Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

ENTDECKEN


M


adeleine Alizadeh hängt den Benzinstutzen
ein, geht bezahlen, läuft zurück zu ihrem
Golf und sagt erleichtert, mitten in der
Nacht, im Neonlicht der Tankstelle: »Na
Gott sei Dank! Niemand hat mich gesehen.«
Eine Frau, Wienerin, 30 Jahre alt, die
tankt. Wo ist das Problem?
Wenn man den Anspruch des Men-
schen, nicht nur gut, sondern auch richtig
zu leben, als Zeitgeist versteht, als andau-
ernde Transformation einer Gesellschaft,
die mehr achten will auf Mensch, Tier und
Umwelt, dann ist Madeleine Daria Aliza-
deh das Gesicht dafür.
»@dariadaria« heißt sie auf Instagram,
knapp 250.000 Menschen folgen ihr. Mor-
gens macht sie Yoga, mittags Linsencurry,
abends spendet sie für Seenotrettung. Sie
betreibt ein eigenes Modelabel – fair produ-
ziert, klar –, gerade kam ihr erstes Buch im
Ullstein-Verlag raus, es kletterte sofort auf
die Spiegel-Bestsellerliste. Spotify hat sich
die Rechte an ihrem Podcast gesichert, die
Brigitte hat sie bald auf dem Cover, für ein
neues Nachhaltigkeitsmagazin.
Worauf Madeleine Alizadeh verzichtet:
Fleisch, Milchprodukte, Plastik, Alkohol,
Zucker, Kurzstreckenflüge, so gut es geht.
Neulich postete sie ein Bild von sich und
Greta Thunberg. »Rockstars«, schrieb einer
darunter. Nun kandidiert sie auch noch bei
der österreichischen Nationalratswahl.
Man könnte sagen: Sie führt eine Revolu-
tion an. Aber eine sanfte, in Beige.
Ihren Followern gibt sie Tipps, welche
Meditationskissen sie kaufen können, oder
sie verrät, ob das noch gehe, Lederstiefel zu
tragen (ja: secondhand). Auf Fotos zeigt sie
sich meist ungeschminkt, weiche Farben,
viel Senfgelb, Beige, Altrosa.
Man könnte auch sagen: Als Revolutio-
närin riskiert sie nicht viel. Angst hat sie
trotzdem – die Angst jedes modernen Men-
schen, der sich viel im Internet bewegt: Sie
hat Angst vor Shitstorms.
2016 gab sie dem österreichischen Früh-
stücksradio ein Interview, unter den meist-
gehörten des Jahres landete es auf Platz drei,
hinter denen mit den beiden Präsident-
schaftskandidaten. Sie sagte darin, dass sie
auch ihren Hund vegan ernähre. Da drehten
manche durch.
Man stelle sich nun vor, jemand hätte
ein Foto gemacht von der Eingangsszene
und ins Netz gestellt. Alizadeh, Influence-
rin des Guten, Klimaaktivistin: wie sie
tankt. Bei Shell!
In der besagten Nacht Anfang Juli, halb
zwei in der Früh, ist sie auf dem Weg zu
einem Schlachthof. Sie lenkt das Auto lässig
mit einer Hand, bedient parallel Google
Maps am Smartphone, fährt, redet, gesti-
kuliert gleichzeitig. Sie trägt silberne Ohr-
ringe, die dunklen Haare hat sie zum Zopf
gebunden. Alizadeh ist eine gut aussehende
Frau. Auf ihrem Klo, das wird man später
feststellen, hängt ein Magazin-Cover, vorn
drauf sie selbst, daneben der Satz: »Men-
schen wie ich beweisen, dass man nicht
nach Müsli aussehen muss, wenn man eine
Ökoschnitte ist.«
Ihren Golf, sagt sie, habe sie zu ihrem 18.
Geburtstag von ihrer Tante geschenkt be-
kommen. »Ist vielleicht wichtig zu schreiben,
dass ich den inzwischen meiner Mutter ver-
macht habe, sonst denken manche, ich fahre
jeden Tag damit rum.«
Im Auto vor ihr fahren drei Veganismus-
Aktivisten vom »The Safe Movement«. De-
ren Anliegen: Sie verabschieden Schweine
vor dem Tod an der Schlachtbank. Machen
Fotos und Videos. Ihre Hoffnung: Wenn
Leute sehen, wie schlimm es da zugeht, ver-
zichten sie auf ihr Steak. Da kommt Aliza-
deh ins Spiel. Eine Viertel Million Follower,
leidende Schweine. Könnte knallen.
Am Schlachthof wartet der Schlachter,
mit weißer Plastikschürze. Er duldet das
Spiel der Aktivisten, wenn sie nicht verraten,
wo sein Schlachthof steht. »Und was machen
Sie?«, fragt er Alizadeh. »Podcasts«, sagt sie.
Der Schlachter schaut verwirrt.
»Na dann kommt’s mal mit«, er weist den
Weg durch einen Gang, es stinkt nach Mist
und Urin. »Da habt’s eure Schweinderl.«
Hinter einem Gatter sucht eines mit dem
Rüssel den Boden ab, findet statt Wasser Be-
ton. Andere rammen sich gegenseitig die
Hauer in den Rücken. Eins ist so fett, dass es
kaum laufen kann. Alizadeh streckt die Hand
durch und streichelt einer Sau den Rüssel.
Speichel tropft. Sie filmt. Fotografiert.
Dann blickt sie plötzlich auf. Über ihre
linke Wange läuft eine Träne. Sie wischt sie
mit dem Ärmel weg. »Ich kann nicht mal
den Tod einer Fliege ertragen«, sagt sie.


»Aber Schweine sind schlauer als Hunde. Ich
kann nicht verstehen, warum Menschen das
essen wollen.«
Als sie drei Stunden später wieder in
ihren Golf steigt, Tau auf der Windschutz-
scheibe, Sonnenaufgang überm Schlacht-
hof, steht ein Tor offen. Dahinter baumeln
glänzende Schweinekörper. Augen raus-
gepult, Haare abgebrannt, in der Kehle
ein Schnitt.
Am nächsten Tag postet Alizadeh bei
Instagram. Ihr ist eine Idee gekommen, wie
sie das Grauen mit der Rapsfeldästhetik ihres
Profils zusammenkriegt. Sie postet ein Selfie,
Tränen in den Augen. Sie schreibt: »Bitte
schaut bei meinen kommenden Postings
nicht weg, nur weil es unangenehm ist.«
Dann folgt ein Video eines vor Angst zittern-
den Schweinestummelschwänzchens.
Bis heute, über zwei Monate später, haben
eine halbe Million Menschen das Foto mit
den Tränenaugen gesehen. Hunderte haben
ihr geschrieben, dass sie seit diesem Tag kein
Fleisch mehr essen. Manche schreiben, sie
hätten die Bilder ihren Eltern gezeigt, die
jetzt auch verzichten wollen.
Als hätte diese Frau eine Superkraft, mit
der sie Menschen die Synapsen neu verka-
belt. Zack bumm, hundert neue Veggies.
Wie ist so was möglich?
Am Abend vor der Schlachthofnacht,
Wien-Währing. Im dritten Stock eines reno-
vierten Altbaus öffnet Alizadeh die Tür zu
ihrer Wohnung. Sie trägt ein weißes Leinen-
kleid und setzt sofort an, mich, den fremden
Reporter, zu umarmen. Nähe vermitteln, das
ist ihr Handwerk.
Es ist merkwürdig, wie vertraut einem die
Wohnung eines fremden Menschen sein
kann, nur weil man sie von Instagram kennt.
Die Monstera-Pflanzen im Wohnzimmer,
das Bücherregal. Die Küche, blitzblank, hat
eine eigene Playlist bei Spotify. Hier filmt
sich Alizadeh manchmal tanzend.
Sie wirbelt kurz rum, und schon steht in
kleinen Schalen Abendessen auf dem Tisch.
Börek, Salat, dazu veganer Feto (fermen-
tierter Tofu, für sie) und Feta (für mich).
Zum Nachtisch akkurat geschnittene Was-
sermelonenstücke, Mate vom Späti, keinen
Wein. »Ich habe irgendwann beschlossen,
dass es mir besser geht ohne Alkohol«, sagt
sie. Es gibt eine Podcastfolge, in der sie ihre
Beweggründe schildert. Seither schreiben
ihr trockene Alkoholiker, was für eine In-
spiration sie sei.
Mit am Tisch sitzt ihr Freund, dessen
Identität geheim bleiben soll. Seit das mit
ihrem Ex-Freund in die Brüche ging, den sie
ständig gezeigt hat, ist sie vorsichtig gewor-
den. Der neue sieht aus wie 25, ist aber 35,
Brille, Fünftagebart, netter Kerl. Das T-Shirt,
das er trägt, stammt aus ihrer Kollektion. Er
sagt: »Ich glaube, Maddie ist so erfolgreich,
weil sie so streng ist mit sich.«
An einem typischen Tag – an manchen
ist sie zwölf Stunden am Handy – postet sie
bei Instagram ein Bild von sich in fair pro-
duzierter Unterwäsche, klärt ihre Follower
darüber auf, welche Firmen am meisten
CO₂ in die Atmosphäre blasen, und zeigt
vor dem Schlafengehen noch ein Foto von
ihrem Oberschenkel mit roten Pünktchen
drauf. Sie fragt: «Wer ist noch Team einge-
wachsene Haare?«
Sie streift alle Themen, Klamotten, Kör-
per, Klima, und sagt Sätze wie: »Ich will diese
Perfektion aufbrechen, die Instagram ver-
mittelt und die Menschen an ihren Handys
traurig macht.«
Und die sie lange Zeit selbst bedient hat.
Nach der Matura, dem österreichischen
Abitur, studiert Alizadeh Politikwissenschaft
und Ethnologie, quält sich, bricht ab. »Tau-
send Diskussionen, Streit darum, wer jetzt
weiter links steht, am Ende keine Lösung«,
sagt sie. Sie startet ein Blog – und wird inner-
halb weniger Jahre eine der erfolgreichsten
Modebloggerinnen Österreichs.
Jahre bevor Eltern den Begriff Influen-
cer am Abendbrottisch verwenden, schi-
cken ihr Zara, H&M und Chanel Klamot-
ten nach Hause, die sie trägt und empfiehlt.
Scrollt man weit zurück in ihrem Insta-
gram-Profil, findet man Fotos aus dieser
Zeit. Eins zeigt ein Schnitzel, dazu schreibt
sie: »Real food.« Sie steht damals für den
sorgenfreien Selbstverwirklichungstrip der
Millennials der frühen Zehnerjahre: weit
reisen, viel kaufen.
Ihre Welt implodiert im November


  1. Da stürzt eine Textilfabrik in Bangla-
    desch in sich zusammen, über tausend
    Menschen sterben – und Alizadeh schaut
    im Fernsehen eine Doku. Gerber, die in
    gelbem Chrom stehen, um das Leder von
    brutal erschlagenen Kühen zu Schuhen zu
    verarbeiten. Sie geht an ihren Kleider-
    schrank und schaut sich alle Labels an.
    Made in Bangladesh, Made in Turkey, Made
    in China. »Danach wollte ich mich überge-
    ben«, sagt sie. »Ich begriff, dass ich Teil des
    Problems war. Ich habe das Zeug ja jeden
    Tag beworben.« Sie setzt sich an den
    Schreibtisch und verfasst einen Blogbeitrag,
    über den sie »Change« schreibt. »Mein Le-
    ben muss sich ändern, sofort.«
    Heute kooperiert sie nicht mehr mit klas-
    sischen Modemarken. »In manchen Mona-
    ten lehne ich Werbedeals im Wert von
    40.000 Euro ab«, sagt sie. Stattdessen arbei-
    tet sie mit einem Biohotel zusammen und


Sie ändert


Leben


Madeleine Alizadeh ist Influencerin, Unternehmerin und


vielleicht bald Politikerin. Auf Instagram hat die


Wienerin eine Viertel Million Follower. Wenn sie ein zitterndes


Schweineschwänzchen postet, gibt es danach


Hunderte Vegetarier mehr. Wer ist diese Frau? VON MARIUS BUHL


Madeleine Alizadeh, 30, war eine erfolgreiche Modebloggerin. Heute klärt sie darüber auf, welche Firmen wie viel CO₂ in die Atmosphäre blasen

Foto: Stefan Fürtbauer für DIE ZEIT; kl. Foto: Kevin Halsxbeinbruch (S. 77)

76 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38

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