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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Deutschland und die Welt SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019
STRALSUND, 6. September. Als das
Urteil verkündet ist, werden die beiden
Mörder in Handschellen aus dem Ge-
richtssaal geführt. Aus den vollbesetzten
Reihen der Zuschauer schallen Be-
schimpfungen und Flüche: „Drecksau“,
„Abschaum“, „Du wirst noch richtig zur
Muschi gemacht in Stralsund“. Einer der
beiden Verurteilten reißt einem Jour-
nalisten das Mikrofon aus der Hand, der
andere streckt den Zuschauern den
Mittelfinger entgegen.
Auf ihrem Platz als Nebenklägerin
sitzt die Mutter des Opfers und versucht,
in Worte zu fassen, was gerade passiert
ist, wie sie das Urteil gegen die Mörder
ihrer Tochter und ihres ungeborenen En-
kelkinds bewertet. „Es gibt keine gerech-
te Strafe“, sagt sie. „Aber dass die für im-
mer wegkommen, das haben sie ver-
dient.“ Ihre Worte versinken in Tränen.
Am Freitag geht im Landgericht von
Stralsund ein Mordprozess zu Ende, der
immer wieder heftige Gefühle auf-
gewühlt hat. So brutal war das Ver-
brechen, so schwer zu fassen, wie und
warum es dazu gekommen ist.
Der 19 Jahre alte K. und der 21 Jahre
alte G. wollten einen Menschen sterben
sehen, sie hatten Lust zu töten. Als
Opfer wählten sie ihre schwangere
Freundin Maria, 18 Jahre alt. Am Freitag
wird K. zu einer zwölfjährigen Jugend-
haftstrafe verurteilt, und die Unterbrin-
gung im Maßregelvollzug einer Psychia-
trie wird angeordnet. G. wird zu einer
lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Zudem wird die besondere Schwere der
Schuld festgestellt.
Der Tag im Gerichtssaal hatte mit an-
gespannter Stille begonnen. Als die Rich-
terin das Urteil verkündet, steht G. da in
seinem Sakko, den Blick gesenkt. K. hat
seine schwarze Jacke geöffnet, ein tief
ausgeschnittenes Shirt darunter gibt den
Blick frei auf seine zahlreichen Tätowie-
rungen, die sich bis zum Hals hoch-
ziehen. Die Richterin sagt bei der Urteils-
begründung, die beiden hätten als beste
Freunde gegolten, und das habe auch ge-
passt: der „nach innen gekehrte“ G. und
der „grundaggressive“ K. Auf der linken
Wange hat K. sich nach der Tat ein
Kreuz tätowieren lassen. Als Erinne-
rung an Maria.
Es war im März vergangenen Jahres,
als G. und K., wieder einmal in Zinno-
witz auf Usedom, am äußersten nordöst-
lichen Zipfel des Landes, zusammen die
Zeit verbrachten. Beide waren, so formu-
liert es die Richterin, in ihrer sozialen
und beruflichen Entwicklung mehr oder
weniger erfolglos geblieben. Sie mögen
Träume gehabt haben, sagt sie, aber sie
hätten nichts dafür getan. Sie hätten bei-
de viel Zeit gehabt und schon länger die
Phantasie geteilt, einen Menschen zu
töten. Sie hätten darüber immer wieder
gesprochen, nun sollte es passieren. Ei-
gentlich hätten sie einen anderen
Freund im Blick gehabt, sagt die Richte-
rin. Der wohnte aber nicht im selben
Ort, und der Aufwand, zu ihm zu gelan-
gen, sei ihnen zu hoch gewesen. So
kamen sie auf Maria. Obwohl es, wie die
Richterin mehrmals hervorhob, weder ei-
nen Streit gegeben habe noch einen An-
lass, und sei es der geringste. Sie wohnte
nur im Ort. Und sie lebte allein.
Die beiden nahmen ein Messer mit so-
wie Wechselkleidung, und sie machten
ein Codewort aus, mit dem die Tat begin-
nen sollte: „Bier“. K. sagte seiner Le-
bensgefährtin noch, dass er jetzt los-
gehe, um Maria zu töten. Sie sagte später
aus, sie habe geglaubt, dass er wieder ein-
mal spinne. G. und K. baten Maria, zu
ihrer Wohnung zu kommen, sie begrüß-
ten sich gegen 22.30 Uhr mit kurzen
Umarmungen und hingen dann auf dem
Sofa herum. Bis sie Maria baten, Gläser
zu holen, damit man noch „Bier“ trinken
könne. K. sprang sie von hinten an und
stach ihr in den Hals. Sie wehrte sich,
mehr als 30 Mal stach K. auf sie ein, G.
soll ihre Beine festgehalten haben. Spä-
ter warfen die beiden Marias Handy und
die Tatwaffe in die Ostsee.
Sie wussten, dass sie schwanger war.
Das habe bei ihren Überlegungen aber
keine Rolle gespielt, führt die Richterin
aus. In das Urteil ist der „Schwanger-
schaftsabbruch“ eingeflossen.
Die Tat hatte die Gemeinde auf Use-
dom erschüttert. Wochenlang suchten
die Ermittler nach den Tätern. Im Pro-
zess legte K. gleich zu Beginn ein Ge-
ständnis ab – so rückhaltlos, wie es die
Kammer selten erlebt habe, sagt die Rich-
terin am Freitag. Ein Gutachter hatte
ihm einen völligen Mangel an Empathie
attestiert. Als die Richterin ihn zu Be-
ginn des Prozesses fragte, wie er sich bei
der Tat gefühlt habe, antwortete er, dass
er dabei keine Gefühle gehabt habe.
Am Freitag berichtet die Richterin von
den Störungen in seiner sozialen Ent-
wicklung. Schon früh zeigten sich Proble-
me bei ihm, in der Schule lief es nicht,
und auch im betreuten Wohnen konnten
keine Fortschritte erzielt werden. Als
Jugendlicher war er schon stationär in ei-
ner Jugendpsychiatrie behandelt wor-
den. Er gilt als gefährlich, es gebe eine
sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass er
weitere Straftaten begehen würde, sagt
die Richterin. Sie spricht von einer kom-
binierten Persönlichkeitsstörung. Dem
Gutachter habe er gesagt, dass er weiter-
hin Mordphantasien habe. Das sei außer-
gewöhnlich. Sein Verteidiger äußerte
nach der Urteilsverkündung, das entspre-
che „im Grunde der Verteidigungslinie“.
Ob G. Revision gegen das Urteil ein-
legen wird, ist unklar. Er hatte bestritten,
Maria die Beine festgehalten zu haben. Er
hatte die Mutter im Prozess um Verge-
bung gebeten, weil er ihrer Tochter nicht
geholfen habe. Sie hatte geantwortet, sie
werde die beiden immer hassen. Die Rich-
terin sagt am Freitag, es könne kein Zwei-
fel bestehen, dass beide sich des Mordes
schuldig gemacht hätten. Dabei sei es un-
erheblich, dass G. nicht selbst zugesto-
chen habe. Spätestens als sie die Woh-
nung betreten hätten, sei beiden klar gewe-
sen, dass es kein Zurück mehr gab. Sie hät-
ten vorher darüber gesprochen, sie hätten
nachher gemeinsam die Spuren beseitigt.
Nach knapp einer Stunde ist die Rich-
terin fertig mit ihrer Urteilsbegründung.
Die Polizisten stellen sich im Saal auf,
den Mördern werden Handschellen an-
gelegt. Dann werden sie hinausgeführt.
niz./sku. FRANKFURT, 6. September.
Walter Waligora hätte Grund genug, am
Sonntag aufgeregt zu sein. Er war seit sei-
ner Jugend nur selten am Ort seiner Ge-
burt. An diesem Tag feiert er seinen 76.
Geburtstag und wird von Bundestagsprä-
sident Wolfgang Schäuble (CDU) empfan-
gen. Waligora ist einer von etwa 60 bis 80
Menschen, die zwischen 1943 und 1945
im Reichstag in Berlin geboren wurden.
Denn in dem durch den Brand von 1933
beschädigten Gebäude gab es im Keller ei-
nen „Luftschutzraum für Kinder und
Wöchnerinnen“.
Besonders viel macht sich Waligora
aber nicht daraus, an einem ungewöhn-
lichen Ort zur Welt gekommen zu sein.
„Ganz normal“ will er seinen Geburtstag
feiern. Nach dem Empfang im Bundestag
und der Führung mit 13 weiteren „Reichs-
tagskindern“ geht es zurück nach Span-
dau, wo Waligora mit seiner Frau lebt.
In der Geburtsurkunde des Straßen-
bauers steht „im Reichstag geboren“. Dar-
an sei er aber nur bei Bewerbungen er-
innert worden. Lange habe er auch keine
Lust gehabt, mit seiner Mutter darüber
zu sprechen. Die Familie habe damals in
der Nähe des Tiergartens gelebt, die Mut-
ter sei täglich drei Kilometer zu Fuß zum
Reichstagsgebäude gegangen, wo sie
nachts dann auf eine mögliche Entbin-
dung gewartet habe.
Mareile Van der Wyst erzählt dagegen
sehr gern. Sie kam am 15. September
1944 im Luftschutzkeller des Reichstags
zur Welt. Hitler habe persönlich angeord-
net, dass dort entbunden werden solle,
sagt sie. Er habe wohl gewährleisten wol-
len, dass möglichst viele Jungen, also po-
tentielle Soldaten geboren werden konn-
ten. Der „Schwangerenbunker“ ist laut
Van der Wyst „sein einziges gutes Werk
im ganzen Leben gewesen“. Das Schick-
sal wollte es, dassVan der Wyst später ei-
nen amerikanischen Soldaten heiratete.
Sie lernte ihn in einem mexikanischen
Restaurant in der Nähe des Militärstütz-
punkts Tempelhof kennen.
Die Initiative, im Reichstag Geborene
zu empfangen, ging vom Rostocker Bun-
destagsabgeordneten Peter Stein (CDU)
aus. „Wenn ich spannende Gebäude sehe,
interessiert mich die Geschichte“, sagt
der Architekt. Der Reichstag sei in vieler-
lei Hinsicht das „Geburtshaus der Repu-
blik“ gewesen. Dass dort Leben entstan-
den sei, nachdem der Brand als Vorwand
für die Judenvernichtung herhalten muss-
te, habe ihn „überwältigt“.
ceh. LOS ANGELES, 6. September.Auf
dem Flughafen in Manila ist eine Amerika-
nerin verhaftet worden, die versucht hatte,
mit einem philippinischen Neugeborenen
im Handgepäck in die Vereinigten Staaten
zu reisen. Das Bodenpersonal wurde erst
kurz vor dem Einstieg in das Flugzeug der
amerikanischen Fluggesellschaft Delta auf
die Dreiundvierzigjährige aufmerksam.
Die Sicherheitskontrolle hatte die Frau,
die aus dem Bundesstaat Utah stammt, zu-
vor passiert, ohne dass der sechs Tage alte
Junge in ihrer Umhängetasche aufgefallen
war. Da die Amerikanerin keinen Pass
oder Ausreisepapiere für das Kind vor-
legen konnte, wurde sie verhaftet. „Die
Festgenommene hatte eindeutig die Ab-
sicht, das Kind zu verstecken“, teilte ein
Sprecher des National Bureau of Investi-
gation (NBI) am Donnerstag mit.
Nach einer Anklage wegen Menschen-
handels und Kindesentführung droht der
Amerikanerin nun eine lebenslange Haft-
strafe. Das Neugeborene wurde in einem
Kinderheim in Manila untergebracht. Wie
die Eltern den Behörden sagten, wollten
sie den Jungen adoptieren lassen und hat-
ten ihn im Internet angeboten. Ob die
Amerikanerin Geld für das Kind bezahlte,
blieb vorerst offen. Auf die Frage der NBI-
Beamten nach dem Grund für den Entfüh-
rungsversuch gab die Frau an, sie habe ver-
sucht, dem Jungen „zu einem Namen und
einem kirchlichen Segen“ zu verhelfen.
Donald Trumpund Debra Messing wer-
den wohl keine Freunde mehr. Der ameri-
kanische Präsident beschimpfte die Schau-
spielerin als Rassistin, weil sie in sozialen
Medien das Statement einer Kirchenge-
meinde unterstützte, das schwarze Trump-
Wähler mit Geisteskrankheit in Verbin-
dung brachte. Auch Messings Vorschlag,
die Namen seiner kalifornischen Spender
zu veröffentlichen, verurteilte Trump. „De-
bra The Mess Messing steckt in der Klem-
me. Sie will Trump-Anhänger auf eine
schwarze Liste setzen und wird beschul-
digt, die McCarthy-Ära wieder aufleben zu
lassen“, twitterte er am Donnerstag. Die
Entschuldigung der Schauspielerin, erst
nach dem „Like“ für ein Foto der Anzeigen-
tafel der Kirche den rassistischen Hinter-
grund begriffen zu haben, ignorierte
Trump.(ceh.)
Sarah Wienerwirft der EU vor, durch ihre
Handelspolitikdie Zerstörung des Regen-
walds in Südamerika weiter voranzutrei-
ben. „Fleisch wird meistens dort produ-
ziert, wo es am billigsten ist, und das heißt
immer auch: auf Kosten der Menschen,
der Tiere, der Umwelt und des Klimas. Lei-
der unterstützt die Politik immer wieder
diese Billig-Produktion, deswegen haben
wir ja dieses grauenhafte System“, sagt
die deutsch-österreichische Köchin, Auto-
rin und Politikerin in einem Interview mit
FAZ.NET. Sie fordert eine Abkehr von der
„agroindustriellen Ernährungsindustrie“.
Lebensmittel müssten in „ökologisch ge-
schlossenen Kreisläufen“ produziert wer-
den. „Die Tiere sollten auf dem Boden
grasen, in den sie auch ihre Nährstoffe wie-
der einbringen.“ Kühe etwa seien nicht da-
für bestimmt, „mit minderwertigem und
genmanipuliertem Sojaschrot oder Mais
gefüttert zu werden. Die Kuh ist kein Nah-
rungsmittelkonkurrent des Menschen, sie
wird erst in der Agroindustrie dazu ge-
macht, indem man sie wesensfremd füt-
tert und damit auch noch die Klimakrise
verschärft.“ (F.A.Z.)
Das ganze Interview unterwww.faz.net/wiener
Aus Lust am Töten
Lange Haftstrafen für den brutalen Mord auf Usedom / Von Matthias Wyssuwa
palo. FRANKFURT, 6. September. Die
Jugendämter haben im vergangenen Jahr
so viele Kindeswohlgefährdungen wie nie
zuvor gemeldet. Mit 50 400 gefährdeten
Kindern und Jugendlichen stieg die Zahl
im Vergleich zum Vorjahr um zehn Pro-
zent. Wie das Statistische Bundesamt am
Freitag weiter mitteilte, ist das nicht nur
der stärkste Anstieg, sondern auch der
höchste Stand an gemeldeten Gefähr-
dungen, seit die Statistik mit dem Kinder-
schutzgesetz im Jahr 2012 eingeführt wor-
den war. „Wir können aus den Daten kei-
ne Ursachen für den Anstieg ablesen“,
sagt Manuela Nöthen vom Statistischen
Bundesamt. Einerseits sei es denkbar,
dass die Zahl der Gefährdungen tatsäch-
lich zugenommen habe. Andererseits
seien Jugendämter und Familiengerichte
möglicherweise stärker sensibilisiert.
„Nach Fällen wie dem jahrelangen Miss-
brauch eines Jungen in Staufen sind die
Behörden in die Kritik geraten“, sagt Nö-
then. Es könnte deshalb sein, dass Gerich-
te und Ämter nun genauer hinschauten.
Auffällig ist laut Nöthen allerdings,
dass 2018 vor allem die akuten Fälle von
Kindeswohlgefährdung zunahmen, um
15 Prozent. In den rund 24 900 akuten Fäl-
len sei das körperliche, geistige oder seeli-
sche Kindeswohl eindeutig gefährdet ge-
wesen. In den anderen rund 25 500 Fällen
konnte eine Gefährdung nicht ausge-
schlossen werden. Laut Bundesamt wie-
sen die Betroffenen in 60 Prozent aller Fäl-
le Anzeichen von Vernachlässigung auf.
Ferner gab es Hinweise auf psychische
Misshandlung (31 Prozent), körperliche
Misshandlung (26 Prozent) und auf sexua-
lisierte Gewalt (fünf Prozent). In 15 Pro-
zent aller Fälle nahmen die Jugendämter
die Betroffenen vorläufig in Obhut.
CHARLESTON, 6. September. Die Aus-
läufer des Hurrikans Dorian haben das
Zentrum Charlestons am Donnerstagmit-
tag fest im Griff. Von Osten kommt die
Sturmflut. Der Wind, der in South Caroli-
na mit der Stärke eines tropischen Sturms
bläst, hat Hunderte Bäume umgeknickt,
die nun vielfach die Ausfallstraßen der
Stadt blockieren oder Stromleitungen
durchtrennt haben. Und von oben pras-
selt der Regen nieder. Die Straßen um
den City Market in der Innenstadt sind
Flüsse, in denen man knietief steht.
Die meisten Anwohner haben die Stadt-
teile, die am Wasser liegen, verlassen. Die
Cafés und Restaurants sind geschlossen
und mit Sandsäcken verbaut. Über die
Fenster sind Bretter genagelt worden.
Flaggen, die vor Gebäuden wehen, wer-
den vom Wind mit einem kräftigen
Schnalzen hin und her gepeitscht.
Die im prächtigen Kolonialstil der Süd-
staaten errichteten Häuser dienen am
Donnerstag nur als Kulisse für die Repor-
ter, die sich hier postiert haben, um
24 Stunden live in Regenjacke und Gum-
mistiefeln über Dorian zu berichten. Au-
ßer Journalisten sind nur Sicherheitskräf-
te und Katastrophenschützer zu sehen.
Wer auf der Straße nichts zu suchen hat,
wird gleich angesprochen: „Was machst
du hier, mein Sohn?“, fragt der Polizist
mit breitem Südstaaten-Akzent. „Geh
von der Straße. Das ist zu gefährlich.“
Das Auge des Hurrikans, inzwischen
auf einen Sturm der Kategorie eins herun-
tergestuft, hat am Freitag bei Cape Hatte-
ras auf der Inselkette Outer Banks den
Bundesstaat North Carolina erreicht. Ob-
wohl Dorian in Charleston, anders als auf
den Bahamas, nicht als Wirbelsturm der
Kategorie fünf wütet, herrscht Ausnah-
mezustand. Am Donnerstag sind vorüber-
gehend 250 000 Haushalte in South Caro-
lina ohne Strom. Die Infrastruktur ist ein
altbekanntes Problem in Amerika: Die
Stromleitung wird von Haus zu Haus ge-
führt, dicht neben dem Baum im Vorgar-
ten – eine Windböe in Orkanstärke, und
die Stromversorgung für ein ganzes
Wohngebiet ist unterbrochen.
Der Weg hinaus aus Charleston, in des-
sen Metropolregion eigentlich 500 000
Menschen leben, gestaltet sich schwierig.
Die Sicherheitskräfte sperren immer
mehr Straßen, teils wegen Hochwasser,
teils wegen umgestürzter Bäume. Inter-
state 26, der Highway, der nach Charles-
ton führt, war schon am Mittwoch ge-
sperrt worden. An jeder Ausfahrt waren
Polizeiwagen postiert. Keiner sollte mehr
in die Stadt gelangen, nur um kurz noch
etwas zu erledigen. Wer dennoch nach
Charleston fuhr, musste sich auf Schleich-
wegen bewegen. Diejenigen, die nun raus-
wollen aus der Stadt, müssen durch ein
Labyrinth. Hinter vielen Kurven liegt wie-
der ein Baum auf der Straße. Noch wäh-
rend das Unwetter anhält, sind Räu-
mungsfahrzeuge unterwegs. Aber auch
Streifenpolizisten haben Motorsägen im
Kofferraum. Alle fassen mit an.
Als Patrick Boland Anfang der Woche
vom Evakuierungsaufruf des Gouver-
neurs gehört hatte, zuckte er zunächst
mit den Schultern. „Kategorie zwei, dach-
te ich, was soll’s?“ Boland, geboren auf
Hawaii, ist durch das Studium nach
Charleston gekommen. Der Siebenund-
vierzigjährige denkt wie viele Bewohner
der Küstenstadt in den vergangenen Ta-
gen: „Dies ist nicht mein erstes Rodeo.“
Dass er am Ende doch seine Sachen ge-
packt und nach Summerville, 20 Meilen
ins Landesinnere, gefahren ist, lag vor al-
lem an seiner Frau. Beide sitzen nun in ei-
nem Imbiss, Fernanda guckt gebannt auf
ihr Mobiltelefon und liest Wetternachrich-
ten. Sie komme aus Brasilien, sagt Pa-
trick, da gebe es keine Hurrikane.
Zu den Älteren, die Hurrikan Hugo
noch erlebt haben, der 1989 mit der Kate-
gorie vier durch die Stadt fegte und 3000
Häuser in South Carolina zerstörte, ge-
hört Patrick zwar nicht. Doch die vergan-
genen Jahre haben ihm gereicht: Mat-
thew 2016, Florence 2018 und nun Dori-
an. Die amerikanischen Südstaaten be-
kommen die Folgen des Klimawandels
deutlich zu spüren. Laut der Umweltbe-
hörde EPA steigt der Meeresspiegel an
der Küste um 2,5 bis 3,5 Zentimeter pro
Jahrzehnt, Strände erodieren, Tiefebenen
werden überschwemmt. „Hurrikane und
tropische Stürme haben in den vergange-
nen Jahren an Intensität zugenommen“,
heißt es in einem EPA-Bericht. Charles-
ton sei besonders gefährdet.
Patrick und Fernanda besitzen ein
Haus auf James Island, auf einer der Halb-
inseln der Stadt. Patrick liebt seine Wohn-
gegend: „Das ist das echte Charleston.“
Mount Pleasant, wo viele Touristen hinge-
hen, nennt er nur „Mount Plastic“. James
Island und Mount Pleasant liegen beson-
ders tief. „Wenn man Charleston mag,
muss man mit den Naturgewalten klar-
kommen“, sagt Patrick.
Das Eigenheim der beiden ist ein Stel-
zenhaus, um das sie sich bei Hochwasser
keine Sorgen machen müssen. Alles, was
auf der Stellfläche unter dem Haus stand,
musste allerdings weg: das Wohnmobil,
das Patrick, der eine Produktionsfirma
für Modefotografie besitzt, für die Arbeit
braucht, sein Motorrad, sein Pritschen-
wagen. Am Mittwochmittag fuhren beide
ihr Hab und Gut auf einen großen Park-
platz nach Summerville.Die Gemeinde
gilt derzeit als einer der sichersten Orte in
der Gegend. In den Kettenhotels an den
Highways sind nicht nur Leute aus
Charleston untergekommen, die dem Eva-
kuierungsaufruf gefolgt sind, sondern
auch Mitglieder einer Polizeistaffel.
Als der Gouverneur den Notstand aus-
gerufen hatte, wurden Polizisten aus ande-
ren Teilen des Bundesstaats an die Küste
verlegt. Alles Routine in South Carolina.
Die Staffel rückt aus, wenn die örtliche
Polizei um Unterstützung bittet – sei es,
um Straßen zu sperren oder um Plünde-
rungen in evakuierten Wohngebieten zu
unterbinden. Vor einem Hotel in Summer-
ville stehen zwei Dutzend bewaffnete Po-
lizeibeamte im Hof und grillen Hambur-
ger. Einer aus der Gruppe hat seinen im-
posanten Grill mitgebracht, die Restau-
rants und Schnellimbisse sind dicht. Um
die Polizeibeamten springen während des
Grillens Kinder herum, die den Wirbel-
sturm nicht schlecht finden, da die Schu-
le, die am Dienstag gerade erst begonnen
hat, nun wieder geschlossen bleibt.
Auch die Fernsehsender zählen zu den
Krisenprofiteuren. Die Zuschauerzahlen
der Sendungen steigen, in denen (ver-
meintliche) Wetterfachleute die Bürger ei-
nerseits ermahnen, zu Hause zu bleiben,
andererseits aber bitten, ihre Amateur-
filme an den Sender zu mailen. Auch die
Werbeeinnahmen sprudeln. Zwischen
den Berichten über zerstörte Orte auf
den Bahamas und Straßensperrungen in
Downtown Charleston gibt es Werbe-
blöcke, in denen Klempner, Installateure
und Baumärkte Reklame machen. Auch
Katastrophen haben ihren Markt.
Am Donnerstagnachmittag tritt der
Gouverneur in Columbia, der Hauptstadt
South Carolinas, vor die Presse. Henry
McMaster ist ein besonnener Mann mit ei-
ner sonoren Stimme. Er berichtet, dass es
bislang keinen mit dem Hurrikan verbun-
denen Todesfall gab. 80 Prozent der Be-
wohner der Küstenregion seien der Eva-
kuierungsanweisung gefolgt. Einige von
denen, die in der Stadt blieben, weil sie
nicht wussten, wohin sie sollten, und weil
ihnen womöglich das Geld für ein Hotel
fehlte, sind in die Notunterkünfte der
Stadt gegangen. 2000 Anwohner schlie-
fen auf Pritschenbetten in den
Highschools der Stadt. Zehnmal so viele
hätten Platz gehabt.
Charleston ist mal wieder davongekom-
men. McMaster hebt noch am Donners-
tag den Evakuierungsaufruf für die drei
südlichen Küsten-Landkreise auf. Er
warnt aber, dass die Gefahr noch nicht
vorbei sei. In den nördlichen Kreisen kön-
ne Dorian immer noch auf Land treffen.
Frau mit Neugeborenem
im Handgepäck verhaftet
Kurze Meldungen
„Geburtshaus der Republik“
Empfang für Kinder, die im Reichstag geboren wurden
Mehr Fälle
von gefährdetem
Kindeswohl
Nicht das erste Rodeo der Carolinas
Ausnahmezustand:Bewohner der Isle of Palms im Bundesstaat South Carolina begutachten die Schäden, die Hurrikan Dorian angerichtet hat. Foto AP
Geboren im Reichstag:Mareile Van der Wyst zeigt ihre Geburtsurkunde. Foto dpa
Viele Haushalte ohne
Strom, die Altstadt
überschwemmt, die
Straßen unpassierbar –
doch die Bürger in
Charleston kennen sich
aus mit Hurrikanen.
Von Majid Sattar