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vergleichbar.« Er macht eine kurze Pause. »Wenn Sie mich
fragen, geht es bei allen einsamen Tätigkeiten im Grunde
darum, über sich selbst nachzudenken.«
Sein ältester Freund, der Journalist Bruce Headlam, hat
Malcolm Gladwell einmal so beschrieben: »Er ist mit vie-
len Frauen ausgegangen, er liebt die Kinder von anderen,
aber er hat immer Arbeit vor sich. Wenn Malcolm sich
hinsetzen, fünf Stunden am Stück arbeiten kann und sich
anschließend eine Tasse Tee macht, ist er der glücklichste
Mann auf der ganzen Welt.«
Er nickt. »Mir macht Schreiben Spaß, ja. Ich hatte nie so
etwas wie eine Schreibblockade, wahrscheinlich hat es mit
meinen frühen Jahren als Tageszeitungsreporter zu tun, da
hatte ich für so etwas keine Zeit.«
Auf der Highschool gründen die beiden Schulfreunde Bruce
Headlam und Malcolm Gladwell eine Schülerzeitung, an-
schließend studiert Gladwell Geschichte in Toronto. Er
will in die Werbung, findet aber keinen Job und bekommt
schließlich ein Praktikum bei der konservativen Zeitschrift
The American Spectator. 1987, im Alter von 24 Jahren, wird
er Redakteur bei der Washington Post, dort macht er schnell
Karriere. 1993 wird er Leiter des New Yorker Büros, drei
Jahre später wechselt er zum renommierten Magazin New
Yorker, im selben Jahr erscheint dort sein Artikel The Tip-
ping Point, aus dem sein erstes Buch entsteht. Er erklärte
darin, wie bestimmte Ideen, Phänomene oder Trends ganz
plötzlich Fahrt aufnehmen und populär werden: von vor-
mals uncoolen Schuhmarken bis zum Anstieg von Selbst-
morden unter Teenagern. Seine Erkenntnisse machten ihn
auch als Redner für die Wirtschaft interessant: Für Vorträ-
ge, wie er einmal selbst bestätigte, nimmt er bis zu 60.000
Euro. Dem New Yorker ist er bis heute verbunden, auch
wenn er seit 15 Jahren keinen Vertrag mehr dort hat.
Sein Schulfreund Bruce Headlam ist ebenfalls Journalist
geworden, nächste Woche feiern sie den 50. Jahrestag ihrer
Freundschaft. Wie werden die beiden feiern? »Ich bin ja
kein Partytyp, wir werden uns auf einen Drink verabreden.
Ich feiere auch nicht meinen eigenen Geburtstag.« Warum
nicht? »Ich verbiete auch allen anderen, meinen Geburtstag
zu feiern, immer schon. Im Alter von sechs Jahren hatte ich
eine Geburtstagsparty zu Hause, und anschließend habe
ich meiner Mutter gesagt: Das war’s, nie wieder.« Im Alter
von sechs Jahren? »Ja. Ich mag Partys nicht, ich mache auch
keine Buchpremierenpartys. Für mein erstes Buch hatte ich
eine – nie wieder.«
Wie hat seine Mutter damals reagiert? »Wahrscheinlich
war sie hocherfreut darüber, soweit ich weiß, sind Kinder-
geburtstagspartys für junge Eltern ziemlich anstrengend.«
Er lächelt. »Ich mag allgemein keine großen Gruppen, ich
gehe auch nicht auf Konzerte. Und ganz besonders mag ich
keine Gruppenveranstaltungen, wenn ich im Mittelpunkt
des Interesses stehe. Ich finde es einfach anstrengend, sich
für alles verantwortlich zu fühlen.«
Zu den Themen, die sich seit Jahrzehnten durch Gladwells
Arbeit ziehen, zählen Bildungs- und Erziehungsfragen,
unzählige Male hat er über die Ungerechtigkeiten in den
USA geschrieben, die das Land in Arm und Reich spalten,
weil die Milieus auseinanderdriften und sich nicht mehr
begegnen. Deshalb hält er auch vom System der Elite-
Universitäten nichts. Hat er bei seiner Leidenschaft für
das Thema nie daran gedacht, eigene Kinder zu haben und
zu erziehen? »Ich glaube und hoffe, dass ich eines Tages
Kinder haben werde«, sagt er. »Und wissen Sie, was dann
meine Hoffnung wäre? Dass ich mich von anderen Eltern
aus meinem Milieu unterscheiden würde, die alle ihre
Kinder auf Privatschulen schicken. Das ist eine gefähr-
liche gesellschaftliche Entwicklung. In meinem Urlaub
habe ich gerade die Autobiografie von Budd Schulberg
gelesen, einem berühmten Hollywood-Drehbuchautor, er
hat den Film Die Faust im Nacken mit Marlon Brando ge-
schrieben. Sein Vater war ein sehr einflussreicher, extrem
reicher Studioboss in den Zwanzigerjahren. Und wo ging
Budd zur Schule? Auf die ganze normale Highschool um
die Ecke! Das ist heute vollkommen unvorstellbar.«
Man kann im Gespräch mit Malcolm Gladwell erleben,
wie er denkt, wie seine Geschichten entstehen, aus Anek-
doten, Persönlichem und einem Interesse an großen gesell-
schaftlichen Themen. Ein halbes Dutzend Bestseller hat
er mittlerweile geschrieben, über die Rolle der Intuition
bei Entscheidungsfindungen, über die Frage, warum be-
stimmte Menschen erfolgreicher sind als andere, und
darüber, warum manchmal Underdogs gegen scheinbar
Überlegene gewinnen.
Seine Art, Wissenschaft populär zu erklären, hat auch
manche Wissenschaftler dazu inspiriert, ähnliche Bücher
zu schreiben. Den »Gladwell-Effekt« hat das die New York
Times 2006 genannt. Der Nobelpreisträger Daniel Kah-
neman etwa beschreibt in seinem Buch Schnelles Denken,
langsames Denken, dass wir uns unser Leben im Nach-
hinein als eine logische Folge von Ereignissen erzählen –
auch wenn es in Wahrheit keineswegs so linear verlaufen ist.
Der Guardian hingegen hat 2013 einen anderen Trend be-
schrieben: den »Gladwell-Backlash«. Seit Jahren wird ihm
immer wieder vorgeworfen, es mit dem Vereinfachen zu
übertreiben, seine Anekdoten so auszuwählen, dass sie zu
seinen Theorien passen, und dass er in seinen Büchern ein-
fach nur aufschreibe, was einem der gesunde Menschen-
verstand ohnehin sage. Er sei nun mal im Geschäft des
Vereinfachens, hat Gladwell dazu einmal gesagt, aber er
achte heute genauer darauf, nicht eine wissenschaftliche
Theorie als die einzig gültige darzustellen.
Welche Fehler in seinen Büchern sieht er heute selbst?
»Die sinkende Kriminalitätsrate in New York aus Tipping
Point«, sagt er, ohne lange nachzudenken. Damit hatte sein
erstes Buch Schlagzeilen gemacht. Gladwell hatte über die
Broken- Windows-Theorie geschrieben, die besagt, dass be-
reits eine einzige kaputte Fensterscheibe in einer Straße Kri-
minellen zeige: Hier herrscht keine Ordnung – was zur Fol-
ge habe, dass in der Straße die Kriminalität wahrscheinlich
ansteigt. Die New Yorker Polizei hatte diese Kettenreaktion