst,
könnte man sagen. „Ich will ja was errei-
chen. Dazu muss ich mit allen Verantwort-
lichen gesprächsfähig bleiben.“ Wenn er
in den Gremien gelegentlich ins Getüm-
mel gedrängt werden soll, sagt er: „Ihr
wisst schon, wen Ihr gewählt habt?“
Denn er hat es ja immer so gehalten,
und war damit erfolgreich. Den vom Vater
ererbten Metallbetrieb in Bremerhaven,
der beispielsweise die deutsche For-
schungsstation am Südpol baute, hat er so
im Geschäft gehalten. „Wenn ich meine
Kunden beschimpfe, kriege ich keine Auf-
träge“, sagt er. Und hält sich zugute, auch
in der Politik einiges erreicht oder verhin-
dert zu haben. Die von Nahles geplante Ar-
beitsstättenverordnung hat er gestoppt,
das Tarifeinheitsgesetz bis vors Verfas-
sungsgericht verteidigt und gerettet. „Es
ist leicht, immer draufzuhauen“, sagt er.
„Und was ist damit dann erreicht?“
Als Mittelständler weiß er, dass schwe-
re Zeiten kommen, Umsätze und Gewinne
sinken werden. Die Belastung der Betrie-
be ist zu hoch, die Rente nicht mehr sicher


  • und jetzt womöglich noch eine Regie-
    rungskrise. Da muss einer die Wirtschaft
    in der Mitte zu halten. Einer wie Kramer.


Bonn– Die Deutsche Post will mit batte-
riebetriebenen Transportern ihrer Toch-
terfirma Streetscooter nach China expan-
dieren. Man werde gemeinsam mit dem
chinesischen Autohersteller Chery eine
Variante des E-Paketautos entwickeln,
teilte der Konzern nun mit, und in China
eine Produktion für bis zu 100000 Fahr-
zeuge pro Jahr aufbauen. Streetscooter
stelle das Know-how, die chinesische
Seite könnte bis zu 500 Millionen Euro
investieren. Die Vereinbarung ist Teil
der Wirtschaftsabkommen, die während
der Chinareise von Bundeskanzlerin
Angela Merkel unterzeichnet wurden.
Zudem erwägt die Post nun eine Ferti-
gung in Amerika. Eine US-Version des
Streetscooters könnte in den kommen-
den zwei bis drei Jahren in den USA vom
Band laufen, sagt ein Konzernsprecher.
Zu möglichen Partnern könne die Post
noch nichts sagen.
Der Konzern hatte das Aachener Start-
up Streetscooter 2014 übernommen. Für
die Post selbst wurden bislang 10 000 E-
Transporter gebaut. Die weitere Entwick-
lung ist freilich offen. Konzernchef
Frank Appel hatte in der Vergangenheit
erklärt, die Post sei bei Streetscooter
bereit zu Kooperationen mit Autokonzer-
nen, schließe aber auch einen Börsen-
gang oder den Einstieg eines Finanzin-
vestors nicht aus. Man führe „vielver-
sprechende“ Gespräche mit Interessen-
ten, so der Sprecher. dpa, reuters

Bei seinem Amtsantritt hat
Ingo Kramer die Kanzlerin
geärgert. Sie solle nur bestellen,
was sie auch bezahlen könne,
rief er ihr zu. Heute verstehen
sich die beiden blendend.
FOTO: MONIKA SKOLIMOWSKA/DPA

München– Nach Großschäden in der In-
dustrie dauert es oft Monate, bis die Versi-
cherer des betroffenen Unternehmens
Zahlungen freigeben. Zunächst muss der
Versicherte den Schaden einreichen, ihn
detailliert schildern und zahlreiche Doku-
mente ausfüllen. Dann rücken in der Re-
gel Schadenexperten an und begutachten
das Ausmaß. Erst wenn geklärt ist, ob die
Versicherung den Schaden abdeckt, gibt
der Anbieter die Zahlung frei. Für Kun-
den, die dringend auf die Zahlung ange-
wiesen sind, wird diese Prozedur zur Ge-
duldsprobe. Eine recht neue Art von Versi-
cherung, die „parametrische Police“, soll
schnellere Zahlungen ermöglichen.
Nach dem schweren Tsunami, der Ja-
pan 2011 getroffen hat, warteten viele Ver-
sicherte wochenlang auf ihr Geld, erin-
nert sich Thomas Keist beim Symposium
des Gesamtverbands der versicherungs-
nehmenden Wirtschaft in München. Er ist
Experte für innovative Risikolösungen bei
Swiss Re Corporate Solutions, dem Indus-
trieversicherer der Swiss Re. „Es vergin-
gen sechs Monate, bis die Versicherer ge-
zahlt haben“, sagt Keist „Bei parametri-


schen Versicherungen wären es nur rund
zehn bis 30 Tage gewesen.“
Das Prinzip: Anbieter und Kunde ver-
einbaren im Vorfeld einen festen Zah-
lungsauslöser. Beispielsweise kann sich ei-
ne Reederei dagegen absichern, dass der
Rheinpegel unter eine kritische Grenze
sinkt, bei der die Wasserstraße unpassier-
bar wird. Das führt zum Ertragsausfall.
Wird der Wert des Pegels erreicht, zahlt
der Versicherer die festgelegte Summe.
„Durch den parametrisierten Auslöser
wird die Sicherheit für den Kunden er-
höht“, betont Keist. „Man weiß genau, was
man kriegt, und da gibt es keine Diskussi-
on.“ Bislang werden diese Policen vor al-
lem bei Wetterrisiken eingesetzt, doch
das könnte sich bald ändern, weil viel
mehr Daten zur Verfügung stehen. Ob Erd-
beben oder Flugverspätungen für wichti-
ge Zulieferungen, Keist sieht eine große
Zukunft für parametrische Versicherun-
gen. Gegenüber klassischen Policen hat
das Konzept jedoch auch Nachteile: Die
vorab vereinbarte Summe könnte zu nied-
rig sein, um den tatsächlichen Schaden zu
decken. anna gentrup

Ein sicherer Gewinn ist
der Traum jedes Anle-
gers. Ausgerechnet der Bund macht diesen Traum gerade
möglich: Er verkauft Goldmünzen zu einem Preis, der unter
dem Materialwert liegt, wie das AnlegermagazinBörse On-
lineherausfand. Es geht um Münzen mit dem Motiv „Unesco
Welterbe – Dom zu Speyer“(FOTO: OH). Sie wiegen eine halbe Un-
ze und werden für 626,98 Euro angeboten. Am Freitag koste-
te die halbe Feinunze rund 680 Euro. Wer die Münze ordert,
könnte demnach einen Kursgewinn von rund 53 Euro einstrei-
chen. Wie erklärt sich das kuriose Angebot? Der Grund ist der
starke Anstieg des Goldkurses in den vergangenen Monaten.
Der Bund kaufte das Gold für die Speyer-Edition schon vor ei-
niger Zeit zum damaligen Kurs von der Bundesbank. Daran
orientertiert sich der Verkaufspreis. „Eine nachträgliche An-

passung erfolgt nicht“, heißt es beim Bund. Bestellen können
Interessenten die Münzen noch bis Donnerstag bei der offizi-
ellen Verkaufsstelle für Sammlermünzen (www.deutsche-
sammlermuenzen.de). Insgesamt bietet der Bund 175 000
Stück an. Jeder Besteller kann bis zu zehn Münzen ordern,
was einen sicheren Gewinn von 530 Euro bedeuten würde. Al-
lerdings kann der Bund nicht versprechen, dass jeder alles be-
kommt, was er will, das richtet sich nach der Nachfrage. Eine
Münze soll es aber garantiert geben. Hat die Sache gar keinen
Haken? Doch, einen kleinen: Offiziell wird die Münze am 1.Ok-
tober ausgegeben, drei Wochen nach Ende der Bestellfrist.
Bis dahin kann der Goldkurs fallen. Im Grunde handelt es
sich also um eine kurzfristige Spekulation auf den Goldpreis


  • allerdings mit einem großzügigen Puffer, wie ihn derzeit
    nur der Bund ermöglicht. harald freiberger


Buenos Aires– Der weltweit zweitgröß-
te Modehersteller kauft kein Leder mehr
aus Brasilien. Am Freitag teilte der
schwedische Konzern H&M mit, dass er
wegen der Brände im Amazonasgebiet
und deren Verbindung zur Viehzucht
beschlossen habe, brasilianisches Leder
vorerst zu verbieten. Die Entscheidung
gelte für die gesamte H&M Gruppe, zu
der neben der gleichnamigen Modekette
auch Marken wie „Weekday“ oder
„H&M Home“ gehören. Das Verbot gelte
so lange, bis sichergestellt sei, dass Le-
der aus der Region nicht zur Zerstörung
des Regenwaldes beigetragen habe. Für
Brasilien ist das schon die zweite schwe-
re Absage eines internationalen Kon-
zerns innerhalb weniger Tage. Vorige
Woche hatte das Unternehmen VF, zu
dem Timberland, Vans und The North
Face gehören, angekündigt, dort wegen
der Feuer im Amazonas vorerst kein
Leder mehr kaufen zu wollen. cgur

Peking– Angesichts der Konjunkturab-
kühlung gewährt Chinas Notenbank den
Geldhäusern mehr Freiraum für weitere
Kredite in dreistelligem Milliarden-Um-
fang. Sie entschied am Freitag, die Reser-
veanforderungen für die Banken (RRR)
zum dritten Mal in diesem Jahr zu sen-
ken – und zwar um einen halben Pro-
zentpunkt. Einem ausgewählten Kreis
von Geschäftsbanken winkt sogar eine
Kappung um einen vollen Prozentpunkt.
Damit soll mehr Geld zur Kreditvergabe
losgeeist werden. Die Notenbank PBOC
nannte ein Volumen von 900 Milliarden
Yuan (rund 114 Milliarden Euro). Die
Zentralbank betonte, damit setze sie
keine Konjunkturhilfe in Form einer
„Geldschwemme“ in Gang. Die Reserve-
anforderungen RRR sind seit Anfang
2018 insgesamt bereits sieben Mal abge-
senkt worden. Im Zuge des Handels-
streits mit den USA hat Chinas Wirt-
schaft an Fahrt verloren. reuters

Berlin– Inkassofirmen, die Geld von
säumigen Kunden eintreiben, sollen
künftig weniger Gebühren verlangen
dürfen. Einen entsprechenden Gesetz-
entwurf hat Justizministerin Christine
Lambrecht (SPD) vorgelegt. „Wer mit
seinen Schulden in ein Inkassoverfahren
gerät, muss ohnehin schon draufzah-
len“, sagte Lambrecht. Derzeit dürfen
Inkassofirmen auch bei kleinen Forde-
rungen eine Gebühr von bis zu 70,20
Euro in Rechnung stellen, selbst wenn
sie nur einen Brief verschicken. „Sol-
chen Inkassofallen werden wir einen
Riegel vorschieben“, sagte Lambrecht.
Schuldner, die zur Zahlung bereit sind
und den Inkassofirmen deshalb wenig
Arbeit machen, sollen geschützt werden.
Für sie soll die Gebühren-Höchstgrenze
bei Forderungen bis zu 500 Euro auf
37,80 Euro sinken. Dem Gesetzentwurf
zufolge, betrifft das 83 Prozent aller
Inkasso-Verfahren. dpa

Frankfurt– Die US-Finanzinvestoren
Carlyle und Apollo liefern sich Insidern
zufolge einen Bieterkampf um die Nah-
verkehrstochter Arriva der Deutschen
Bahn. Auch der US-Finanzinvestor Lone
Star sei noch im Rennen, hieß es. Arriva-
Wettbewerber wie Keolis, Go-Ahead,
Stagecoach, Transdev oder ComfortDel-
Gro seien jeweils nur an Teilen von Arri-
va interessiert und würden sich daher
wohl nicht durchsetzen. Offerten für die
Bahn-Tochter, die mit drei bis vier Milli-
arden Euro bewertet werden dürfte,
seien am Donnerstag fällig, sagten die
Insider. Endgültige Gebote für das Unter-
nehmen mit seinen europaweit 53.000
Mitarbeitern würden für Ende Oktober
erwartet. Neben einem Verkauf treibt
die Bahn auch einen Börsengang von
Arriva in Amsterdam voran. Am 18. Sep-
tember solle der Aufsichtsrat der Deut-
schen Bahn über den Verkaufsprozess
informiert werden. reuters

München– Beim europäischen Satelliten-
navigationssystem Galileo ist vieles dop-
pelt ausgelegt: Nicht nur die hochpräzi-
sen Atomuhren sind mehrfach in den Sa-
telliten verbaut, um Ausfälle zu minimie-
ren. Es gibt auch zwei Kontrollzentren,
die im Notfall für das jeweils andere ein-
springen können. Trotzdem ist das Sys-
tem Mitte Juli für eine Woche zusammen-
gebrochen. Nach SZ-Informationen des-
halb, weil die Betreiber bewusst auf diese
Backup-Funktion verzichtet haben, um
die Software zu aktualisieren. Die Euro-
päische Kommission hat wegen der Pan-
ne mittlerweile ein Untersuchungskomi-
tee berufen: Vier Experten aus Spanien,
Frankreich, Deutschland und Italien sol-
len die Ursachen ermitteln. Erste Ergeb-
nisse sind nach Kommissionsangaben im
Oktober zu erwarten, der Schlussbericht
Ende des Jahres.
Die Betreiber hatten das Galileo-Sys-
tem mit derzeit 26 Satelliten Mitte Juli
herunterfahren müssen. Als Ursache
nannte die Galileo-Behörde GSA in Prag
damals eine „Fehlfunktion in der Galileo-
Bodeninfrastruktur“, wodurch es nicht
möglich gewesen sei, die genaue Position
der Satelliten zu berechnen. GSA-Chef
Carlo des Dorides präzisierte einige Tage
später im Industrieausschuss des Euro-
päischen Parlaments, dass sich die Panne
im Kontrollzentrum in Fucino bei Rom er-
eignet habe. Da im zweiten Kontrollzen-
trum in Oberpfaffenhofen bei München
gerade ein Sicherheitsupdate eingespielt
worden sei, habe das deutsche Team
nicht als Backup einspringen können, sag-
te er der WebseitePoliticozufolge.
Nach SZ-Informationen ist der Worst-
Case-Fall aber vor allem deshalb eingetre-
ten, weil in beiden Kontrollzentren gleich-
zeitig unterschiedliche Software-Up-
grades in das System hochgeladen wur-
den. Dies hätte nicht zur gleichen Zeit pas-
sieren dürfen. Die Updates in den Kon-
trollzentren sind mathematisch so kom-
plex, dass sie Tage dauern, weil sie jeweils
etwa 150 Server betreffen. Normalerwei-
se werden solche Updates deshalb nicht
zeitgleich in beiden Kontrollzentren ge-
fahren, damit im Notfall das jeweils ande-
re übernehmen kann.
Als nun aber genau solch ein Notfall in
Fucino eintrat, weil es dort Probleme mit
einem Upgrade gegeben habe und die alte
Version nicht mehr verfügbar war, sei die
deutsche Bodenstation wegen eines eige-
nen Updates nicht in der Lage gewesen,
Aufgaben aus Italien zu übernehmen,
sagt ein Insider. Man habe den Absturz
des Systems praktisch sehenden Auges
verursacht. Das berechnete Restrisiko sei
nicht besonders hoch gewesen, deshalb
habe man sich dazu entschieden, vorüber-
gehend auf die Redundanz zu verzichten.

Folge war, dass die Satelliten zwar Si-
gnale gesendet haben, diese aber nicht
verarbeitet werden konnten, um die exak-
te Position der Satelliten zu berechnen.
Dies ist Grundvoraussetzung für Navigati-
onsbestimmung und Zeitsignal, weil je-
der Satellit durch Gravitationskräfte und
andere Einflüsse wie Sonneneinstrah-
lung und Sonnenwinde, das so genannte
Weltraumwetter, von der Umlaufbahn ab-
weichen kann. Eine Nanosekunde Zeitver-
zögerung bedeutet etwa 30 Zentimeter
Ungenauigkeit auf der Erde. „Alle 90 Mi-
nuten bekommt der Satellit prognostizier-
te Positionsdaten, wo er sich in den nächs-
ten 14 Stunden befinden wird. Wenn er
keine neuen Daten nachgeschoben be-
kommt, läuft das aus“, so der Insider.

Ein Grund, warum das Galileo-Team
die eigene Redundanz-Strategie nicht
konsequent einhielt, war wohl der Zeit-
druck: Das Milliardenprojekt, das Europa
unabhängig vom amerikanischen GPS-
System machen soll, ist seit Jahren in Ver-
zug und von Pannen begleitet, die nächs-
ten beiden Galileo-Satelliten sollen im
Herbst 2020 starten.
Auch wenn die Satelliten nach einer
Woche wieder online gegangen sind, ist

das System noch immer nicht komplett
funktionsfähig. Ein Team des Industriebe-
treuers Thales aus Toulouse arbeitet dem
Vernehmen nach daran, das System der
Bodendienste in Fucino nach dem miss-
glückten Update wieder voll aufzusetzen.
Anschließend sollen die etwa 50 Experten
dasselbe in Oberpfaffenhofen erledigen.
Dies könnte Ende November abgeschlos-
sen sein, heißt es. Das bedeutet aber auch,
dass die Galileo-Kontrolle bis dahin im-
mer noch nicht voll gesichert ist. Ein wei-
terer Ausfall in Fucino zum jetzigen Zeit-
punkt würde also wohl nach sich ziehen,
dass Galileo erneut offline gehen müsste.
Weder Thales noch der deutsche Betrei-
ber DLR äußern sich dazu.
Hinderlich für das Notfallmanagement
sind auch die Galileo-Strukturen: Eine
Panne wie im Juli, die nur der Hersteller
beheben kann, muss über GSA, Kommissi-
on und Raumfahrtagentur Esa an Thales
gemeldet werden – ein schnelles Telefo-
nat reicht da nicht. Ein Eingreifteam soll
aber dem Vernehmen nach 2022 kom-
men. Die Nutzer bemerken solche Pannen
bislang kaum: Das Navi funktioniert mit
dem amerikanischen GPS-Signal, Galileo
ist erst im Aufbau.
Die GSA probt derweil wieder Normali-
tät: Gerade veröffentlichte die Behörde
im Internet ein besonderes Schmankerl:
einen Bastelbogen zum Ausdrucken, da-
mit Fans sich ihren eigenen Galileo-Satel-
liten bauen können. dieter sürig

Absturz mit Ansage


Der Ausfall des Satellitennavigationssystems Galileo war wohl hausgemacht


Streetscooter will nach China


Schneller Geld für Firmen


Neuartige Policen versprechen zügige Schadenregulierung


Goldige Gewinne


H&M für Amazonasschutz


China lockert Geldpolitik


Gesetz gegen Inkassofallen


Bahn-Tochter Arriva begehrt


Mit viel


Gefühl


Eigentlich wollte Deutschlands oberster Arbeitgeber
Ingo Kramer abtreten, jetzt macht er
doch weiter – er will den Job nicht den Hardlinern
überlassen. Dafür, sagt er, sei die wirtschaftliche
und politische Lage derzeit viel zu heikel

Das System ist noch nicht
komplett wiederhergestellt –
mit allen Konsequenzen

FDP-Mann Kramer ist
Merkel-Fan – auch und gerade
wegen ihrer Flüchtlingspolitik

28 WIRTSCHAFT HF2 Samstag/Sonntag,7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


Galileo soll mindestens 30 Satelliten umfassen. Derzeit sind es 26 Einheiten, die
nächsten beiden sollen voraussichtlich 2020 starten. FOTO: PIERRE CARRIL/ESA/DPA

KURZ GEMELDET

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