Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

»Der Geistesblitz ist sehr selten«


Lassen sich Innovationen planen? Und welche Zeiten bringen


besonders viele Erfindungen hervor?


Ein Gespräch mit der Technikhistorikerin und


Sinologin Dagmar Schäfer


DIE ZEIT: Frau Schäfer, Sie erforschen die Ge-
schichte der Technik. Was kann die uns über
Ideen lehren?
Dagmar Schäfer: Vor allem, dass Ideen aus der
Praxis kommen. Die Vorstellung, dass man erst
eine Eingebung hat und dann etwas macht, ist
überholt. Durch praktisches Tun entwickelt sich
etwas Neues, und das wird irgendwann als Idee
bezeichnet. Wir Technikhistoriker sprechen
heute von der »Ideenpraxis«.
ZEIT: Heißt das, den Geistesblitz gibt es gar
nicht?
Schäfer: Jedenfalls ist er sehr selten. Etwas als
Geistesblitz zu bezeichnen ist aber eine erfolg-
versprechende Marketingstrategie, um Verände-
rungen durchzusetzen. Zumindest heutzutage,
wo das Neue als durchweg positiv gilt.
ZEIT: Das war nicht immer so?
Schäfer: Die Vorstellung, dass alles Neue gut
und alles Alte schlecht sei, hat sich erst im 19.
Jahrhundert zu einem globalen Phänomen ent-
wickelt. Als Historikerin weiß ich, dass beispiels-
weise die chinesische Sicht lange Zeit eine ande-
re war. In China war man eher bestrebt, das Alte
und Beständige zu betonen, weil man der An-
sicht war, dass sich ohnehin alles ständig wan-
delt. Dort lautete die Marketingstrategie des-
halb: »Früher hat sich dies oder jenes bewährt,
deshalb müssen wir es erhalten oder wieder an-
streben.«
ZEIT: Dabei behaupten die Chinesen doch ger-
ne, die meisten großen Erfindungen seien bei
ihnen gemacht worden.
Schäfer: Das ist ebenfalls Marketing. Der indi-
sche Staat durchsucht derzeit auch seine Ge-
schichte auf Innovationen. Aber die meisten
Neuerungen fanden mehrfach statt und an ver-
schiedenen Orten.
ZEIT: Zu welchen Zeiten gab es denn besonders
viele Innovationen?
Schäfer: Als Hochzeiten von Innovationen gel-
ten in der Wissenschaftsgeschichte solche Pha-
sen, in denen viel über Innovationen berichtet
wurde – zum Beispiel die Zeit der Renaissance in
Europa.
ZEIT: Sie klingen skeptisch. Zweifeln Sie daran?
Schäfer: Es gibt immer Veränderung, aber sie
erhält unterschiedlich starke Aufmerksamkeit.
Nehmen wir Kompass, Schießpulver, Papier,
Buchdruck: All diese Entwicklungen wurden im



  1. Jahrhundert in China dokumentiert. Tat-
    sächlich waren sie aber schon 400 Jahre früher
    entstanden. Weitere 600 Jahre später, im 16.
    Jahrhundert, hat Francis Bacon dann diese Er-
    rungenschaften als die »Vier großen Erfindun-
    gen« vermarktet.
    ZEIT: Und heute nehmen die chinesischen Me-
    dien wieder darauf Bezug, wenn sie von Bike-
    sharing, Online-Shopping, Hochgeschwindig-
    keitszügen und mobilen Bezahlformen als den
    »Neuen vier großen Erfindungen« sprechen?
    Schäfer: Ja, und es ist kein Zufall, dass sie dafür
    vier Innovationen wählen, die zeigen, dass Altes
    ein wichtiger Kern alles Neuen ist: ohne Mobil-
    telefon kein Bikesharing, ohne Computer kein
    Online-Shopping.
    ZEIT: Nochmal zurück zur Historie: Es gab


Ich arbeite. An etwas Neuem. An einer Fu sion.
Aus zwei Abteilungen wird ein Team. Aus zwei
Fachbereichen wird ein Themenspektrum. Aus
zwei Chefs werden vier Change-Manager. Wir
reden über kommende Veränderungen. Was sie
für mich bedeuten. Die Manager sagen: »Rie-
senteam, Riesenchance!« – »Kolumne auf allen
Kanälen!« – »Kleine Anekdoten auf großer
Bühne!« – »Riesenbühne!« Sie strahlen. Sieht
nach Zukunft aus. Ich denke an die Vergangen-
heit. Als mir meine Anekdoten groß schienen.
Und die Bühnen, auf denen sie spielten, auch.
Keine Bühne scheint größer als die erste, auf
der man steht. Keine Bühne scheint kleiner als
die erste, die man verlässt.
Neulich kehrte ich zurück in das Städtchen,
in dem ich aufwuchs. Wegen meines Buches,
wegen einer Lesung. In der einzigen Buchhand-
lung des Ortes. Im Schaufenster hing ein Plakat
mit meinem Namen. Gedruckt von der Buch-
handlung. Auf Druck meiner Mutter. »Ihre Frau
Mama ist ja sehr optimistisch, was das Interesse
angeht«, knurrte der Buchhändler, als ich eintrat.
Ich lächelte. Der Händler verschwand hinter ei-
nem Bücherstapel. Ich sagte: »Stimmt. Aber ich
habe ja auch ein Heimspiel.« – »Der letzte Heim-
autor hatte fünf Gäste«, sagte der Bücherstapel.
»Aber der war hier nicht auf der Schule«, sagte
ich. »Sind Ferien«, murmelte der Stapel.
Ich rief meine Mutter an. Der Buchhändler
sei ein Lügner, sagte sie. »Es waren sieben Gäste.«
Dann zählte sie Bekannte auf, die kommen woll-
ten. Ich kannte keinen. »Kennst du alle«, sagte
meine Mutter. »Vielleicht sollten wir es lassen«,
sagte ich. »Aber die Kolumnen im Buch handeln
von dem Leben hier.« – »Das ist doch alles vorbei!«
Ich seufzte. Meine Mutter schwieg.
Bei meinen ersten Kolumnen war ich Single.
Ich schrieb über Affären, Arbeitsverträge und
darüber dass ich als Kind den Akzent meiner
Mutter verstand, aber nicht die Nachbarn und
Lehrer, nicht die Kinder, mit denen ich spielte,
und nicht die Mädchen, die ich toll fand. All
jene, die blieben, als ich ging und größere Büh-
nen suchte.
Sie kamen, als ich auf der Bühne im Buchla-
den saß. Die Lehrer, die jetzt Pensionäre waren.
Die Mädchen, die nun Frauen waren. Die Kinder,
die selbst Kinder hatten. Auch die Nachbarn, die
immer noch Nachbarn waren. Der Buchhändler
trug ein Hemd mit Rotweinflecken und sagte, er
sei überwältigt vom Zuspruch. Meine Mutter trug
ein Abendkleid und ein Lächeln.
Die Bühne passte. Zum ersten Mal. Zum
letzten Mal.
Ich schaue die Change-Manager an. Ich
frage: »Und jetzt?«

A http://www.zeit.deeaudio

VON RUDI NOVOTNY

Work- L ove -


Balance


Ich verlasse die


Bühne für


etwas Neues


TITELTHEMA: INNOVATION


schon bestimmte Zeiten mit einer Häufung von
Innovationen, oder nicht?
Schäfer: Schon. Ich forsche gerade über das 13.
und 14. Jahrhundert in China. Damals gab es
dort sehr viele Innovationen in einer Branche, die
bis heute ein absoluter Motor der Innovation ist.
Raten Sie mal, welche!
ZEIT: Schwierig ... hoffentlich nicht die Finanz-
branche?
Schäfer: Die Textilindustrie! Damals konnte nur
China Seide herstellen. Sie wurde exportiert, was
einen gewissen Wohlstand schuf. Und der trieb
wiederum Innovationen an. Es wurden neue
Techniken entwickelt, mit denen man Leder und
Gold bearbeiten konnte, diese wurden mit der
Seidenproduktion verknüpft. Zum Beispiel wur-
de Goldbrokat entwickelt, einen durchwirkten
Stoff, den man bis heute in vielen Kirchen sehen
kann.
ZEIT: Und warum ist die Textilindustrie bis heute
ein Innovationsmotor?
Schäfer: Im 19. Jahrhundert wurden Textilien zum
Massengut, das setzte Energie und Zeit frei für In-
novationen in anderen Industriezweigen, bis heute.

ZEIT: Angesichts der drängenden Probleme der
Gegenwart wünscht man sich, man könnte Lö-
sungsideen erzwingen. Funktioniert so etwas?
Schäfer: Historisch betrachtet nie.
ZEIT: Nie?
Schäfer: Solche Lösungen sind kurzsichtig. Sie
zielen immer nur auf ein bestimmtes Ergebnis. Be-
sonders im 19. und 20. Jahrhundert galten große
Innovationen und schnelle Lösungen als sehr at-
traktiv. Die sorgten aber langfristig für Probleme.
ZEIT: Zum Beispiel?
Schäfer: Nehmen wir die industrielle Massenpro-
duktion etwa von Plastik: Was einst das Leben er-
leichtern sollte, stellt sich heute als großes Problem
heraus. Dasselbe gilt für chemische Insektizide wie
DDT – der schnelle Erfolg auf dem Acker wurde
mit fatalen ökologischen Langzeitfolgen erkauft.
ZEIT: Kann denn längerfristige Planung helfen,
wie sie in China betrieben wird?
Schäfer: Das ist die Vorstellung, die viele im Wes-
ten haben. Wenn mir aber meine Kollegen in Chi-
na erzählen, wie Forschung und Innovation dort
ablaufen, sage ich denen: Das kenne ich von zu
Hause.

ZEIT: Wie meinen Sie das?
Schäfer: Die Chinesen haben sich in den ver-
gangenen zehn bis zwanzig Jahren systematisch
die europäische und amerikanische Wissen-
schaftsorganisation abgeschaut, zum Beispiel
die Prozesse, wie Wissenschaft evaluiert und
gefördert wird. Vor 15 Jahren musste man in
China nur die richtige Person ansprechen, und
die konnte sofort eine Konferenz organisieren.
Heute müssen meine Kollegen dort erst För-
deranträge stellen – wie wir im Westen. Diese
Bürokratie ist für viele eine echte Umstellung.
ZEIT: Aber die chinesische Regierung lenkt
auch die Inhalte der Wissenschaft. Staatschef
Xi Jinping will China bis 2030 zur Supermacht
der künstlichen Intelligenz machen, der Staat
steckt Milliarden in diese Forschung.
Schäfer: Viele Staaten betreiben inhaltliche
Forschungsförderung, Europa hat das sogar er-
funden. Natürlich gibt es in China ein politi-
sches Element. Aber auch die europäische Wis-
senschaft beharrt auf dem Plan, arbeitet mit
Drei- oder Fünfjahresprojekten. Die Sektoren,
in denen wir ungeplante Forschung machen,
sind sehr, sehr klein. Echte Freigeistforschung
ist ganz selten.
ZEIT: Gibt es denn auch ein gutes Planen für
Innovationen?
Schäfer: Ja. Schlechtes Planen legt das End-
ergebnis fest, gutes Planen bezieht sich auf den
Prozess.
ZEIT: Wie kann das aussehen?
Schäfer: Man kann zum Beispiel bewusst Ex-
perten aus verschiedenen Gebieten zusam-
menbringen. Wenn die sich konstruktiv aus-
tauschen, entstehen fast unweigerlich Inno-
vationen. Das ist auch einer der Gründe, wa-
rum ich an ein Max-Planck-Institut gegangen
bin. Hier treffe ich Menschen, die ich als Si-
nologin sonst nicht treffen würde: Der Kolle-
ge nebenan macht Polymerforschung, ein
anderer ist Genetiker.
ZEIT: Und wenn nur Experten aus demselben
Gebiet zusammensitzen?
Schäfer: Denn stellen sie sich nicht gegenseitig
infrage. Sie können auch eine Innovation ver-
hindern, wenn sie mit all ihrer Expertise davon
überzeugt sind, dass es ohnehin nicht funktio-
niert.
ZEIT: Experten können also gute Ideen zerstö-
ren. Wie aber kann die Gesellschaft schlechte
Ideen wieder loswerden?
Schäfer: Kaum. Höchstens indem man eine
schlechte Praxis durch eine bessere Praxis er-
setzt. Wir sind Gewohnheitstiere. Nicht et-
was Neues zu erschaffen ist so schwierig,
sondern die Gewohnheiten der Menschen zu
verändern.

Dagmar Schäfer ist Sinologin und Direktorin
am Max-Planck-Institut für Wissenschafts-
geschichte in Berlin. Ihr Interesse gilt
insbesondere der Technikgeschichte Chinas

Das Gespräch führten STEFANIE KARA
und STEFAN SCHMITT

Dagmar Schäfer erforscht Innovationen am Beispiel der Seidenproduktion im alten China

Foto (Ausschnitt): Bennie Julian Gay für DIE ZEIT


  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 WISSEN 43


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