Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

Samsta g, 7. September 2019 INTERNATIONAL 3


Abgeordnete fordern Aufklärung


Der Mord an einem Georgier in Berlin beschäftigt die deutsche Politik – doch die Regierung schweigt


ANJASTEHLE, BERLIN


«Hoch geehrte Gräfin Praschma, ich
bitte Sie umRat und Hilfe für Selimchan
Changoschwili.Er wird so massiv von der
russischen Seite verfolgt,dass sein Le-
ben in Gefahr ist und er des besonderen
Schutzes bedarf.» So beginnt ein Brief,
der am 13.Januar 2017 bei der Abtei-
lungsleiterin des Bundesamtes für Migra-
tion und Flüchtlinge (Bamf) Ursula Grä-
fin Praschma eingeht. Der Absender ist
Ekkehard Maass, der Vorsitzende der
Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft. Er
will den Georgier Changoschwili bei sei-
nem Asylgesuch in Deutschland unter-
stützen. Man solle ihn nicht dorthin zu-
rückschicken,«wo er für den langenArm
Putins erreichbar ist», schreibt Maass
weiter. Doch eine Antwort auf seinen
Hilferuf hat er nie bekommen.
Stattdessen ist Changoschwili nun
tot. Ermordet am 23.August in Berlin-
Moabit mit zweiKopfschüssen aus einer
Glock 26. Eine Hinrichtung am helllich-
ten Tag. Deutsche Sicherheitskreise ver-
gleichen denFall bereits mit dem Gift-
anschlag auf den früheren russischen Ge-
heimdienstoberstSergei Skripal und des-
sen Tochter 2018 im britischen Salisbury.


Verbindungennach Moskau


Auch imFall Changoschwili mehren sich
die Anzeichen auf einen politisch moti-
vie rten Mord. Bei dem mutmasslichen
Täterhandelt es sich um den angeblich
49-jährigen Wadim Sokolow, dem Ver-
bindungen zu russischen Geheimdienst-
kreisen nachgesagt werden. Er wurde
kurz nach derTat gefasst.Umso erstaun-
licher ist es, dass die Bundesregierung
bis anhinzu demFall schweigt. Das so rgt
auch bei vielenParlamentariern für Un-
mut. «Es wundert mich schon, dass sich
die Bundesregierung zu demFall noch
nicht geäussert hat», sagt der SPD-Ab-
geordneteFritz Felgentreu.Vieles deute
darauf hin, dass der russische Geheim-
dienst hinter dem Mord stecke.Wenn
sich derVerdacht erhärte, müsse die
Bundesregierung unmissverständlich
klarmachen, «dass ausländische Spione
in Deutschland nicht einfach Menschen
auf offener Strasse tötenkönnen».
Auch der CDU-Politiker Patrick
Sensburg verweist aufVerbindungen zu
Russland: Erste Erkenntnisse zurPer-
son des mutmasslichen Täters deute-
ten in Richtung des russischen Militär-
geheimdienstes GRU, sagt er.
Noch deutlicher wirdder Grünen-
Politiker und stellvertretendeVorsit-
zendedes ParlamentarischenKontroll-


gremiums, Konstantin von Notz. «Das
bisherige, laute Schweigen der Bundes-
regierung zu diesem ungeheurenVor-
gang irritiert massiv.» DieRegierung
müsse schnellstmöglich die Hinter-
gründe aufklären, fordert von Notz.
Die Zurückhaltung der Bundes-
regierung hat Gründe.Wie schnell sich
ein solcherVorfall zur diplomatischen
Krise ausweitenkönnte, das zeigen die
Erfahrungen mit Skripal. 2018 hatte der
versuchte Mord an dem russischen Ex-
Agenten und dessenTochter für Empö-
rung gesorgt. Nachdem zwei mutmass-
liche GRU-Agenten versucht hatten,
Skripal mit dem NervengiftNowitschok
zu töten, wiesen viele Staaten russische
Abgesandte aus.Auch Deutschland ver-
abschiedete daraufhin vier russische
Diplomaten mitVerbindungen zum Ge-
heimdienst.
Der Fall Changoschwilikönnte ähn-
lich brisant werden.Laut Recherchen
des «Spiegels»und des britischen Inves-
tigativnetzwerks Bellingcat war derTat-
verdächtige mit einer falschen Identität
nach Deutschland eingereist. DiePass-
nummer führe zu ei ner Einheit im Mos-
kauer Innenministerium, heisst es. Die
Abteilung soll Dokumente für den Mili-

tärgeheimdienst ausgestellt haben. GRU
wird auch inVerbindung mit Skripal ge-
bracht. Es gibt daherVermutungen, dass
der mutmassliche Mörder imAuftrag
eines russischen Geheimdienstes oder für
den Vertreter Putins in Tschetschenien,
Ramsan Kadyrow, gehandelt haben soll.

Hinweise ignoriert


In Berlin will nächsteWoche dasParla-
mentarischeKontrollgremium des Bun-
destagesAufklärung einfordern. Das
Gremium ist für dieAufsicht der Nach-
richtendienste in Deutschland zuständig.
In der Sitzung dürfte es nicht nur um die
möglicheVerbindung des Täters nach
Moskau gehen.Auch dürfte interessie-
ren,weshalb Changoschwili von den Be-
hörden nicht besser geschützt wurde –
obwohl es deutliche Hinweise auf seine
Bedrohung gegeben hatte.
In seinem Brief an die Abteilungs-
leiterin desBamf berichtete derVorsit-
zende der Deutsch-Kaukasischen Gesell-
schaft Maass detailreich von derVergan-
genheit Changosc hwilis. Dieser hatte im
zweiten Tschetschenienkrieg gegen die
Russen gekämpft. Bereits 2015 sei auf
Changoschwili einAnschlag verübt wor-

den. Nach seiner Flucht nach Deutsch-
land habe er täglich Drohbriefe erhalten.
Im Juli 20 17 schrieb Maass einen zwei-
ten Brief an dasBamf, in dem er um
Schutz für dieFamilie Changoschwili
bittet. Doch auch dieser Brief blieb un-
beantwortet. Der Asylantrag wurde ab-
gelehnt.Das Innenministerium bestätigt
auf Nachfrage, dass das Opfer «sowohl
den deutschen Sicherheitsbehörden als
auch dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge bekannt» gewesen sei. Die
Frage, warum mankeinen Schutz ge-
währt habe, blieb unbeantwortet.
Noch ist offen, ob der General-
bundesanwalt die Ermittlungen in dem
Mordfall übernehmen wird. Es wäre ein
deutliches Signal anRussland.Die Bun-
desanwaltschaft ermittelt unter anderem
dann, wenn es einenVerdacht auf ge-
heimdienstliche Agententätigkeit gibt.
Zuletzt war das bei der Entführung
eines vietnamesischen Geschäftsmanns
im Sommer 2017 in Berlin derFall, was
zu einer diplomatischen Krise zwischen
Berlin und Hanoigeführt hatte. Die
Bundesregierung hatte denVertreter
des vietnamesischen Nachrichtendiens-
tes in Berlin aufgefordert, Deutschland
innerhalb von 48 Stunden zu verlassen.

Spurensicherung amTatort inBerlin-Moabitam vergangenen23.August. CLEMENS BILAN / EPA

Auf den Polterer folgt eine nüchterne Chefbürokratin


Die italienische Innenminister in Lucia na Lamorgese ist in jederHinsicht ein Gegenprogramm zu ihrem Vorgänger Matteo Salvini


ANDREA SPALINGER,ROM


Mit LucianaLamorgese übernimmt eine
nüchterne Chefbeamtindas italienische
Innenministerium und damit auch das
heikle Dossier Immigration.Die 65-Jäh-
rige hat eine lange Karriere in demAmt
hinter sich,das s ie künftig leiten wird,
und kennt den Apparat damit besser als
all ihreVorgänger. Bereits zweimal war
sie Kabinettschefin. Zudem amtete sie
auch als Präfektin, das heisst als oberste
Emissärin des Innenministeriums,in den
ProvinzenVenedig und Mailand.


Kein Facebook,kein Twitter


Die ausPotenza in derBasilicata stam-
mendeJuristin gilt als nüchtern, effizient
und hart arbeitend. Sie hatkeinen Face-
book-,Twitter- oder Instagram-Account.
Der Kontrast zu ihremVorgänger, dem
Rechtspopulisten Matteo Salvini,könnte
kaum frappanter sein. Nicht nurinhalt-
lich wird unter ihr ein klarer Kurswech-
sel in der Migrations- und Sicherheits-
politik stattfinden,sondernauch im Stil.
Der Lega-Chef verbrachte im ver-
gangenenJahr nur wenig Zeit in sei-


nem Ministerium und liess sich auch bei
Treffen mit den europäischenAmtskol-
legen nur selten blicken. Der Mailänder
nutzte sein Amt vor allem dazu,Wer-
bung für sich selbst selbst zu machen.
Er reiste von Piazza zu Piazza, von Nord
nach Süd. Bei seinenAuftritten truger
auch einmalPolizeiuniform, um Stärke
zu demonstrieren. Im Sommer liess sich
Salvini gar alsDJ, mit nacktem Ober-
körper und Bierglas in der Hand, an
den Stränden feiern. Dabei wirkteer so
aufgedreht, dass argwöhnischeLands-
leute munkelten, er habe wohlnicht nur
Alkoholkonsumiert.Auch in den sozia-
len Netzwerken schürte derRechtspopu-
list geschickt die Angst seiner Mitbürger
und bot sich diesen gleichzeitig alsRet-
ter an. EinJahr lang dominierte er den
öffentlichen Diskurs vollkommen. In
Live-Videos undTweets bombardierte
er die ItalienerimStundentaktmit Tira-
den über die «Massenzuwanderung» und
die «prekäreSicherheitslage».
Der Rechtspopulist schloss die Häfen
für Rettungsschiffe. Er brachte zwei um-
strittene Sicherheitsgesetze durchsPar-
lament, die Hilfsorganisationen, die
Migranten auf dem Mittelmeerret-

ten, kriminalisierten, Integrationspro-
gramme für Asylbewerber abschafften
und auch dieRechte vonanerkannten
Flüchtlingen stark einschränkten. Zu-
dem führte er ein höchst fragwürdiges
Recht auf Selbstverteidigung ein.

Pragmatikstatt Populismus


Dass dank einem Abkommen derVor-
gängerregierung mit Libyen die Zahl der
Ankömmlinge schon einJahr vor seinem
Amtsantritt stark zurückgegangen war,
verschwieg er geflissentlich. Ebenso die
Tatsache, dass Italien – im Gegensatz zu
anderen europäischen Staaten – noch
nicht Ziel von Anschlägen islamistischer
Terroristen geworden war. Mit derAngst
vor dem Fremden liessen sich die durch
eine lange wirtschaftliche Krise zer-
mürbten Italiener leichter mobilisieren,
als wenn er versucht hätte, glaubwürdige
Rezepte für die chronischen Probleme
des Landes zu formulieren.
Mit derWahl einer parteilosenTech-
nokratin hat der alt-neueRegierungs-
che f, Giuseppe Conte, nun ein klares
Zeichen gesetzt.Das Innenministerium
soll entpolitisiert undentdramatisiert

werden. Der linkePartito Democratico
hatte bei denKoalitionsverhandlungen
die Abschaffung von Salvinis umstritte-
nen Sicherheitsdekreten gefordert. Die
Cinque Stelle, die diesen einst selber zu-
gestimmt hatten, wollen aber nicht so
weit gehen. Denn diePolitik der harten
Hand ist beimVolk durchaus populär,
und man will aufkeinenFall riskieren,
dass der Zustrom der Migranten wieder
anwächst.Im Programm heisst es des-
halb nurvage, man wolle die Sicher-
heitsgesetze, gegen die auch der Staats-
präsidentverfassungsrechtliche Beden-
ken angemeldet habe, überarbeiten.Wie
dies geschehen soll, liegt nun inLamor-
geses Hand. Sie dürfte die Häfen wohl
wieder öffnen, gleichzeitig aber am Ab-
kommen mit Libyen festhaltenund sich
dafür starkmachen, dass weiterhin mög-
lichst wenige Boote von dort aus Rich-
tung Italien aufbrechen.
Die Süditalienerin hat in derVergan-
genheit gefordert, dass im Bereich der
Zuwanderung striktereRegeln aufge-
stellt werden müssten. Gleichzeitig hat
sie aber auch auf dieWichtigkeit der
Integration hingewiesen, umRadikali-
sierungen zu vermeiden.Als Präfektin

von Mailand hatte sie pragmatisch mit
Stadt,Region und Gemeinden zusam-
mengearbeitet, um eine gerechtereVer-
teilung von Asylbewerbern zwischen
der Metropole und den umliegenden
Gemeinden zu erreichen und die Inte-
gration zu verbessern. Ihr erfolgreiches
«Mailänder Modell» wurde landesweit
bekannt.Dazu gehörte allerdings auch
eine harteHand in der Sicherheitspoli-
tik. Die Präfektin liess unter anderem
den durch illegal Zugewanderte be-
lagerten Mailänder Hauptbahnhof und
mehrere besetzte Häuserräumen.
UnterLamorgese dürften sich auch
die Beziehungen zur EU wieder verbes-
sern.Die neue Innenministerin wird sich
in Brüssel vor allem für eineRevision
des Dubliner Asylabkommens stark-
machen, also für eine gerechtereVertei-
lung derAnkömmlinge auf die Mitglied-
staaten.Wegen desWiderstands ost-
europäischer Staaten sind alle bisheri-
ge nVors tösse in dieseRichtung jedoch
gescheitert,und bekommt Rom nun
nicht schnell mehr europäische Solida-
rität zu spüren, wirdSalvini dies genüss-
lich ausschlachten und die neueRegie-
rung enorm unter Druckkommen.

Umstrittener


Besuch aus Iran


Berliner Bürgermeister empfängt
Teheraner Amtskollegen trotz Kritik

HANSJÖRG MÜLLER, BERLIN

Am Freitag hat der Berliner Bürger-
meister Michael Müller seinenTehera-
ner Amtskollegen Pirouz Hanachi emp-
fangen.Bereits imVorfeld hatte sich des-
wegen Kritik geregt:Von einem «fatalen
Signal an all jene, die sich täglich gegen
Antisemitismus engagieren», schrieb
die BerlinerAussenstelle des Ameri-
can Jewish Committee auf ihrer Web-
site.Auf Twitter hatte sichauch die ame-
rikanische Botschaft in die Debatte ein-
geschaltet:Iran fordere Israels Zerstö-
rung, verf olge Homosexuelle und halte
ausländische Gefangene zu Unrecht fest.
Der amerikanische Botschafter Richard
Grenell hielt Hanachi vor, mit den irani-
schenRevolutionswächtern verbandelt
(«affiliated») zu sein, einer paramilitäri-
schen Organisation, die als ebenso treue
wie brutale Stütze desRegimes gilt.
Kritik an dem Sozialdemokraten
Müller kam allerdings auch aus der
deutschenPolitik: Es sei unerträglich,
«einem radikalen Antisemiten Ehre
und Aufmerksamkeit» zuteilwerden zu
lassen, sagte BurkardDregger,der Chef
der christlichdemokratischenFraktion
im Berliner Abgeordnetenhaus. Ha-
nachi habe Ende Mai inTeheran an
einem sogenannten Al-Kuds-Marsch
teilgenommen, monierten dieFraktio-
nen von CDU, FDP und AfD im Ber-
linerParlament. Al-Kuds ist der arabi-
sche NameJerusalems. Die Forderun-
gen, die auf den gleichnamigenAufmär-
schen deklamiert werden, laufen auf ein
Ende des jüdischen Staates hinaus.
Müller empfange seinen Amtskolle-
gen, weil man sich über das Städtenetz-
werk Metropoliskenne, dessen Präsi-
den t der Berliner Bürgermeister der-
zeit sei, hiess es imVorfeld desTreffens
aus demRathaus.Am liebsten wäre es
den BerlinerVerantwortlichen wohl
gewesen, den Besuch als turnusmäs-
sige Angelegenheit herunterspielen zu
können. AmFreitag gab es ein Arbeits-
gespräch der beiden Bürgermeister und
einenFototermin, aber keine Pressekon-
ferenz.Vor demRathaus protestierten
iranische Exilanten gegen dieVisite.
Während Washington gegenüber
Teheran eine harte Linie bevorzugt,
setzen Deutschland und seine euro-
päischenVerbündetenFrankreich und
Grossbritannien auf Dialog. Dass israe-
lische Bedenken dabei mitroutinierter
Dickfelligkeit beiseitegewischt werden,
wirkt angesichts derVerbundenheit mit
dem jüdischen Staat, von der deutsche
Politiker in Festreden so gerne sprechen,
zumindest irritierend.
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