K
iew ist genauso europäisch wie
Paris, nur noch nicht so teuer«,
schwärmte ein Bekannter, der
nicht zur Übertreibung neigt.
Ich solle nur mal einen Cock-
tail im Dogs & Tails probieren. Die Bar
versteckt sich in einem urbanen Wirrwarr
aus einem Bankenturm, dem Sportpalast
der Ukraine und einer Synagoge. Neben
einem Schawarma-Stand führt eine schma-
le Gasse in stilvoll abgelegene Aufgeräumt-
heit und zu einem schwarzen, efeubewach-
senen Edelcontainer. Die Bar darin, kaum
größer als zwei Wohnzimmer, ist an der
Decke mit Leuchtlianen durchzogen, de-
ren Lampen wie kleine EU-Sterne glim-
men. Die Kellner tun ihr Bestes, um dem
Pariser Paradigma zu entsprechen, selbst-
gewiss über den Holzboden schreitend
und bis zur Blasiertheit schmallippig. Nun,
wenn Kiew Paris in nichts nachsteht, wa-
rum nicht einen Cocktail namens French
Touch kosten? Mit Apfel aufgemotzter
Bombay Gin, Fentimans Light Tonic,
Bergamotten-Püree, Lemon Cordial. Das
klingt jedenfalls nicht mehr nach (post)-
sowjetischen Trinkverhältnissen: fix Zei-
tung auf dem Tisch ausgerollt, Spiritus ran,
Gürckchen zum Hinterherkauen, läuft!
Diese Bar serviert zum Drink ausgefal-
lene Hot Dogs, die besten der Stadt sollen
es sein – es hat schon ungerechtfertigtere
Behauptungen gegeben. Den French Touch
bringt keiner der Kiewer Garçons, sondern
eine recht arbeitsam heranstapfende Frau
aus der Küche. Leuchtend gelb schwappt er
in einem Teetässchen, darin eine rosa Blu-
me, in die Silberkügelchen gestreut sind. Ich
umklammere den dürren Tassengriff mit
zwei Fingern und nippe. Da habe ich mir
ein ziemliches Bergamottengefummel am
Mund eingehandelt. Ansonsten ganz pas-
sabel, wenn auch etwas minimalistisch
dosiert. Der Preis orientiert sich ebenfalls
an Pariser Verhältnissen. Den vier jungen
Pärchen, die in der Bar sitzen, scheint das
nichts auszumachen. Wenn nicht ab und
zu ein zerknitterter Sowjetopa auf der Stra-
ße vorbeischleichen würde, könnte man das
alles auch in Saint-Germain verorten.
Seit vier Jahren gebe es das Dogs & Tails,
informiert einen der Barmann karg. Wo er
selbst in Kiew einen Cocktail trinken wür-
de? Im The Burger, sagt er unterkühlt; die
russische Betonung des »r« lässt den Namen
wie einen Taubenlaut klingen: The Brrrgrrr.
The Burger liegt etwas tiefer im Zen-
trum, fast schon auf dem Krechatik, der
Prachtmeile Kiews. Die läuft auf jenen Platz
der Unabhängigkeit zu, auf dem die Ukrai-
ner für ihr Recht auf Europa rebellierten,
um gegenwärtig von einem Komiker regiert
zu werden, der es endlich mit der EU ernst
meinen soll. The Burger ist bunt und fetzig
hergerichtet, zweistöckig, in einem ansons-
ten recht sowjetischen fünfstöckigen Ge-
bäude. »In Burgers we trust« deklarieren
orange farbene Neonbuchstaben an der
Wand. Sehr nahrungsnah bisher, diese
Kiewer Trinknacht. Ob das ein Erbe des
sowjetischen Grundverständnisses ist, dass
man nie ohne Sakuska, ohne Snacks, zecht?
Das Interieur würde auch in gehobene
deutsche Burgerläden passen. Außer viel-
leicht die Shishas auf den Tischen. Und die
schwarzen Einmalhandschuhe, die zum
Einnehmen der Burger serviert werden.
Spannend auch an der Bar auf einem Teller-
chen die Präsentation der Zigarettenschach-
teln ukrainischer Marke, drumherum ist
eine Handvoll Granatapfelkerne drapiert.
Ist das nach Vorstellung der Kiewer Gastro-
nomie europäisch? Westlich? Oder eine
willkürliche Komposition aus früher kaum
vorhandenen Wohlstandsgütern?
Ich bestelle einen Berry Gin mit Him-
beeren. Eine Limette dümpelt im roten
Meer, die Himbeeren plustern sich dank
Tonic-Sprudel auf wie Kussmünder, oben
schwimmen Minzblätter. Der Drink ist
süßer, penetranter und nicht so akribisch
komponiert wie mein erster – eher ein Ban-
lieue-Touch. Aus dieser Anmerkung spricht
bereits auch der alles andere als minimalis-
tisch dosierte Gin. Auf die Frage, wo es in
der Stadt sonst noch empfehlenswerte
Drinks gebe, sagt die Barfrau: »Nur hier.«
In ihrer Antwort steckt keine Ironie. Erst als
ich ihr etwas von meiner anbiete, ergänzt
sie: »Vielleicht im Tolstij Lew.«
Tolstij Lew heißt »fetter Löwe«, ist aber
vor allem als Wortspiel gedacht, den rus-
sischen Weltliteraten Lew Tolstoi verball-
hornend, nach dem ein Platz in der Nähe
benannt ist. Herrlich neunzehnhundrig ist
Kiew hier im Zentrum, voll schmucker Alt-
bauten mit Balkonen. Der Wortspiellöwe ist
eine sehr okaye Bar – viel anders sieht so ein
Schuppen in Brüssel oder Uptown Hanno-
ver aber nicht aus. Nichts für ungut, liebe
ironiefreie Barfrau, aber das ist mir doch zu
westlich glatt. Zum europäischen Geist ge-
hört auch, sich gegen die Bar-Obrigkeit auf-
lehnen und in die lokalkoloristischere
Schenke nebenan gehen zu dürfen. Erst
recht, wenn sich so viel Volk davor tummelt.
Pjana Wischnja heißt das Lokal, be-
trunkene Kirsche. Auf die geöffneten Holz-
türen ist eine Dame gezeichnet, die zwei der
Steinfrüchte vor ihrer Brust herzt. Eine
lange Schlange steht vor einer Wand aus
gestapelten Fässern an, für Naliwka: Wodka,
der einige Wochen mit Kirschen eingesperrt
wird, bis ein biologisches Assoziierungs-
abkommen abgeschlossen ist.
Die Spezialisten hinter der Theke den-
ken gerne groß: Bestellt einer 150 Gramm
- im Russischen sagt man nicht Milliliter –,
legen sie nahe, doch 200 zu verkosten. Und
steigt man bei 200 ein, erinnern sie an die
Möglichkeit, dass sie auch 250 Gramm in
ihrem laborartigen Messbecher abfüllen
könnten. Nicht, dass der Körper die 30
Prozent Zucker und 45 Prozent Alkohol
sonst am Ende gar nicht spürt!
Eine hochgradig unbegründete Sorge.
Draußen auf der Straße dosieren die jungen
Kirschkiewer ihre Worte ebenfalls grandios:
»Ich sage es euch, Freunde. Das Materielle
ist zweitrangig. Wichtig ist nur, dass wir uns
gegenseitig Glück bescheren und gerecht
sind. Jetzt muss dieser Geist nur noch in die
Politik einziehen.« Mutige Worte in einem
Land, das in der globalen Antikorruptions-
Tabelle auf Platz 142 dümpelt. (Frankreich
liegt an 23. Stelle.) Aber die Zuhörer lachen
den jungen Staatsschwärmer für diese An-
sprache respektvoll und anerkennend aus.
Kiew
Barkeeper weisen den Weg durch die Nacht: DMITRIJ KAPITELMAN trifft auf ironiefreie Barfrauen und mutige Staatsschwärmer
IN DREI DRINKS DURCH
Fotos: Robin Hinsch für DIE ZEIT; Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT
The Burger
Velyka-Vasylkivska-Straße 5
durchgehend geöffnet
Pjana Wishnja
Velyka-Vasylkivska-Straße 16
Mo-So 12 bis 23 Uhr
Dogs & Tails
Schota-Rustavelij-Straße 19
Fr–Sa 12 bis 3 Uhr; So–Do 12 bis 0 Uhr
N
eulich habe ich meinen Fahr-
radhelm gesucht. Das Ding ist
grasgrün und nicht zu überse-
hen, deswegen war schnell klar,
dass ich den Helm irgendwo liegen lassen
hatte, und dieses Irgendwo musste mein
Urlaubshotel in Tirol gewesen sein. Wenn
ich Dinge vermisse, sind die meistens in
einem Hotel. Ich habe schon ein Jackett
vergessen (in Bangkok), ein Paar Schuhe
(in Ulan-Bator) und diverse Ladegeräte
für diverse elektronische Gerätschaften
(in diversen Hotels rund um die Welt).
Außerdem eine gerade erst erstandene
Autobiografie von Johnny Cash (in Nash-
ville, natürlich), aber zumindest dafür
konnte ich nichts: Die hatte das ord-
nungsliebende Reinigungspersonal zur
Gideons-Bibel in die Nachttischschublade
gelegt. Wo ich nicht nachgeschaut hatte.
Ich lege nie etwas in Nachttischschubladen.
Ich würde es dort vergessen.
Natürlich lassen auch andere ihre Sa-
chen liegen. Eine Motelkette hat eine
Liste mit Dingen veröffentlicht, die in
ihren Häusern von Gästen vergessen wur-
den, darunter waren 12.000 (!) Laptops
und Smartphones, drei Goldfische, ein
kompletter Speiseeiswagen sowie – Ach-
tung: ein Shetlandpony namens Pudding.
Da kann man seinen Fahrradhelm schon
mal liegen lassen, finde ich.
Jetzt aber: Wie vergisst man nie wieder
etwas im Hotel? Indem man bestenfalls
nichts auspackt. Vielreisende lassen ihre
Sachen oft im Koffer, statt alles im Zimmer
zu verteilen – das reduziert die Gefahr, am
nächsten Morgen um halb sechs beim Ein-
packen etwas zu übersehen. Wenn man
denn auspacken will oder muss, sollte man
Wie vergesse ich nie
wieder etwas im Hotel?
REISEWISSEN
die Dinge offen hinlegen und nicht irgend-
wo verstauen. Die meisten Sachen, die in
Hotelzimmern gefunden werden, sind zu-
vor in der dritten Schublade von links un-
tergebracht worden oder unterm Sofa. Das
sind Tabu-Orte in Hotelzimmern. Genau
wie das Schränkchen neben der Minibar.
Oder die Fensterbank. Wer seinen Pass im
Schranksafe einschließt, legt am besten
einen Schuh dazu – wenn der am nächsten
Morgen fehlt, fällt das hoffentlich auf.
Ein paar weitere Tricks helfen: Die
Notiz blöcke auf den Schreibtischen eignen
sich wunderbar für »Kameraladegerät in
Steckdose hinterm Nachttisch«-Hinweise,
die man am besten nicht auf den Fußboden
legt (sonst entsorgt sie das Personal), son-
dern oben auf den Koffer. Leute, die viel
unterwegs sind, erzählen auch gerne, dass
sie sich mit der Zeit eine Art automatisierten
Scanner-Blick zugelegt haben, mit dem sie
ihr Hotelzimmer vor dem Verlassen von
rechts hinten bis links vorn systematisch
absuchen. Und auf jeden Fall hilfreich ist
das Ausschütteln des Bettzeugs. Weiße La-
ken sind heimtückische Verstecke für weiße
Kopfhörer und weiße Handyladekabel.
Das Hotel in Tirol wusste übrigens erst
mal nichts von meinem grasgrünen Helm.
Tage später rief die Rezeption zurück – man
hatte ihn doch gefunden. In meinem Zim-
mer. Obwohl das mittlerweile von etlichen
anderen Gästen bewohnt gewesen war. Aber
auch von denen hatte niemand ganz hinten
oben auf dem Schrank nachgesehen.
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