Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

W


enn nur die Angst nicht
wäre. Vor einer Nabel-
schnur, die sich um
den Säugling legt, vor
Herztönen, die schwä-
cher werden, vor den
Schmerzen, die eine
Geburt zur Hölle machen können. Soll sich eine
Frau da wirklich für eine normale Geburt ent-
scheiden und nicht für einen Kaiserschnitt, der
doch alles einfacher und weniger riskant macht?
Die Frage lässt sich nicht pauschal beantwor-
ten. Aber neue Daten von vergangener Woche
liefern mehrere Gründe für eine natürliche
Geburt. Denn der Kindergesundheitsreport der
Techniker Krankenkasse (TK) weist deutlich auf
langfristige Gefahren hin, die ein Kaiserschnitt
für Kinder haben kann: Verglichen mit solchen,
die auf natürliche Weise auf die Welt gekommen
sind, haben diese in ihren ersten acht Lebens-
jahren ein erhöhtes Risiko dafür, dicker zu wer-
den, an der Aufmerksamkeitsstörung ADHS zu
erkranken, an Allergien, Blutarmut oder an einer
chronischen Bronchitis. 14 weitere Krankheits-
gruppen listet der TK-Report auf, die bei Kaiser-
schnitt-Kindern häufiger auftreten sollen.
Die Daten zeigten erst einmal nur »eine Asso-
ziation zwischen Kaiserschnitten und bestimm-
ten Erkrankungen der Kinder, keinen kausalen
Zusammenhang«, sagt Ingeborg Krägeloh-Mann,
Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendmedizin und Ärztliche
Direktorin an der Universitätsklinik für Kinder-
und Jugendmedizin Tübingen. Und doch bestä-
tigt der Report etwas, was diverse Studien schon
seit etwa zehn Jahren zeigen und »was sich immer
mehr als Tatsache herausstellt: Kinder, die per
Kaiserschnitt geboren wurden, haben ein erhöh-
tes Risiko für bestimmte Erkrankungen«, sagt
Frank Louwen, Vizepräsident der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe.
Warum das so ist, weiß man nicht genau.
Wahrscheinlich spielt das mütterliche Mikro-
biom der Vagina, also deren Keime, eine große
Rolle. Mit dem kommt ein Kind nicht in Kon-
takt, das per Kaiserschnitt geboren wird. Damit
fehlt seinem Immunsystem ein wichtiger Trai-
ningspartner, der ihm hilft, zu reifen. Das ist
bislang allerdings nur eine Theorie.
Klar ist aber: Nur wenige Themen bei einer
Schwangerschaft sind so emotional besetzt wie der
Kaiserschnitt. Eine Frau, die sich bewusst dafür ent-
scheidet, gilt schnell als eine, die es sich doch nur
bequem machen will, die selbst eine Geburt ihrem
durchgeplanten Leben unterwerfen will, der es nur
um sich geht und nicht um ihr Kind. Es ist natür-
lich nie so eindeutig. Die wenigsten Frauen planen
die Geburt zwischen zwei Geschäftsterminen ein,


wie es das Klischee will. Wunschkaiserschnitte
»kommen in Deutschland bei etwa zwei bis drei
Prozent der Geburten vor«, sagt Frank Louwen, der
auch die Geburtshilfe und Pränatalmedizin der
Uni-Klinik Frankfurt am Main leitet.
Doch es gibt grundsätzliche Kritik an der ver-
meintlichen Leichtfertigkeit, mit der Ärzte und
werdende Eltern das Thema Kaiserschnitt be-
handeln. Die zielt vor allem auf die Häufigkeit:
Bei fast jeder dritten Geburt wird hierzulande
per Kaiserschnitt entbunden. Laut Weltgesund-
heitsorganisation WHO sollte das aber nur in
etwa 15 Prozent der Geburten so sein. »Wir
liegen in Deutschland mit der Kaiserschnittrate
viel zu hoch«, sagt Louwen.
Es ist dabei keine Frage, dass ein Kaiserschnitt
manchmal medizinisch nötig ist. Wenn das Kind
etwa quer liegt, ist eine natürliche Geburt un-
möglich. Wenn die Gebärmutter einzureißen
droht, ist das ein Notfall, bei dem sofort gehan-
delt werden muss. Und wenn sich die Plazenta in
den Geburtskanal verschoben hat oder vorzeitig
löst, müssen die Ärzte das Kind unbedingt
schnell per Kaiserschnitt auf die Welt holen. Das
Leben von Mutter und Kind wäre sonst gefähr-
det. Solche »absoluten Indikationen« sind aber
nur der Grund für etwa zehn Prozent der Kaiser-
schnittentbindungen. In den meisten Fällen gibt
es einen Spielraum in der Entscheidung für oder
gegen eine natürliche Geburt.
Ängste sind dabei sehr entscheidend, die von
Müttern wie auch die von Ärzten. In nur weni-
gen Fachgebieten sind die Strafen so hoch, die
ein Arzt bezahlen muss, wenn ein Fehler passiert.
»Wenn das Kind bei der Geburt geschädigt wird,
kommen bei einer Verurteilung häufig zwischen
drei und fünf Millionen Euro als Entschädi-
gungszahlungen auf die Ärztinnen und Ärzte
zu,« sagt Louwen.
Aber auch die Honorierung kann den Unter-
schied ausmachen. Eine Geburt per Kaiserschnitt
bringt dem Krankenhaus etwa 50 Prozent mehr
Geld ein als eine natürliche, so Louwen. Eine na-
türliche Geburt dauert auch mal mehrere Stun-
den, ein Kaiserschnitt meist nur etwa 20
bis 30 Minuten. Dass sich da manche Ärzte für
den schnellen operativen Eingriff (nichts anderes
ist ein Kaiserschnitt) entscheiden, verwundert
nicht. Zumal eine natürliche Geburt, gerade wenn
sie lange dauert, viel Personal bindet – das nicht
immer vorhanden ist. »In manchen Krankenhäu-
sern ist eine Hebamme für 80 Geburten im Jahr
zuständig, in anderen für 180. Im letzteren Fall
kann sich die Hebamme nicht um die einzelnen
Geburten kümmern, das ist dann keine Geburts-
hilfe mehr, sondern Notfallmedizin«, so Louwen.
Dabei ist die enge Betreuung durch eine
Hebamme entscheidend dafür, wie eine Geburt

G


esundheitspolitik ist kein Feld, auf
dem sich die Beteiligten besonders
häufig einig sind. Doch in diesem Fall
sind die Experten ausnahmsweise einer
Meinung: Bis die Patienten in Deutschland
den richtigen Arzt finden, dauert es oft zu
lange. Jetzt hat der Präsident der Kassenärzt-
lichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas
Gassen, vorgeschlagen, einen Wahltarif für
Versicherte anzubieten. Wer bei Beschwerden
immer zuerst zum Hausarzt gehe, solle weni-
ger bezahlen als jemand, der jederzeit frei
wählen können möchte, zu wem er geht.
Sofort gab es Kritik von Patientenvertretern,
die eine »Strafzahlung« für kontraproduktiv
halten. Doch unabhängig davon, was man von
dem Vorschlag hält: Fest steht, die Deutschen
gehören zur Weltspitze bei Arztbesuchen. Zwar
gehen die meisten nur drei- bis fünfmal im Jahr
in eine Klinik oder Praxis (laut Versichertenbe-
fragung der KBV). Doch die durchschnittliche
Zahl liegt mit 14,6 Arztbesuchen (hochgerech-
nete Zahlen aus dem Arztreport der Barmer)
deutlich höher.
Dies mag daran liegen, dass in anderen Län-
dern in weiteren Heilberufen akademisch aus-
gebildet wird – das mindert den Bedarf nach
Arztkontakt. Deutschland dagegen verzeichnet
wohl auch deshalb hohe Zahlen, weil jeder Ver-
sicherte seinen Arzt oder seine Ärztin frei wählen
kann. Die Folge sind unnötige Konsultationen


  • wirklich Kranke brauchen daher mitunter
    länger, bis sie behandelt werden.
    Außerdem sind die Kosten für das gesamte
    System höher als nötig. Die Praxisgebühr, die
    es bis 2012 gab, hat ihre Steuerungswirkung
    verfehlt. Andere Länder machen gute Erfah-
    rungen damit, Patienten zuerst von Allge-
    meinmedizinern untersuchen zu lassen – die
    diese bei Bedarf an Spezialisten weitervermit-
    teln. Das könnte auch hierzulande funktio-
    nieren. Noch mangelt es aber am politischen
    Willen, das durchsetzen. FRITZ HABEKUSS


Deutsche Patienten gehen zu häufig
zum Arzt. Wie lässt sich das ändern?

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GESUNDHEIT


Heikler Schnitt


Eine Studie zeigt, dass Kaiserschnitte das Risiko für Kinder erhöhen, dick zu werden und ADHS zu entwickeln VON JAN SCHWEITZER


Wird zu oft eingesetzt: Das chirurgische Skalpell bei Geburten

Fotos: Michael Kohls für DIE ZEIT; Shutterstock (u.)

verläuft, ob es etwa zu einem Kaiserschnitt
kommt oder nicht. Eine Studie der Cochrane
Collaboration, einer Organisation, die sich für
eine evidenzbasierte Medizin einsetzt, zeigte das
eindrücklich: Wenn Frauen, die schon Wehen
hatten, kontinuierlich unterstützt wurden, ent-
banden sie ihr Kind mit geringerer Wahrschein-
lichkeit per Kaiserschnitt, sie mussten zudem sel-
tener ein Schmerzmittel verabreicht bekommen.
So ist eine bessere Betreuung durch Hebammen
auch ein wichtiger Ansatz, die Kaiserschnittrate
zu senken. Ebenso wie das Gespräch mit den
Schwangeren: »Wir müssen die Frauen unbe-
dingt gut aufklären über die Vor- und Nachteile
der jeweiligen Geburtsformen«, sagt Louwen
Mit einer neuen Leitlinie – einer verbindlichen
Handlungsanweisung für die Ärzteschaft – wollen

er und andere Geburtshelfer nun dazu beitragen,
dass der Anteil der Kaiserschnittentbindungen
sinkt. Darin werde etwa viel Wert auf eine stren-
gere Indikation gelegt, sodass sich ein Arzt nicht
so schnell für einen Kaiserschnitt entscheidet.
Anfang 2020 soll sie erscheinen.
Auf 20 bis 25 Prozent soll die Kai ser schnitt-
rate mittelfristig sinken, hofft Louwen.
Doch bei allem, was man dafür tun kann: Es
wird immer Frauen geben, denen man ihre Angst
nicht nehmen kann. Die vaginale Entbindung sei
das Normale, sagt Ingeborg Krägeloh-Mann,
und die Frauen sollten darauf vorbereitet wer-
den. »Wenn eine schwangere Frau jedoch große
Angst vor der Geburt hat, muss sich der Arzt
natürlich fragen, wie sehr er sie zu einer vagina-
len Geburt drängen soll.«

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