Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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WELT AM SONNTAG NR. 36 8. SEPTEMBER 2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT^21


ren ist zu lesen, dass die zu werbende Kon-
taktperson „eine positive Herausbildung
der Fähigkeit zur Verschwiegenheit und
VVVerstellmöglichkeit“ haben müsse und da-erstellmöglichkeit“ haben müsse und da-
rüber hinaus „hilfsbereit, kontaktfreudig
und anpassungsfähig“ zu sein habe.


„ICH HABE GLÜCK“ WWWas war das?as war das?
Großmutter und Onkel lancierten. Partei-
sekretär, Pädagogen, Erzieher wussten,
nickten ab und sahen zu, wie eine Sech-
zehnjährige alle vierzehn Tage das Schü-
lerinternat gegen 14 Uhr verließ und sich
erst zum Abendbrot um 19 Uhr wieder in
der Warteschlange des Speisesaals ein-
fffand. „Ich habe Glück, dass ich hier seinand. „Ich habe Glück, dass ich hier sein
darf, im Internat“, schrieb die regelmäßig
AAAbwesende. „Die Eltern der anderen Kin-bwesende. „Die Eltern der anderen Kin-
der arbeiten irgendwo im kapitalistischen
AAAusland im Staatsdienst. Hier gibt’s Erzie-usland im Staatsdienst. Hier gibt’s Erzie-
her, die für uns da sind, für alle Kinder.
VVVon morgens bis abends. Ich bin mit zweion morgens bis abends. Ich bin mit zwei
Mädchen auf dem Zimmer. Hier habe ich
endlich Übersicht.“
Übersicht? Die regelmäßigen Treffen
mit „Robert“ alle 14 Tage sollten ver-
meintlich renitente Schüler, Alkohol, Ar-
meeverweigerer, Rockfans, mithin „oppo-
sitionelle Haltungen“ im Umfeld des pu-
bertierenden Tschekisten zutage fördern.
Die „schwüle“ Atmosphäre, die bei diesen
Treffen herrschte, gehörte als gezielte
Sexualisierung zum Kalkül der Stasi. Die-
ser Typ Führungsoffizier war auf psy-
chischen Missbrauch hin spezialisiert.
Meist waren es junge Männer, die auf die
Schülerinnen angesetzt wurden. Je ver-
liebter und abhängiger die Mädchen wa-
ren, umso beeinflussbarer. Nicht vorgese-
hen war direkter Sex. Alles andere gehörte
zum Einsatzprofil. Mitunter ging einer in
diesem entgrenzten Raum über das


hinaus, was der Auftrag war. So auch bei
Jana. „Robert“ verlangte bei jedem Tref-
fffen mehr Informationen, erzählt Jana, esen mehr Informationen, erzählt Jana, es
ging um Details. Das setzte mir zu, ich
versuchte, mich zu entziehen, glaubt sie
erklären zu müssen. Aber er spürte sie
aaauf, verpflichtete sie einmal mehr auf denuf, verpflichtete sie einmal mehr auf den
gemeinsamen Auftrag. Im Bericht hielt er
fffest, dass „die Bindung an das Organ“ beiest, dass „die Bindung an das Organ“ bei
ihr noch intensiviert werden konnte. Am
5. Februar 1979, genau zwei Wochen nach
ihrer Volljährigkeit, fand ein nächstes
Treffen statt. „Robert“ wollte feiern, mit
Sekt und zwecksicherem Geschenk – ei-
nem goldenen Kugelschreiber. Mit dem
Stift unterschrieb die auf den Tag Acht-
zehnjährige ihre Verpflichtungserklärung
fffür die Staatssicherheit unter dem Deck-ür die Staatssicherheit unter dem Deck-

namen „Tonka“. „Anschließend“, schrieb
er im Bericht, „wurden allgemeine Proble-
me der persönlichen Entwicklung, Fragen
der Vormundschaft und deren Auflösung
mit dem 18. Lebensjahr besprochen.“ Das
„„„Vertrauen zum Organ“, hieß es, „wurdeVertrauen zum Organ“, hieß es, „wurde
erneut gefestigt“.
Ich wusste nicht, wie das geht, Nein zu
sagen, sagt Jana. Ich hatte Angst. Also un-
terschrieb ich. Wenige Tage später war ich
weg. Ich versuchte, den Treffen zu ent-
kommen, irgendwie unerreichbar zu sein,
den ganzen Mist loszuwerden. Er fand
mich immer. Unmittelbar nach dem Abi-
tur, im September 1979, habe ich in Berlin
eine kleine Wohnung angemietet. Zwei
Monate später verliebte ich mich in Mi-
chael*. Ihm erzählte ich alles. Drei Jahre
später kam unser Sohn, wir heirateten, ich
begann mit dem Studium: afrikanische Li-
teratur an der Humboldt-Universität.
ÄÄÄußerlich schien das Leben halbwegs inußerlich schien das Leben halbwegs in
der Bahn, die „Tonka“-Zeit vorbei.
Nicht aber in mir, sagt Jana. Ich fühlte
mich schuldig, wie gelähmt, innerlich wie
versteinert. Wie von dem Spuk loskom-
men, dem Ekel? Mit wem kannst du darü-
ber reden? Über Selbsthass oder Panik-
aaattacken? Wie aus der Falle rausfinden?ttacken? Wie aus der Falle rausfinden?
Ich ließ mich krankschreiben, ging nicht
mehr zur Uni, lebte mich ein wie unter
Deckadresse, getaktet durch den alten 14-
Tage-Rhythmus: die Angst, dass „Robert“
erneut kommen würde, der Tag, an dem
wir uns getroffen hätten, im „Waldfrie-
den“ oder sonst wo. Die Berichte, Sätze,
Hände, Zielpersonen. Die Stunden da-
nach. Ein Leben in einer falschen Identi-
tät, erklärt Jana, ich kannte kein anderes.
Es kam der Juni 1982. Nach „Robert“
sind in der Akte „Tonka“, die Jana mir
zeigt und die eine Historikerin innerhalb

eines Forschungsprojekts recherchiert
hat, fünf weitere Stasi-Mitarbeiter der
Hauptabteilung XX/5 verzeichnet. Einer
von ihnen hieß in Jana Schmidts Leben
von nun an „Herr Hahn“.
Jana sagt: Ich hatte eine Postkarte be-
kommen. Absender: die Universitätspar-
teileitung. Als ich dort erschien, sagte mir
ein kleiner Mann mit Parteiabzeichen, sie
hätten meine Akte übersandt bekommen.
Daher wisse man von meiner zuverlässi-
gen Mitarbeit. Es gebe erneut wichtige
AAAufgaben. Die Studenten an der Uni seienufgaben. Die Studenten an der Uni seien
eine wichtige Zielgruppe. Ich dachte
NEIN, ich will nicht, und sagte JA. Ab dem
Zeitpunkt fuhr ich mit „Herrn Hahn“ in
einem weißen Lada gen Norden, raus aus
Berlin. Auf dem Rücksitz lagen Rewatex-
Pakete, also Pakete mit Waren aus dem
WWWesten. Das Häuschen am Berliner Stadt-esten. Das Häuschen am Berliner Stadt-
rand – oder auch die konspirative Woh-
nung „Karow“ – wurde von einem „alten
Genossen-Ehepaar“ bewohnt. Es gab Kaf-
fffee und selbst gebackenen Kuchen. Hahnee und selbst gebackenen Kuchen. Hahn
und ich gingen später ins Hinterzimmer.
Er wartete und stellte Fragen.

„LASSEN SIE MEINE FRAU IN RUHE“
Mein Mann bemerkte, dass es mir Woche
fffür Woche schlechter ging. Ich habe ihmür Woche schlechter ging. Ich habe ihm
von „Herrn Hahn“ erzählt, und wir erfan-
den eine Legende: dass Michael meine Be-
richtsnotizen gefunden und mich zur Re-
de gestellt hätte. Aus wär’s gewesen mit
der Konspiration. Ich habe „Hahn“ dann
zu mir nach Hause gebeten. Als ihm Mi-
chael die Tür öffnete, wollte der auf dem
AAAbsatz umkehren, aber mein Mann batbsatz umkehren, aber mein Mann bat
ihn herein. Michael sagte mit bestimm-
tem Ton: Ich möchte, dass Sie meine Frau
in Ruhe lassen. Es geht ihr gesundheitlich
nicht gut. Es funktionierte. Ich war drau-
ßen, mit 22 Jahren.
Nur Wochen nach dem Gespräch mit
„Hahn“ stellten wir einen Antrag auf Aus-
reise aus der DDR, erzählt Jana. Die
Staatssicherheit reagierte postwendend
mit einem zweiten Hausbesuch. „Falls
beide Illusionen haben, durch eine Offen-
barung des Kontakts mit dem MfS gegen-
üüüber feindlichen Stellen und Geheim-ber feindlichen Stellen und Geheim-
diensten Vorteile zu erlangen, muss sie
der Mitarbeiter warnen und sogar auf
mögliche empfindliche persönliche Fol-
gen hinweisen“, war die Anweisung. Hier
ist sie, sagt Jana und zeigt ein weiteres Pa-
pier. Ich habe aufgehört zu studieren, ar-
beitete als Kellnerin, später als Verkäufe-
rin. Unsere Ehe wurde schwierig, im
Herbst 1985 wurde sie geschieden. Knapp
ein Jahr später durfte Michael in den Wes-
ten ausreisen. Bei der Abteilung Inneres
erhielt ich die Antwort: Richtig, Ihren Ex-
Mann haben wir gehen lassen. Sie aber
bleiben mit dem Kind hier. Ab da stand
aaauch bei mir ein weißer Lada vor der Tür.uch bei mir ein weißer Lada vor der Tür.
Jana nimmt ein neues Blatt in die Hän-
de. Schau mal hier. 27. Februar 1988 steht
als Datum oben drauf. „Nach drei Jahren
und vier Monaten Wartezeit auf ein Aus-
reiseersuchen sind wir nicht mehr länger
gewillt, Ihr Schweigen hinzunehmen.
Sollten Sie binnen sechs Wochen keine
Terminzusage zu unserem Antrag ma-
chen, werden wir mit permanentem
Druck reagieren. Wir scheuen keine Haft-
strafen. Hochachtungsvoll.“ Dieses
Schreiben wollte ich persönlich beim Ab-
teilungsleiter Inneres im Köpenicker Rat-
haus abgeben. Meinen Sohn brachte ich

Juli 1973, Weltfestspiele der
Jugend und StudentenDelegationen
marschieren in das Stadion der
WWWeltjugend eineltjugend ein

ULLSTEIN BILD - KLAUS MEHNER

FORTSETZUNG AUF SEITE 22

Der gezielte Missbrauch von Min-
derjährigen für die Arbeit des
Ministeriums für Staatssicherheit
(MfS) ist von den Tätern immer
heftig bestritten worden. Doku-
mente belegen jedoch, dass die
Zahl missbrauchter Heranwach-
sender bis 1989 stetig stieg. Zu-
letzt waren zwischen 15.000 und
1 7.000 Kinder und Jugendliche
als IM (inoffizieller Mitarbeiter)
eingesetzt. Die Minderjährigen
wurden mehrheitlich an Schulen
für die Spitzelarbeit geworben.
Suchterkrankungen, psychosoma-
tische Störungen, Verfolgungs-
wahn, Panikattacken und Angst-
störungen waren die Folgen.ig

Kinder als Spitzel
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