Focus - 06.09.2019

(singke) #1
POLITIK

34 FOCUS 37/2019

M


inutenlang hat Olaf
Scholz, 61, nichts mehr
gesagt. Der Bundes-
minister der Finan-
zen sitzt einfach nur
da, auf einem weißen
Barhocker, leicht den
Rücken gekrümmt,
und hört zu. Als es um die Vermögen-
steuer geht, die Milliarden einbringen
soll, greift ein Parteifreund Scholz an. „Der
Olaf müsste sich einfach nur bücken und
die 100-Euro-Scheine aufheben“, sagt
Dierk Hirschel, Ver.di-Gewerkschafter und
Außenseiter im Rennen um den SPD-Vor-
sitz. Scholz überlegt einen Moment, dann
bewegt er seinen Arm nach unten und
tut so, als würde er tatsächlich Scheine
aufheben. Der Finanzminister als Clown,
die Menge lacht.
Vergangenen Mittwochabend sind
rund 600 SPD-Mitglieder zur ersten der
23 Regionalkonferenzen ihrer Partei in
die Saarbrücker Congresshalle gekom-
men. Sie wollen hören, was die 17 Kan-
didaten für die zwei SPD-Chefposten zu
sagen haben, Prominente wie Scholz sind
dabei und No-Names. Zwei Bewerber
ziehen sich gleich wieder zurück. Wie
hießen die noch gleich?
Es ist das bisher größte Polit-Casting,
bei dem es um nicht weniger als das Über-
leben der ältesten deutschen Partei geht


  • und die Zukunft der deutschen Politik.
    Die rund 430 000 Mitglieder sollen im
    Oktober formal bestimmen, wer die SPD
    aus ihrer existenzbedrohenden Krise füh-
    ren soll. In Wirklichkeit geht es aber auch
    um den Fortbestand der großen Koali-
    tion in Berlin. Fast alle Kandidatenteams
    stellen das Bündnis mittlerweile infrage.
    Einzig Vizekanzler Olaf Scholz, der mit
    der brandenburgischen Genossin Klara
    Geywitz antritt, steht fest zur Koalition.
    Doch egal, wie die Mitglieder entschei-
    den, rein oder raus, es kann eigentlich
    nur schlimmer werden. Bleibt die SPD
    in der großen Koalition, dürfte sie dahin-
    siechen wie ein Komapatient. Noch vor
    zwei Jahren stand die SPD bei mehr als
    20 Prozent, nun sind es gerade noch 14.
    Die versprochene Erneuerung aus der
    Regierung heraus gelingt nicht. Doch
    auch ein Ausstieg aus der GroKo wäre
    zunächst mit einem weiteren Absturz ver-
    bunden, fürchten viele in der Partei – viel-
    leicht sogar auf unter zehn Prozent. Partei
    vor Land, das käme bei vielen Bürgern
    wohl schlecht an. Wer also verspricht die
    kleinere Horror-Show für die SPD?


Normalerweise ist Olaf Scholz ein
Mann, der langsam, lange und leise redet.
Er betont beinahe jedes Wort gleich, keine
Höhen, keine Tiefen. Scholz wirkt immer
etwas emotionsarm, „Scholzomat“, spot-
ten seine Kritiker. Der scheinbar Gefühl-
lose will mit seiner spröden Art ein Gefühl
erzeugen, ein Gefühl von Sicherheit. Die
Menschen sollen wissen, dass sie sich auf
ihn verlassen können. Sachlichkeit statt
Glamour. Die Methode Scholz ähnelt in
vielerlei Hinsicht der Methode Merkel.

„Ein echter, truly Sozialdemokrat“
Nur wollen die SPD-Mitglieder den
Nächsten ihrer Art? Scholz glaubt selbst
wohl nicht daran. In Saarbrücken variiert
er seine Stimme, wird mal lauter, mal
leiser. Er spricht davon, warum er „ein
echter, truly Sozialdemokrat“ ist und dass
er soziale Ungerechtigkeiten „nicht ertra-
gen kann“. Fast ein Gefühlsausbruch.
Das klingt gut, doch vielen in der Partei
ist er einfach nicht links genug. Während
seine Mitbewerber milliardenschwere
Investitionsprogramme fordern, hält er
an der schwarzen Null fest. Dabei tickt
der Finanzminister durchaus links. Seit
Jahren fordert er einen Mindestlohn von
zwölf Euro. Als Erster Bürgermeister in
Hamburg hatte er zudem früh Wohnungs-
mangel als die soziale Frage schlechthin
erkannt – und ließ eifrig bauen.
Im Kern geht es also um die Frage: Wie
definiert man 2019 Gerechtigkeit? Wolf-
gang Merkel ist Politikwissenschaftler und
gehört der SPD-Grundwertekommission
an. Er meint, die Partei habe verlernt, Tra-
ditionalisten an sich zu binden: die Arbei-
ter und sozial Schwächeren. „Dafür muss
die SPD die Verteilungsfrage stellen“, sagt
Merkel. „Höhere Steuern für Reiche und
eine Vermögensteuer sind Pflicht.“
Wenn die SPD die Verteilungsfrage
stellt, kann sie wieder beantworten, wofür
die Partei überhaupt noch gebraucht
wird, hoffen die Bewerber in Saarbrü-
cken. Scholz allerdings müsste noch viel
weiter nach links rücken als bislang.
Die Funktionäre sehen ihn schon län-
ger skeptisch, auf dem letzten Parteitag
wurde er nur mit knapp 60 Prozent zum
Vize gewählt. Es kommt nun auch auf
seine Mitbewerberin Klara Geywitz an, ob
die Neuerfindung des Olaf Scholz gelingt.
Die 43-jährige Brandenburgerin soll hel-
fen, die Partei mit Scholz versöhnen. Eine
schwierige Aufgabe, zumal Scholz der
Spagat zwischen Partei und Regierung
gelingen muss. In Saarbrücken sagt

Dezember 2017
Juso-Chef Kevin Kühnert
hält auf dem Parteitag in
Berlin eine flammende
Rede gegen die GroKo:
„Wir haben ein Interesse
daran, dass hier noch
was übrig bleibt von
diesem Laden, verdammt
noch mal!“

Juni 2019
Nach nur gut einem Jahr
im Amt geht auch die erste
Frau an der SPD-Spitze.
Widersacher in Partei
und Fraktion attackierten
Andrea Nahles nach dem
Debakel bei der Europa-
wahl. Sie gibt auf

November 2017
Die Jamaika-Son-
dierungen scheitern.
Schulz, der eine Koali-
tion mit der Union nach
der Wahl ausgeschlos-
sen hat, ist nun doch
bereit für die GroKo

Februar 2018
Martin Schulz tritt als
SPD-Chef zurück. Par-
teifreunde haben seine
Kehrtwende kritisiert,
nun doch Minister in
der GroKo werden zu
wollen. Andrea Nahles
übernimmt

September 1998 Mit Spitzenkandidat
Gerhard Schröder holt die SPD bei der
Bundestagswahl 40,9 Prozent. Schröder
wird Bundeskanzler der ersten rot-grünen
Koalition, im Jahr darauf auch SPD-Chef
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