s ist eine Horrorvision: Ein
Patient liegt mit unklaren
Brustschmerzen im Ret-
tungswagen, Verdacht auf
Herzinfarkt. Doch die Not-
fallsanitäter können das nächstgelegene
Krankenhaus nicht ansteuern. Die Tü-
ren der Notaufnahme bleiben zu. Was
wie das Drehbuch einer mittelprächti-
gen Arztserie klingt, ist in Deutschland
längst Realität. Immer wieder müssen
sich Krankenhäuser zeitweise aus der
Notfallversorgung ausklinken: ge-
schlossen wegen Überlastung.
VON ANJA ETTEL
Die überfüllten Notaufnahmen sind
nur ein Symptom für die Krise. Ausge-
rechnet die Krankenhäuser, Eckpfeiler
in der medizinischen Grundversorgung,
sind ins Wanken geraten. Es fehlt an
Geld, es fehlt an Lösungen, und vor al-
lem an Personal. Rund 15.000 Stellen
sind im gesamten Sektor unbesetzt,
schätzt die Deutsche Krankenhausge-
sellschaft (DKG). Gleichzeitig wächst
mit dem steigenden Lebensalter der Be-
völkerung der Bedarf an medizinischer
Versorgung. Dem System droht so der
Infarkt. Jeden Tag ein bisschen mehr.
„Wir haben ernst zu nehmende syste-
mische Probleme in unserem Kranken-
hauswesen“, warnt Georg Baum, DKG-
Hauptgeschäftsführer. Er nennt drei
Entwicklungen, die ihm besonders Sor-
gen machen: Ein Drittel der Kranken-
häuser schreibt rote Zahlen. Die Be-
handlung von neun Millionen Notfall-
patienten im Jahr ist nicht kostende-
ckend, sondern es entsteht ein Minus
von einer Milliarde Euro. Und statt der
erforderlichen sechs werden jährlich
nur drei Milliarden Euro an Investitio-
nen für die Kliniken bereitgestellt. Ähn-
lich wie bei einer schweren Krankheit
sind Ursachen und mögliche Therapie-
ansätze allerdings derart komplex, dass
noch jeder Bundesgesundheitsminister
vor dem Problem kapituliert hat. Jens
Spahn wird da am Ende der laufenden
Legislaturperiode vermutlich keine
Ausnahme sein, auch wenn er sich
durchaus bemüht. Zu Jahresbeginn trat
ein Gesetz in Kraft, das die Versorgung
der Kliniken mit Pflegekräften verbes-
sern soll. Und nach der Sommerpause
will das Kabinett über einen Vorschlag
beraten, der die Kräfte bei der Notfall-
versorgung besser bündeln soll. Doch
an dem großen, grundlegenden Problem
ändert all das nicht viel: Es gibt zu we-
nig qualifiziertes medizinisches Perso-
nal. Und damit viel zu viele Stellen, die
unbesetzt bleiben.
Der Mangel macht nicht bei den
Krankenhäusern halt, er zieht sich
durch die gesamte Branche. Auch Ergo-
therapeuten, Logopäden und Landärzte
fehlen, genauso wie Kinderärzte und Al-
tenpfleger. Dabei hat Deutschland nach
wie vor eines der besten Gesundheits-
systeme der Welt. Die Ausbildungsqua-
lität und medizinische Expertise sind
hoch. Es gibt eine flächendeckende
Krankenversicherung, es gibt Qualitäts-
kontrollen, und die Versorgung im
Krankenhaus ist nicht etwa den Reichen
vorbehalten, sondern steht allen offen.
Dass es trotzdem an vielen Stellen
hakt, ist kein rein deutsches Problem.
Die Lieferengpässe bei wichtigen Medi-
kamenten etwatreffen andere Länder
genauso. Weil weltweit immer weniger
Pharmaunternehmen bestimmte Anti-
biotika oder Impfstoffe produzieren,
kann ein Störfall in einem Konzern eine
Wirkstoffknappheit in vielen Ländern
zur Folge haben. Und wenn – wie 2018
im Fall des Skandals um den Blutdruck-
senker Valsartan – ein chinesischer Zu-
lieferer bei der Herstellung schlampt,
trifft das in dieser hoch konzentrierten,
auf Effizienz getrimmten Branche Pa-
tienten auf der ganzen Welt.
BEGRÜSSUNGSPAKET MIT AUTO
Dass allerdings landauf, landab Fach-
kräfte fehlen, ist ein Mangel, den sich
Deutschland in erster Linie selbst zuzu-
schreiben hat. Mittlerweile sind einige
Krankenhäuser dazu übergegangen,
Pflegern und Ärzten eine Art Kopfgeld-
prämie zu zahlen. Bis zu 15.000 Euro
machen manche Kliniken schon dafür
locker, dass eine gut ausgebildete Pfle-
gekraft zu ihnen kommt. Auch nicht
monetäre Prämien wie iPads oder sogar
Kleinwagen sind mancherorts schon
Teil des Begrüßungspakets. Und ein Be-
leg dafür, wie verzweifelt die Klinik-
chefs nach Mitarbeitern suchen.
Zumal selbst der Gang ins Ausland
kaum weiterhilft. Bereits vor einem
Jahr klagte Kai Hankeln, Chef des zweit-
größten privaten Krankenhauskonzerns
Asklepios, über die bürokratischen Hür-
den beim Versuch, 500 ausgebildete
Pflegekräfte von den Philippinen zu ho-
len. „Von diesen Fachkräften ist bis heu-
te erst ein Bruchteil hier angekommen,
weil die Wartefristen für Visa bei sechs
Monaten liegen. In dieser Wartezeit
verlieren die Philippinos ihre mühevoll
erworbenen Sprachkenntnisse oder
springen uns ganz ab. Und wir können
die dringend zu besetzenden Stellen, et-
wa in der Intensivpflege, nicht besetzen
- und auch nicht vernünftig planen“, är-
gert sich Hankeln heute. „Unser Ge-
sundheitssystem und mit ihm der Kran-
kenhaussektor ist längst selbst zum Pa-
tienten geworden, dem mit homöopa-
thischen Therapiedosierungen nicht
mehr geholfen werden kann.“
Experten werben schon lange dafür,
die Zahl der Kliniken in Deutschland
zu reduzieren, um Kosten- und Perso-
nalprobleme zu lösen. Vor Kurzem
sorgte die Bertelsmann-Stiftung mit
der Forderung für Furore, die Zahl
bundesweit von 1400 auf 600 zu ver-
ringern. Andere Studien werben für
die Zielgröße von 1000 Krankenhäu-
sern und dafür, die Arbeit besser zu
verteilen. Eine stärkere Spezialisie-
rung dürfte die medizinische Qualität
unterm Strich sogar verbessern.
Herzinfarkt? Pech!
Wegen zu wenig Personal müssen sich viele Kliniken aus der Notfallversorgung ausklinken
UUUnfall-Krankenhaus Berlin-Marzahnnfall-Krankenhaus Berlin-MarzahnEinige Kliniken zahlen schon Kopfgeld für qualifiziertes Personal. Andere verschenken Autos oder iPads
PA/ DPA
/ PAUL ZINKEN
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34 WIRTSCHAFT & FINANZEN WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019