Nachfolger werden im Gesellschaftsressort, zu-
sammen mit Özlem Gezer. Und dann kommt
Moreno mit seiner Bombe. Zur totalen Unzeit.
Das muss man verstehen. Der Spiegel hatte in die-
ser Affäre anfangs kein Kommunikationsproblem,
er hatte ein Motivationsproblem.
ZEIT: Ihre Eltern sind Bauern in Andalusien gewe-
sen, bevor sie in den Siebzigerjahren nach Deutsch-
land kamen, sie sprechen bis heute kaum Deutsch.
Glauben Sie, man hätte Ihnen als Ärztekind aus
Hamburg-Blankenese eher zugehört?
Moreno: Wenn ich eine Frau wäre, würde man
fragen: Lag es daran, dass Sie eine Frau waren? Ich
glaube das nicht. Mein Fotografenfreund Mirco
Taliercio, der mir in den USA geholfen hat, Re lo-
tius hinterherzurecherchieren, hat am Ende gesagt:
Der Sohn eines Neapolitaners und der Sohn eines
Andalusiers überführen einen hanseatischen Auf-
schneider! Ich fand, es war ein guter Witz.
ZEIT: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie das
Verhalten von Geyer und Fichtner bis zu einem
bestimmten Punkt nachvollziehen können, dass
Sie sich als Chef möglicherweise anfangs ähnlich
verhalten hätten. Ab wann nicht mehr? Worüber
schütteln Sie heute noch den Kopf?
Moreno: Im Buch beschreibe ich einige Momente,
in denen man denkt, das kann nicht wahr sein. Aber
fast schon absurd wird es, als ich ihnen meine in den
USA aufgenommenen Videos zeige, in denen die
Protagonisten aus Relotius’ Reportage erklären, dass
sie Relotius nie getroffen haben – und Zeile für Zeile
den Text durchgehen und die Fehler aufzählen. Da-
mals wurde suggeriert, ich hätte diesen Leuten wo-
möglich Geld für ihre Aussagen geboten.
Im vorigen Jahr erschütterte der Fall
Relotius die Medien. Hier erklärt der
Journalist Juan Moreno,
wie er den Fälscher entlarvte und
warum so viele Menschen gern belogen
werden wollen
DIE ZEIT: Herr Moreno, Sie haben den Spiegel-
Reporter und Fälscher Claas Relotius fast im Al-
leingang überführt. Doch lange wollte Ihnen kei-
ner glauben. Es gab einen besonderen Tiefpunkt:
Sie sitzen zu Hause und telefonieren mit einem
Spiegel-Verantwortlichen, der Sie erneut abblitzen
lässt. Dann fangen Sie an zu weinen, so beschrei-
ben Sie das in Ihrem Buch, und Ihre Frau ist eben-
falls hilflos, sie verlässt die Wohnung, um draußen
auf der Straße zu weinen.
Juan Moreno: In der ersten Fassung war diese Pas-
sage länger, ich habe sie gekürzt, weil ich mir vor-
kam wie ein weinerlicher Sack. Ich neige nicht
dazu, vielleicht hat das mit meiner südländischen
Erziehung zu tun, in der Öffentlichkeit zu weinen,
und mit Öffentlichkeit meine ich auch: vor mei-
ner Frau. Als sie es bemerkte, dachte sie: Okay, der
weint, was ist jetzt bitte los?
ZEIT: Hatten Sie in dem Moment Existenzangst?
Sie waren und sind freier Reporter beim Spiegel.
Sie schreiben, es habe beim Spiegel den Plan gege-
ben, Ihren Vertrag wegen Ihrer Vorwürfe gegen
Relotius nicht zu verlängern.
Moreno: Den Plan gab es, das wurde redaktions-
intern eingeräumt. Ich wusste, wenn ich rausfliege
und alle Welt sich erzählt, ich hätte einen Kollegen
zu Unrecht angeschwärzt, dann bekomme ich in
der Branche ein fundamentales Problem. Aber in
dem Moment war das nicht entscheidend. Ich war
verzweifelt, weil ich das Gefühl hatte, die wollen
nicht hören, was ich sage. Ich hatte das Gefühl, die
behandeln mich wie jemanden, der aus Neid
Zwietracht säen will.
ZEIT: Ihr Buch erweckt manchmal den Eindruck,
das eigentliche Duell fand nicht zwischen Ihnen
und Claas Relotius statt, sondern zwischen Ihnen
und Ihren beiden Vorgesetzten, Matthias Geyer
und Ullrich Fichtner. Sie haben mal gesagt, Sie
seien gegen eine Wand gelaufen, eine Spiegel-ge-
mäß solide Wand.
Moreno: Ja, die Wand war gut gebaut. Es fing klein
an. Ich schrieb einen Text gemeinsam mit Claas
und wunderte mich über einige seiner Passagen.
Erst dachte ich, er übertreibe oder sei angelogen
worden. Claas reagierte auf meine Fragen seltsam
und wollte nichts davon hören. Schließlich mailte
ich einem Dokumentar. Beim Spiegel ist die zu
Recht gerühmte Dokumentation zuständig für
Fakten-Checks. Dieser Dokumentar vermittelte mir
freundlich den Eindruck: Du armer Tor, du weißt ja
gar nicht, wem du da einen Fehler unterstellst!
ZEIT: Als würde man Picasso angreifen?
Moreno: Genau, als würde ich sagen, Leute, der
Picasso kann gar nicht malen, alles so schief! Und
dann kommt der Kulturredakteur, nimmt mich
väterlich in den Arm und sagt, Moreno, wir müs-
sen reden. So fühlte sich das jedenfalls an.
ZEIT: Claas Relotius war der junge Starreporter
des Blattes ...
Moreno: Ein Chefredakteur hat gesagt: Claas Re-
lotius ist die Zukunft des Spiegels.
ZEIT: Er hat allein viermal den Deutschen Repor-
terpreis gewonnen. Er galt als bescheiden und
freundlich, war bei den Kollegen beliebt. Sie hat-
ten es mit einem Sympathieträger zu tun.
Moreno: Ja. Und noch etwas muss man bedenken.
All das passiert, während sich das große Personal-
karussell gerade dreht: Die Chefredaktion wech-
selt. Ullrich Fichtner, der Entdecker und Förderer
von Relotius, ist designierter Co-Chefredakteur.
Matthias Geyer, Relotius’ Ressortchef, soll Blatt-
macher werden. Und Relotius selbst soll Geyers
Bischof gegen Bolsonaro:
Brasiliens katholische
Kirche stellt sich an die
Seite der Ureinwohner
Seite 66
Fortsetzung auf S. 56
Dutzende Reportagen konnte der Journalist
Claas Relotius fälschen oder erfinden, ohne
dass ihm jemand auf die Schliche kam. Im
Gegenteil, die Branche ehrte ihn mit den
wichtigsten Preisen. Und im Spiegel, für den
er seit 2014 schrieb, galt er manchen als
Lichtgestalt. Auch andere druckten seine
Geschichten, so die Neue Zürcher Zeitung,
der Cicero und das Magazin der Süd-
deutschen Zeitung. Für ZEIT ONLINE und
ZEIT Wissen hat er insgesamt sechs Beiträge
verfasst. Erst Juan Moreno, ein freier
Mitarbeiter des Spiegels, schöpfte im
November 2018 Verdacht und begann den
Betrüger zu entlarven. Wie er dabei vorging,
schildert er in seinem Buch Tausend Zeilen
Lüge. Das System Relotius und der deutsche
Journalismus, das am 17. September im
Rowohlt Berlin Verlag erscheinen wird.
Dieses Interview haben zwei ZEIT-Redak-
teure geführt, die früher im Spiegel-Verlag
gearbeitet haben: Stephan Lebert war von
1990 bis 1991 Redakteur des Magazins,
Yassin Musharbash bis 2012 Redakteur bei
Spiegel Online. Sie haben weder mit Moreno
noch mit Relotius zusammengearbeitet.
Der große
Fälscherskandal
Er ließ nicht locker: Der »Spiegel«-Autor Juan Moreno, der den Betrug aufdeckte
P
rotestmusik ist ein riskantes Unterfan-
gen in der Türkei. Als etwa Cem Kara-
ca nach dem Putsch 1980 aus Protest
den 1.-Mai-Marsch sang, wurde ihm kurzer-
hand die Staatsbürgerschaft entzogen. Wer
damals seinen Protest vertonen wollte, wählte
die Rockmusik. Bis der Liedermacher Ahmet
Kaya einen neuen Stil einführte. Er verlieh
den jungen Leuten eine Stimme, die zum
Widerstand in die Berge zogen, und wurde
schließlich das Opfer einer Prozesslawine.
Nach einer Lynchkampagne musste er 1999
ins Exil nach Paris. Zu den Konzerten von
Grup Yorum kommen wiederum eine halbe
Million Menschen, die Band singt bei Streiks
und Kundgebungen Revolutionslieder. Fast
zehn Bandmitglieder sind derzeit inhaftiert.
Wegen des großen Risikos, das man mit
Protestmusik eingeht, hat sich türkischer Pop
mittlerweile auf Melancholie und Egalhaltung
verlegt. Der Rock hat seinen rebellischen Geist
begraben. Doch unverhofft kommt nun ein
neuer Wind auf: Rap. Anfang der Neunziger
brachten ihn Deutschtürken als Pioniere ins
Land. Letzte Woche nun erschütterte ein
15-Minuten-Video die Musikwelt. 20 bekann-
te Rapper singen, angeleitet durch den Urhe-
ber Sarp Palaur, besser bekannt unter seinem
Künstlernamen Şanışer, gemeinsam Susamam
(»Ich kann nicht schweigen«): »Das Leben ist
hart, du willst Spaß haben mit Musik, du ver-
drängst die Realität. Doch wir glauben daran,
dass Musik etwas ändern kann. Schließ dich
an!« Nach diesem Aufruf äußern 20 Rapper
zu 20 verschiedenen Themen offen ihre Mei-
nung. Es geht nicht nur um relativ unbedenk-
liche Themen, derentwegen keine Verhaftung
droht, wie Umweltzerstörung, Morde an
Frauen, Verkehrsüberlastung oder Bildungs-
misere, sondern auch um »problematische« wie
Justiz, Gerechtigkeit, Medien oder Faschismus.
Quasi im Namen einer Generation heißt
es: »Ich bin ein weißer Türke, mein Gesetz ist
angelsächsisch, mein Kopf nahöstlich. Apoli-
tisch wuchs ich auf, hab nie gewählt. Hab nur
an Ferien, Herumkommen und Schulden
gedacht. Jetzt hab ich Angst, auch nur zu twit-
tern. Wenn sie dich eines Nachts zu Unrecht
einlochen, findest du keinen Journalisten, der
darüber berichtet. Alle sind eingesperrt.«
Diese mutige Stimme im großen Schwei-
gen, in dem die Leute sich, wie es auch im
Song heißt, nicht einmal trauen, einen kriti-
schen Tweet abzusetzen, stieß auf ein uner-
wartet gewaltiges Echo. Der Hashtag #Susa-
mam schoss in den weltweiten Trends auf
Platz eins. Bereits 17 Millionen Menschen
haben das Video gesehen. »Ich habe keine
Angst vor Verhaftung«, erklärte Mitstreiter
Fuat. »Wir sind Rapper, es ist unsere Pflicht,
Wahrheiten auszusprechen. Mit Angst kann
man nicht leben.« CAN DÜNDAR
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Ein türkischer Rap-Song bringt
Erdoğan in Bedrängnis – und die
Künstler in Gefahr
Fünfzehn Minuten
Aufschrei
MEINE TÜRKEI (157)
Can Dündar ist Chefredakteur der
Internetplattform »Özgürüz«. Er schreibt für
uns wöchentlich über die Krise in der Türkei
»Ich wollte
nicht, dass der
›Spiegel‹
zerstört wird«
Foto: Paula Winkler für DIE ZEIT
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24 .Se ptemberISchwäbisch Hall
25.Se ptemberIWangenimAllgäu
26 .Se ptemberIÜberlingen
27.Se ptemberIStuttgart
- Oktober IKöln
16.Oktober IErfurt
- Oktober INürn berg
- November IGerm ering
14.November IGünzburg
18.No vemberICoburg
27.No vemberIOsnabrück
29 .No vemberIKiel
Vonder Kraft der Berü hrung