Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

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Harald Martenstein


Über die Gaudi, die ein Feuilletonist beim Oktoberfest hat,


und was davon übrig bleibt


Illustration Martin Fengel
Zu hören unter http://www.zeit.de/audio

Harald Martenstein


ist Redakteur des »Tagesspiegels«


Als ich in München lebte, musste ich zum Oktoberfest gehen. Es


gab keine offizielle Verpflichtung in meinem Arbeitsvertrag. Aber
der Chefredakteur sah es extrem ungern, wenn einer seiner Redak-


teure sich dem Oktoberfest entzog, für Ressortleiter galt dies erst
recht. Ich will immer einer von den nice guys sein. Aber was der


Leiter eines Feuilletons auf einem Oktoberfest ausrichten soll, habe
ich bis heute nicht begriffen. Feuilletonchefs sind seit je Wein-


trinker, und Oktoberfestbesucher haben keine Lust auf Gespräche
über Literatur.


Das Bier, welches auf Volksfesten ausgeschenkt wird, ist relativ
dünn. Sie müssen es heimlich mit Wasser strecken, das kann ich


leider nicht beweisen, aber anders ist die Menge an Bier, die dort
die Kehlen hinabrinnt, einfach nicht zu erklären. Normalerweise


stirbt man, wenn man in kurzer Zeit so viel Bier trinkt. In dem
Zelt spielte eine Blaskapelle, meiner Meinung nach war es immer


dasselbe Lied mit minimalen Variationen. Im Zelt war es so laut,
dass man sich nur brüllend unterhalten konnte, den Leuten schien


das Spaß zu machen. So ein Volksfest ist jedenfalls eine Gelegenheit,
nervtötende Bekannte und ungeliebte Kollegen anzubrüllen, ohne


Sanktionen befürchten zu müssen.
Wenn man in einen Körper von oben große Flüssigkeitsmengen ein-


füllt, dann drängt diese Flüssigkeit irgendwann zum unteren Aus-
gang, Mutter Natur will es so. Die Schlangen an den Toiletten er-


innerten mich, weil ich mal Geschichte studiert habe, an Fotos vom
Schwarzen Freitag, 1929, als Zigtausende Kleinanleger die Banken


stürmten, um ihr Geld zu retten. Die Gesichter hatten auch den
gleichen verzweifelten Ausdruck wie 1929. Viele Männer erleichter-


ten sich im Freien, erstaunlich unbefangen. Wer eine nagelneue und


folglich brettharte Lederhose anhatte, und das waren nicht wenige,
kämpfte mit den Knöpfen, die den Latz seiner Lederhose fast so
sicher wie einen Safe verschlossen. Nicht alle Kämpfe endeten sieg-
reich. Rund um die Toiletten erstreckte sich eine weitläufige Sumpf-
landschaft, aus der Dämpfe emporstiegen. Warum man diese un-
glaubliche Menge an warmer Biomasse nicht ökologisch nutzt, etwa
zum Erhitzen der Weißwürste, verstehe ich auch nicht. Da gäbe es
sicher eine hygienisch akzeptable Lösung, mit Rohren oder so.
Auf dem Rummel lassen sich Menschen festschnallen und im Kreis
herumschleudern, oder sie stürzen zehn Meter in die Tiefe, sie krie-
gen Angst, kreischen und bezahlen dafür Geld. Wenn man aber
droht, ihnen mit einem Bierseidel das Nasenbein zu brechen, was ja
auch Angst macht, und wenn man dann sagt, das war nur zu deiner
Gaudi, weigern sie sich, auch nur den kleinsten Obolus zu ent-
richten. Sie stehen an Glaskästen und versuchen, mit einem Greif-
arm hässliche Stofftiere aus chinesischer Billigproduktion zu fassen.
Dafür geben sie einen Betrag aus, für den sie das Stofftier niemals
gekauft hätten. Wenn aber am Getränkeautomaten in der Firma
ein Greifarm montiert wird, nur damit sie Spaß haben, rennen sie
zum Betriebsrat.
Am späteren Abend erbrechen sich einige Bierzeltbesucher in sämt-
lichen Farben des Regenbogens. Danach rufen sie gurgelnd »G’sund
samma« und »Mein letztes Bier war schlecht«. In den folgenden
Stunden bestellen sie zur Sicherheit nur noch Obstler. Auf diesen
Volksfesten herrscht eine zivilisatorische Ausnahmesituation, die
sich nur ertragen lässt, wenn man auf den Bänken Schuhplattler
tanzt, was ich angeblich gegen Ende meines Oktoberfestbesuches
getan habe. Zum Glück besitze ich keine Erinnerung daran.
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