WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT^15
ker über alle Gewohnheiten hinausgeht und ein sol-
ches Fait accomplisetzt, wird es verfassungsgemäß.
„Verfassung ist, was im Parlament passiert“, wie es
neulich jemand witzig, aber völlig korrekt beschrieb.
Demokratie ist, was heute nicht mehr gilt. Dabei hat
das Unterhaus, anders als etwa der Deutsche Bundes-
tag, kein Initiativrecht zur Gestaltung neuer Gesetze.
Es kann nur die Vorlagen der Regierung billigen oder
ablehnen. Ja, sogar über den Ablauf der Abstimmun-
gen wacht die Downing Street, der Speaker hat keine
Macht, die „order papers“, die von der Downing Street
vorgegebene Sequenz der Geschäfte, umzustoßen.
Aber die flexible Verfassung macht es möglich. Man
muss gar nicht bis zum englischen Bürgerkrieg und
dem Tod Karls I. – wahrlich ein Umsturz der Geschäf-
te! – zurückgehen, um dies zu illustrieren. In den Jah-
ren 1910/11 befand sich die liberale Asquith-Regierung
in einem Abnutzungskrieg mit dem Oberhaus, das da-
mals noch die Befugnis hatte, der Exekutive in den
Arm zu fallen und Gesetze abzulehnen. Über die Re-
formpolitik der Regierung entbrannte ein fürchterli-
cher Streit – Lloyd George, der Finanzminister, und
sein Kollege Winston Churchill, der Innenminister,
legten sich ins Zeug gegen das Oberhaus und seine
Rechte. Wie heute Boris Johnson mit seinem Schlacht-
ruf: „Das Parlament verrät die Entscheidung des Vol-
kes!“, nämlich das Resultat des EU-Referendums von
2016, zog damals Churchill zu Felde mit Vorträgen wie
„Die Lords gegen das Volk“ in einer Sprache, die den
gewohnt blumigen Reichtum von Johnsons Idiom
noch in den Schatten stellt.
Der 35-jährige Abgeordnete, Abtrünniger seiner
aristokratischen Herkunft und von den Tories zu den
Liberalen übergelaufen, zog in seinen Invektiven ge-
gen das Oberhaus sämtliche sprachlichen Register:
„alte Tatterlords, mächtige Brauer mit Zwiebelnasen
- alle Feinde des Fortschritts finden sich da versam-
melt –, Schwächlinge, geschmeidige, selbstgefällige,
geruhsame, aufgeblasene Individuen“. Es war, als
wollte Churchill den Schatz an Verwünschungen, den
jede Sprache zur Verfügung stellt, wie einen Kübel
Unrat über das Oberhaus und seine Okkupanten aus-
schütten. Der Streit ging damals zu Ende, indem Kö-
nig George V. auf Bitten der Regierung über Nacht
100 neue Lords der Liberalen kreierte und damit dem
Reformprogramm zum Durchbruch verhalf. Seither
sieht sich das Oberhaus legislativ in den zweiten
Rang versetzt.
NACH RECHTS GERÜCKTBoris Johnson bewegt sich
heute wie ein Volkstribun über dem verminten Boden
des Parlaments, unbekümmert darüber, dass er seine
Partei, die Tories, an den extremen Rand verschiebt
und ihre Bedeutung für die britische Demokratie, de-
ren Stabilität weiter unterminiert.
Prophetisch hatte er das vor vielen Jahren einmal in
einem Gespräch, umschrieben: „Es wäre falsch, wenn
ich mir den Maulkorb umhängen, mich zum Neutrum
stempeln ließe.“
So sieht ein Spieler aus, dessen Straucheln die briti-
sche Demokratie auf den Plan ruft. Wie wird sie aus
dieser Krise hervorgehen?
4.9.
VVVotum gegen den Premierotum gegen den PremierDas
britische Unterhaus stimmt für die
Brexit-Verschiebung bis zum 31.
Januar 2020, falls es bis zum 19.
Oktober keinen Ausstiegsvertrag
gggibt. In der Folge werden 21 Toriesibt. In der Folge werden 21 Tories
aus der Partei ausgeschlossen
ominic Grieve scrollt durch die E-Mails, die
er an diesem Morgen erhalten hat. „Noch
keine Morddrohung dabei“, sagt er mit ei-
nem feinen Lächeln und steckt lustvoll die Gabel in
das Würstchen, das sein Full English Breakfast
krönt. Keine zehn Stunden zuvor saß der Tory-Poli-
tiker noch auf den grünen Lederbänken im Unter-
haus und schrieb gemeinsam mit den anderen 20
„Rebellen“ britische Geschichte.
VON STEFANIE BOLZEN
Am Dienstagabend hatten die „Tory-Rebellen“
zusammen mit der Opposition ihrem Premiermi-
nister den ersten Hieb verpasst, indem sie seiner
Regierung die Kontrolle über die Parlamentsagen-
da entrissen. Am Mittwochabend verdonnerten sie
Boris Johnson dann zuerst zum Gang nach Brüssel,
um dort eine Verlängerung der Brexit-Frist zu er-
bitten. Um ihn gleich danach ein drittes Mal nie-
derzuringen, als der Premier per Misstrauensvo-
tum noch vor dem EU-Gipfel Mitte Oktober eine
Neuwahl durchdrücken wollte. Nach einem Sieg, so
sein letztlich erfolgloses Kalkül, würde er das Man-
dat des Parlaments ignorieren und sein Verspre-
chen an die Nation wahr machen: die EU ohne ei-
nen Austrittsvertrag zu verlassen.
Nebenbei zog Johnson die größte Säuberungsakti-
on in den eigenen Reihen durch, an die sich die einst
stolze Partei erinnern kann. Er ließ alle „Rebellen“
feuern. Unter den „Parias“ finden sich Namen, die
Legende sind in der Konservativen Partei. Veteranen
wie Ken Clarke, als „Father of the House“ dienst-
ältester Parlamentarier. Aber auch Politiker wie Ro-
ry Stewart, junger Hoffnungsträger der Moderaten.
Welche Worte fand der Fraktionschef für Grieve,
als er ihn zum Geächteten erklärte? „Mit mir hat
bisher niemand gesprochen. Womit ich wohl der
Einzige bin. Aber da ich keinen Zugang mehr habe
zum internen Parteiserver, nehme ich an, dass ich
draußen bin“, sagt Grieve trocken. Er habe immer
ein so gutes Verhältnis zu den Fraktionschefs ge-
habt, dass „sie vielleicht zu höflich waren, um es
mir zu sagen. Vielleicht war es ihnen peinlich“.
DER PATE ALLER REBELLENDieses Verhalten
des Parteiapparats gegenüber einem offenen Wi-
dersacher spricht Bände über die Zerrissenheit der
Konservativen. Zumal Grieve, wäre er nicht so eng-
lisch bescheiden, den Titel des Paten aller Rebellen
für sich in Anspruch nehmen könnte. Dem 63-jäh-
rigen Juristen und Oxford-Absolventen verdankt es
das Unterhaus, dass eine Blockade des EU-Aus-
stiegs überhaupt möglich wurde. Im Dezember
2017 reichte Grieve erfolgreich den entscheidenden
Antrag ein, dass die Regierung nur mit Plazet des
Unterhauses ein Brexit-Abkommen mit den Euro-
päern schließen kann. Dreimal ist dieser Deal, im
November 2018 in Brüssel besiegelt, durchgefallen.
Doch mit der Blockade im Unterhaus ist die Sack-
gasse, in der die Briten stecken, nur noch ein biss-
chen länger geworden. Einer Lösung, in dieser Hin-
sicht hat Premier Johnson recht, sind sie nach dem
Chaos der vergangenen Woche kein Stück näher.
Selbst wenn Premier Johnson beim Europäi-
schen Rat Mitte Oktober doch noch eine Einigung
mit den 27 EU-Staaten fände – die Chancen sind
groß, dass er erneut an den 20 bis 30 Brexit-Hard-
linern in seiner eigenen Fraktion scheitert. Wes-
halb Johnson laut britischen Medien nun sogar er-
wägt, das Gesetz zu brechen und den Auftrag des
Parlaments zu ignorieren, in Brüssel um eine Ver-
längerung zu bitten. Grieve kann sich das nicht vor-
stellen. „In diesem Moment müsste der hohe briti-
sche Beamtenapparat zurücktreten. Der General-
staatsanwalt müsste zurücktreten. Das wäre ein
Verstoß gegen die Rechtsordnung.“
Geschichte
geschrieben
2 1 Tories haben sich gegen Boris
Johnson gestellt – mit Folgen
D
5.9.
Boris Johnsons Bruder JoEr legt
sein Amt als Staatssekretär und sein
Mandat als Abgeordneter für die
TTTories nieder ories nieder
EntscheidungAuch das Oberhaus verabschiedet
das Gesetz gegen einen ungeregelten EU-Austritt
Großbritanniens. Es fehlt nur noch die Unter-
schrift der Queen, damit es in Kraft treten kann
6.9.
AP
/JESSICA TAYLOR
AP
/ALBERTO PEZZALI