Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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38 KULTUR WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019


Was bleibt? Was bleibt von einem
kleinen Land, das abgewickelt wur-
de, aber nicht verschwunden ist, wo
alles, was es auch woanders gibt,
mit einer Vorsilbe versehen wird,
damit niemand vergisst, woher es kommt? Aus Deut-
schen wurden Ostdeutsche, aus Dichtern wurden Ost-
dichter, aus Sängern wurden Ostsänger. Das sind sie,
30 Jahre nach dem Mauerfall, noch heute. Regionale
Helden. Historische Gestalten.
Gerhard Gundermann hatte vor einem Jahr dann
doch das Glück, als Ostlegende auch vom Rest der
Welt entdeckt zu werden – 20 Jahre,
nachdem er an einem Schlaganfall
verstorben war. Der Liedermacher
aus der Lausitz wurde im Film „Gun-
dermann“ von Alexander Scheer ge-
spielt. Der Schauspieler sang schö-
ner als der Sänger selbst zu Lebzei-
ten, vor allem „Gras“ von 1992: „Im-
mer wieder wächst das Gras/ Wild
und hoch und grün/ Bis die Sensen
ohne Hass ihre Kreise zieh’n“.

VON MICHAEL PILZ

In all den Jahren ist viel Gras ge-
wachsen, über vieles. Es sei schwer
gewesen, Fördergelder einzutreiben,
freute sich der Regisseur Andreas
Dresen noch, als er den Deutschen
Filmpreis in den Händen hielt. Die
Kinos waren und sind voll. Dresen
und Scheer reisen mit einer Band
durch Ost und West und spielen
Gundermann: „Hier sind wir alle
Brüder und Schwestern/ Hier ist es
heute nicht besser als gestern“.
Der Beruf des „Liedermachers“
war Wolf Biermanns Antwort auf
den Brecht’schen „Stückeschrei-
ber“ und den proletarischen „Kul-
turarbeiter“. Liedermacher in der
DDR waren weit mehr als Musiker,
sie waren Medien. Der hohe Ton
von Hannes Wader oder Reinhard
Mey lag ihnen fern. Eines der
schönsten Lieder sang zwar der Thomaner Christi-
an Kunert für die Rockband Renft, aber der Text von
Gerulf Pannach machte „Sonne wie ein Clown“ zu
einem lebensecht klingenden Werkstück: „Arbeits-
zeit, schreit die Sirene/ Ich komme wieder mal etwas
zu spät/ An die alte Drehmaschine/ Wo mit seiner
Taschenuhr mein Meister steht“. Der singende Ar-
beiter sehnt sich nach einer Sonne, die ihn wie Bob
Dylans Stimme wärmt.
Wer über Gerhard Gundermann spricht, muss auch
über Gerulf Pannach reden. Gundermann wurde als
Offiziersschüler der NVA entlassen, weil er den Ver-
teidigungsminister nicht besingen wollte, er ließ sich
zum Baggerfahrer in der Braunkohle umschulen und
stimmte mit seiner Brigade Feuerstein Hymnen auf
Hoyerswerda an. Die Stasi warb ihn als „IM Grigori“
an und ließ ihn später selbst bespitzeln. Die Partei
schloss ihn als ewigen Querulanten aus. „IM Grigori“
wurde in den 90ern enttarnt, sein Tagebau wurde ge-
schlossen. Mit 43 Jahren starb er 1998.
1998 starb auch Gerulf Pannach, 49 Jahre alt, an Nie-
renkrebs. Bevor er 1977 aus der DDR geworfen wurde,
war er Kulturreferent in Leipzig, Liederlieferant für
Renft und selbst als fahrender Sänger unterwegs. Wie
Renft durfte er manchmal auftreten und meistens
nicht. Im Winter 1975 sang er in Bad Kösen, Jürgen
Fuchs, der Schriftsteller, mit dem sich Pannach bei ei-
ner Poetentagung angefreundet hatte, las. Der zweite
Abend in Bad Kösen wurde abgesagt und alle weiteren

Auftritte verboten. Pannach schrieb an Erich Hone-
cker und legte Aufnahmen für ein geplantes Album
bei: „Mir geht es ja darum, ehrliche Lieder über unsere
DDR-Wirklichkeit und das Leben in ihr zu schreiben
und zu singen.“ 1976 unterschrieb er den Protest ge-
gen Wolf Biermanns Ausweisung, nahm Stücke auf mit
Jürgen Fuchs und Musikern von Renft und wurde auf
dem Alexanderplatz verhaftet. Nach neun Monaten
Verhören und Schikanen wurden
Gerulf Pannach, Christian Kunert,
Jürgen Fuchs und andere in den
Westen abgeschoben. Auch Fuchs
starb 1999 an Krebs – es konnte nie
bewiesen werden, dass die Stasi sie
verstrahlt hatte, Pannach und ihn.

SPENDEN FÜR DEN ARZT Pan-
nach und Kunert gaben 1977 für den
Westen ihr großes Konzert in der
Akademie der Künste, dann wurden
die Säle kleiner. Zu den alten Songs gesellte sich Satiri-
sches zum Kreuzberger Milieu. Die Mauer tat sich auf,
Renft taten sich wieder zusammen, spielten die verbo-
tene „Rockballade vom kleinen Otto“ über einen Re-
publikflüchtling und „Als ich wie ein Vogel war“ über
die grenzenlose Freiheit. Als ihr Songschreiber im
Sterben lag, ließen sie in Konzerten eine Pappschach-
tel, beklebt mit Sternen, für die Arztkosten herumge-
hen. Die Überlebenden von Renft pflegen das Lebens-

werk von Gerulf Pannach weiterhin am Rand der eige-
nen Existenz und des Kulturbetriebs. Die Seilschaft,
die Band von Gerhard Gundermann, wird auch ohne
ihn gefeiert als gesamtdeutsches Kulturerbe, nicht
erst seit „Gundermann“, dem Film.
Auch Pannach hatte seinen Film, allerdings schon
vor 33 Jahren. „Vaterland“, gedreht vom englischen
Sozialromantiker Ken Loach, erzählt von einem Lie-
dermacher in der DDR, Klaus Drittemann. Die Stasi
treibt ihn in den Westen, wo er sich als Opfer anderer
Mächte wiederfindet. Eine Plattenfirma möchte ihn
als rustikale Oststimme vermarkten, „Große Frei-
heitsstraße“ soll sein Album heißen.
Pannach selbst spielt diesen Klaus
Drittemann, er singt „The Day They
Took the Wall Away“ und „Blues in
Rot“. Am Ende sucht er seinen Vater,
einen sterbenden Sänger, Spanien-
kämpfer und Spion im englischen
Exil. Eine verworrene linke Ödipus-
geschichte über den verlorenen Sohn
der kommunistischen Idee, die 1986
schon kein größeres Publikum an-
sprach. Aber sie zeigt, warum Andre-
as Dresen heute „Pannach“ drehen
könnte, eine einfühlsame Filmbio-
grafie wie „Gundermann“, ohne dass
Pannach eine auch nur ansatzweise
ähnlich heldenhafte Wiederauferste-
hung feiern würde.

GRAS WÄCHST Gerhard Gunder-
manns Figur ist 30 Jahre nach der so-
genannten Wende anschlussfähiger
als die Figur von Gerulf Pannach.
Gundermann singt traurige Berg-
mannslieder zum ostdeutschen
Braunkohleausstieg, er schämt sich
seiner spießerhaften Spitzeleien als
„IM Grigori“ für die Stasi und sagt
Sätze wie: „Der real existierende So-
zialismus hat seine Anhänger genau-
so verschlungen wie seine Gegner.“
Oder: „Ich gehöre zu den Verlierern.
Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt,
aber es hat nicht gewonnen.“ Und er
singt vom Gras, das über alles wächst.
Das zweidimensionale Täter-Opfer-Schema lag so
lange über der DDR nach 1989, dass sich Gut und Böse
in sämtlichen Dimensionen wie von selbst relativie-
ren. Ständig geht es heute um Moral, auch um politi-
sche, da ist ein rigoroser Moralist wie Pannach eine
Zumutung. Es geht auch wieder um den Sozialismus,
um die biedermeierliche Sehnsucht nach einem sanf-
ten Sozialismus. Gundermann zitiert in „Gunder-
mann“ zwar Marx, aber er bleibt der
Baggerfahrer, der dem Sozialismus
nachtrauert, den es nur in seinen
Liedern gibt: „Ich mache meinen
Frieden.“
Pannach singt „Zwischen Liebe
und Zorn“: „Revolution ist das Mor-
gen schon im Heute/ Ist kein Bett
und kein Thron/ Für den Arsch zu-
fried’ner Leute/ Denn sie leben in
dem Sinn/ Dass der Mensch dem
Menschen wert ist/ Dass der Geist
der Kommune/ Dem Genossen Schild und Schwert
ist“. Gerulf Pannach sagt in „Vaterland“, er habe nie
gelernt, wie sich der Mensch als Ware zu benehmen
hat. So viel vergeblicher Marxismus ist im Zeitalter ei-
ner verträumten neosozialistischen Moral kaum zu er-
tragen. Eines seiner letzten Lieder hieß „Was bleibt“,
es wurde von den Puhdys aufgenommen: „Mauern
werden aufgebaut/ Mauern stürzen ein/ Sie können
manchen auch erschlagen“.

NNNach der Wende ach der Wende Gerhard Gundermann, Musiker und Baggerfahrer, sang weiter. Hier
mit Musikern der Band Silly im Februar 1992

©UTE MAHLER/ OSTKREUZ

Sozialismus in sanft


Die DDR war das Land


der Liedermacher.


Warum Gerhard


Gundermann berühmt


wurde und Gerulf


Pannach nicht


W


Jahre


FREIHEITFREIHEITFREIHEIT

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