Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
Vertreiben oder anstacheln?
Arsenal-Trainer Unai Emery ignoriert
den Spielmacher Mesut Özil  Seite 43

von joachim mölter

E


s gibt erstaunliche Parallelen zwi-
schen den drei großen Ballsportar-
ten hierzulande. Die Handballer,
als Titelverteidiger angereist, haben die
Europameisterschaft 2018 spektakulär
in den Sand gesetzt und die K.-o.-Runde
verpasst. Die Fußballer, ebenfalls als Ti-
telverteidiger angereist, schieden bei der
WM 2018 schon nach der Vorrunde kra-
chend aus.
Jetzt haben auch die Basketballer ihre
WM verbockt. Sie waren zwar nicht als Ti-
telverteidiger nach China geflogen, aber
doch auch mit sehr hohen Erwartungen.
Die aktuelle Auswahl war als talentier-
teste Generation in der Geschichte des
Deutschen Basketball Bundes (DBB) be-
worben worden – entsprechend groß wa-
ren die Hoffnungen gewesen, die sie bei
dem Turnier nun enttäuscht hat. Dieses
läuft zwar noch, aber die K.-o.-Runde ist
nicht mehr zu erreichen, bestenfalls die
Qualifikation für die Qualifikation für die
Olympischen Spiele 2020 in Tokio, was
noch komplizierter ist, als es sich liest.


Mit der Teilnahme an der Trostrunde
um die Plätze 17 bis 32 haben die deut-
schen Basketballer jedenfalls eine ihrer
seltenen Chancen vergeben, größere Auf-
merksamkeit auf sich zu ziehen, gerade
von außerhalb ihrer Nische, ihrer Blase.
Sie haben zudem schon viel Vorfreude
verspielt auf die Heim-EM 2021. In zwei
Jahren, so der Plan der DBB-Funktionä-
re, soll die Mannschaft auf dem Höhe-
punkt ihrer Entwicklung und Schaffens-
kraft sein – und eine Medaille gewinnen.
Aber was jetzt?
Vielleicht sollten sich die Basketballer
auch bei der Aufarbeitung ihres Debakels
an Hand- und Fußballern orientieren.
Die haben in den aufbrausenden Debat-
ten Ruhe bewahrt und sachlich Fehler
analysiert. Und sie haben an ihren ebenso
reflexartig wie gerechtfertigt in die Kritik
geratenen Bundestrainern festgehalten,
an Christian Prokop und Joachim Löw.
Der Handball-Coach Prokop hat dann
mit der gleichen Mannschaft weiter-
gemacht, aber sein Spielsystem drastisch
vereinfacht und bei der WM im Januar
vor heimischem Publikum mit der Halbfi-
nalteilnahme und Platz vier vieles wieder
gutgemacht. Der Fußballtrainer Löw hat
derweil nicht nur seine Spielweise modifi-
ziert, sondern auch seinen Kader ver-
jüngt. Ob und was an Zählbarem dabei
herauskommt, wird man letztlich erst bei
der EM 2020 sehen. Die ist für die deut-
sche Elf ja zumindest in der Vorrunde
auch eine Heim-Veranstaltung.
Dem Basketball-Bundestrainer Hen-
rik Rödl ist ebenfalls zuzutrauen, dass er
die richtigen Lehren aus der WM zieht. Er
wird es nicht dabei belassen, dass seine
junge Mannschaft bei der verhängnisvol-
len 68:70-Niederlage gegen den Außen-
seiter Dominikanische Republik halt
einen schlechten Tag hatte in einem Mo-
dus, der keinen schlechten Tag verzeiht.
Wie sein Handballkollege Prokop kann
auch Rödl im Grunde mit dem gleichen
Kader weitermachen, er muss sich aber
für alle Fälle spielerisch und taktisch
eher etwas mehr einfallen lassen.
Freilich müssen auch seine Spieler aus
dem Rückschlag lernen; sie haben das
Malheur nämlich mitverursacht. Das gilt
nicht nur, aber eben auch für den Spiel-
gestalter Dennis Schröder, der sich auch
selbst als Anführer der Mannschaft sieht.
Der 25-Jährige ist zweifellos der beste
Basketballer, den Deutschland hat nach
dem Rücktritt von Dirk Nowitzki; er ist
willens und in der Lage, ein Spiel allein zu
entscheiden. Aber allein wird er kein Tur-
nier gewinnen, keine Medaille.
Wenn die deutschen Basketballer Er-
folg haben wollen, wird auch Schröder sei-
ne Spielweise anpassen und sich einfü-
gen müssen. Nach dem 96:62 jüngst ge-
gen Jordanien sagte er freilich trotzig:
„Entweder spiele ich mein Spiel, oder ich
spiele gar nicht.“ Wenn das so ist: dann
vielleicht lieber gar nicht.


FOTO: DAVID KLEIN / REUTERS

Joachim Mölter erinnert
sichgern an die WM 2002:
Da durfte er über den Bron-
zegewinn der deutschen
Basketballer berichten.

Kampf oder Flucht


Bei den US Open zeigt sich besonders
deutlich, dass Tennis heute mehr Show
als Wettkampf ist  Seite 41 Wofür bezahlte Franz Beckenbauer in der WM-Affäre
zehnMillionen Franken? Die Ermittler in Bern und
Frankfurt wollen es nicht so genau wissen  Seite 40

von christof kneer

Hamburg–Joachim Löw hat nach der ver-
unglückten WM in Russland ja verspro-
chen, dass er in naher Zukunft einiges an-
ders machen werde. Dieses Versprechen
war insgesamt eine gute Idee, weil der Bun-
destrainer ansonsten vermutlich entlas-
sen worden wäre; so aber wurde nur der al-
te Löw durch einen neuen Löw ersetzt. Der
neue Löw hat zum Beispiel ein paar alte
Spieler entfernt und überhaupt ein paar Sa-
chen gemacht, die ihm im WM-Quartier
im sagenumwobenen Watutinki auch
schon hätten einfallen können: Er stellte
zum Beispiel Joshua Kimmich ins Zen-
trum und begnadigte Leroy Sané, der sich
allerdings gar nichts hatte zuschulden
kommen lassen. Nun, beim vierten Spiel
der laufenden EM-Qualifikation gegen die
Niederlande in Hamburg, verblüffte der
Offensivliebhaber Löw die Fachwelt mit ei-
ner Neuerung, die von ihm als Allerletztem
erwartet hätte: Er ließ seine Elf Defensiv-
fußball spielen.

Drei Innenverteidigern Niklas Süle,
Mathias Ginter und Jonathan Tah stellte
Löw zwei defensive Außenverteidiger (Lu-
kas Klostermann, Nico Schulz) an die Sei-
te, und neben der Fachwelt wunderten
sich vor allem die Niederländer: Sie hatten
in einem Auswärtsspiel beim Favoriten
plötzlich ganz oft den Ball, und sie wunder-
ten sich dann noch mal, weil die Deut-
schen sie ziemlich lange gewähren ließen.
Ein Coach für Überraschungen war Löw
bislang selten, und so zeigte das Spiel in
Hamburg vor allem eines: dass der Bundes-
trainer immer noch auf der Suche ist. Noch
ist er sich nicht ganz im Klaren, wie er sei-
ne Umbruch-Elf spielen lassen soll. Und
nach der insgesamt erstaunlich passiv er-
littenen 2:4 (1:0) -Niederlage gegen die Nie-

derlande wird Löw nochmal überlegen
müssen, was er künftig in Auftrag gibt.
Vor dem Spiel hatte Löw seine neue
Mannschaft mit der von 2010 verglichen,
mit jener jungen Elf, die bei der WM in Süd-
afrika einen erfrischenden Außenseiter-
fußball gespielt hatte. Bei der WM in Russ-
land war Löws alternde Combo zuletzt mit

ihrem erhabenen Slowmotion-Fußball im-
mer wieder ausgekontert worden, was
Löw offenbar auf die Idee brachte: Lasst
uns doch selber mal wieder kontern, so
wie damals in Südafrika! So fiel immerhin
auch das 1:0: Kimmich schüttelte einen
spektakulären Flugball aus dem Fußge-
lenk hinaus auf den rechten Flügel, wo

Klostermann lossauste und zunächst an
Torwart Cillessen scheiterte, bevor Serge
Gnabry den Ball mit etwas Glück im nieder-
ländischen Tor unterbrachte (9.).
Ja, Löw hat etwas verändert, man kann
das nicht anders sagen. Der Fußball, den
er sein Team spielen ließ, war das Gegen-
teil von Watutinki. Löw hat versucht, sich
neu zu erfinden, unter Verweis auf seine ei-
gene Vita – siehe Südafrika. Funktioniert
hat das in diesem Spiel überhaupt nicht.
Zwar war Löws Taktik nach neun Minu-
ten erst mal aufgegangen, aber erstaun-
lich war, wie sehr seine Elf dieser neuen
Marschroute treu blieb. Das Interesse an
eigenen Angriffen blieb auch nach der Füh-
rung extrem überschaubar, Deutschland
dominierte nicht, sondern übte sich in
sehr ungewohnter Zurückhaltung – im-
mer mit dem Hintergedanken, irgend-
wann einen Ball zu erwischen und damit
die sündhaft schnellen Werner, Gnabry
und Reus auf die Reise zu schicken. Es sah
aber nicht aus wie in Südafrika, sondern
eher so, als würde Mainz 05 in der Bundes-
liga einem großen Favoriten begegnen, al-
lerdings spielt Mainz in der Regel aggressi-
ver und verteidigt höher als die seltsame
blasse DFB-Elf.
Vereinfacht gesagt, war das der Plan:
Hinten sollte das ehe mittelgute als gute
Personal sicherheitshalber tief stehen, da-
vor bildeten der aggressive Kimmich und
der ballsichere Kroos eine weitere Reihe,
und ums Stürmische kümmerten sich fast
ausschließlich die drei Sprinter da vorn.
Nach dem Wechsel kam die DFB-Elf zu-
nächst zu ein paar Chancen, weil die nie-
derländische Defensive vorübergehend
ein bisschen pflichtvergessen wirkte, aber
blieb die abwartende Versuchsanordnung
dieselbe, und so war es durchaus folgerich-
tig, dass die Gäste das Spiel drehten: Erst
gelang de Jong der Ausgleich, weil Kloster-
mann, Schulz und vor allem Tah nachläs-
sig verteidigten (53.); zwölf Minuten spä-
ter unterlief dem bedenklich wackelnden
Tah ein Eigentor.
Immer mehr stellte sich heraus, dass

Löws Plan sich zumindest in dieser Radika-
lität doch etwas gegen das Naturell der
Mannschaft wendet. Weil die DFB-Elf viel
seltener als sonst am Spiel teilnahm, fand
sie auch nie zur gewohnten Sicherheit –
das galt auch, nachdem Kroos mit einem
hoch umstrittenen Handelfmeter wieder
Ausgleich geschafft hatte (73.). Nur drei Mi-
nuten später lag Löws Elf wieder hinten:
Nach einem Fehlpass von Ginter konter-
ten nun die Holländer, und nach einem
Querpass von Wijnaldum erzielte Debü-
tant Malen das 3:2. Und auch das 4:2 durch
Wijnaldum war wie zum Hohn: ein Konter.

BASKETBALL

Verspielte


Vorfreude


DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 HMG 39


SPORT


Das Gegenteil von Watutinki


Zum Auftakt der Länderspielsaison verliert die deutsche Nationalmannschaft 2:4 gegen die Niederlande – der bedenklich wacklige
Auftritt der DFB-Elf zeigt auch, dass Bundestrainer Joachim Löw immer noch auf der Suche nach seiner Umbruchs-Elf ist

Handballer und Fußballer


haben nach den Debakeln


ihre Bundestrainer behalten


Das Interesse
aneigenen Angriffen
blieb überschaubar

Alles zum Länderspiel Deutschland – Niederlande:
Am Samstag ab 22 Uhr erscheint die digitale Ausgabe
Sport am Wochenende sz.de/sport-we

Sport digital


Glückliches Führungstor: Ein ungewollter Aufsetzer von Serge Gnabry (rechts)
bringtDeutschland die 1:0-Führung. FOTO: ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY

Fünf Tore nach der Pause
EM-Qualifikation:die deutsche Gruppe C

Deutschland – Niederlande 2:4 (1:0)
Deutschland: Neuer (Bayern München/33/89) – Ginter
(Mönchengladbach/25/27), ab 84. Brandt (Dortmund)
Süle (Bayern München/24/21), Tah (Leverkusen/23/7)


  • Klostermann (Leipzig/23/3), Kimmich (FC Bayern/
    24/43), Kroos (Real Madrid/29/93), N. Schulz (Dort-
    mund/26/9) – Werner (RB Leipzig/23/26), 61. Havertz
    (Leverkusen/20/4), Gnabry (Bayern München/24/9),
    Reus (Borussia Dortmund/30/42), 61. Gündogan (Man-
    chester City/28/34). – Trainer: Löw.
    Niederlande: Cillessen (Valencia/30/51) – Dumfries
    (Eindhoven/23/10), 58. Pröpper (Brighton & Hove/28/
    16), De Ligt (Juventus Turin/20/18), Van Dijk (Liver-
    pool/28/29), Blind (Ajax Amsterdam/29/65) – de Roon
    (Bergamo/28/13), ab 58. Malen (Eindhoven/20/1), de
    Jong (FC Barcelona/22/10), Wijnaldum (Liver-
    pool/28/58) – Depay (Lyon/25/49), Babel (Galatasa-
    ray/32/59), ab 81. Aké (Bournemouth), Promes (Ajax
    Amsterdam/27/39). – Trainer: Koeman.
    Tore: 1:0 Gnabry (9.), 1:1 de Jong (59.), 1:2 Tah (66./Ei-
    gentor), 2:2 Kroos (73./Handelfmeter), 2:3 Malen (79.),
    2:4 Wijnaldum (90.+1). – SR: Soares Dias (Portugal). –
    Gelbe Karten: Kimmich – Depay, de Roon, de Jong. – Zu-
    schauer (in Hamburg): 51 299 (ausverkauft).
    Estland – Weißrussland 1:2 (0:0)



  1. Nordirland 4 4 0 0 7:2 12

  2. Deutschland 4 3 0 1 15:6 9

  3. Niederlande 3 2 0 1 10:5 6

  4. Weißrussland 5 1 0 4 3:10 3

  5. Estland 4 0 0 4 2:14 0
    9.9.: Nordirland – Deutschland (in Belfast).


Jahrmarkt in New York
FOTO: CLIVE BRUNSKILL / AFP

Eine Spur zu heiß


So oft konnte Manuel Neuer gar nicht retten, wie die Gäste frei vor seinem Tor auftauchten: Frenkie de Jong leitet mit dem Ausgleich zum 1:1 die Wende ein. FOTO: ELMAR KREMSER / SVEN SIMON
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