Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

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SEITE 2·FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019·NR. 213 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Brüsselsingt von Macrons Blatt
„Aftenposten“ (Oslo) befasst sich mit der neuen EU-
Kommission:
„Sicher ist, dass in den vergangenen Jahren viel von
europäischer Souveränität die Rede war und die EU sich
in wichtigen Bereichen verändert hat. Der Grenzschutz
wurde erheblich ausgeweitet, die Verteidigungszusam-
menarbeit intensiviert, und die Union arbeitet an einer
aktiveren Industriepolitik... Die EU als Institution zu
verkaufen, die in erster Linie die Europäer vor Gefahren
von außen schützen soll, ist seit langem das Mantra des
französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Nun sin-
gen viele in Brüssel von demselben Notenblatt.“


Eine gute Phase für Italien ist angebrochen
Der „Corriere della Sera“ (Mailand) kommentiert die
neue italienische Regierung:
„Es könnte eine recht gute Phase für unser Land be-
gonnen haben, zweifellos besser als die vergangenen an-
derthalb Jahre. Der Auslöser der Regierungskrise im Au-
gust war die Entscheidung der Fünf-Sterne-Bewegung,


sich von der Lega abzusetzen und mit Merkel und Ma-
cron für Ursula von der Leyen als Präsidentin der Euro-
päischen Kommission zu stimmen. Außergewöhnlich,
wenn man bedenkt, dass (Sterne-Chef) Luigi Di Maio
nur sechs Monate zuvor nach Frankreich reiste, um die
extremste Strömung der ,Gelbwesten‘ zu unterstützen,
ein Treffen, das die französische Regierung mit Recht
als ,inakzeptable Provokation‘ bezeichnete und worauf
sie ihren Botschafter aus Rom zurückrief. Seien wir ehr-
lich: Die ernsten Probleme unseres Landes bleiben un-
verändert. Die parlamentarische Mehrheit, die die neue
Regierung unterstützt, hat in der Debatte zur Vertrau-
ensfrage einen beunruhigenden Grad an Dissens ge-
zeigt... Aber es gibt einige positive Signale. Die Persön-
lichkeit einiger Minister gibt Anlass zur Hoffnung. Lucia-
na Lamorgese, die die Autorität des Innenministeriums
wiederherstellen soll, war eine der besten Präfektinnen,
die Mailand in den vergangenen Jahrzehnten hatte.“

Eine historische Chance für die EU
„Le Figaro“ (Paris) schreibt dazu:

„Für die Europäische Union bietet sich eine histori-
sche Chance, Einfluss auf die Populisten zu gewinnen,
die ihr alles Übel vorwerfen. In Rom wendet sich Giusep-
pe Conte von Matteo Salvinis feindseliger Rhetorik ab
und kündigt die Rückkehr Italiens in die europäische Zu-
sammenarbeit an. Aber er bittet seine EU-Partner um
Hilfe an zwei Fronten: Wirtschaft und Einwanderung...
Die ersten Signale der neuen Kommission von Ursula
von der Leyen scheinen darauf hinzudeuten, dass sie das
Ausmaß der Herausforderung erkannt hat.“

Frieden im Heiligen Land würde unmöglich
Der „Guardian“ (London) meint zur Absicht von Isra-
els Ministerpräsident, das Jordantal zu annektieren:
„Benjamin Netanjahus Pläne, im Falle seines Wahl-
siegs in der nächsten Woche palästinensisches Territori-
um im besetzten Westjordanland zu annektieren – und
zwar den wichtigen Brotkorb im Jordantal –, sind nicht
nur ein Verstoß gegen internationales Recht. Eine Ver-
wirklichung dieser Pläne würde Frieden im Heiligen
Land unmöglich machen. Jedoch scheint das Netanjahu

nicht zu kümmern, der sich weigert, das Recht der Palästi-
nenser auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat an-
zuerkennen... Doch was ist die Folge einer solchen
Denkweise? Millionen von Palästinensern werden in ge-
trennten Enklaven in der Mitte des Westjordanlandes le-
ben, ohne echte politische Rechte und unter getrennten
Rechts- und Bildungssystemen.“

Die Menschen erwarten Klima-Antworten
Die „Schwäbische Zeitung“ beschäftigt sich mit der
Generaldebatte im Bundestag:
„Es ist schon absurd. Da wird in der Haushaltsdebatte
fast ausschließlich über Klimaschutz geredet, doch genau
dafür ist gar kein Geld im Haushalt eingeplant. Auch
wenn Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus vor ,seriel-
lem Alarmismus‘ warnt und davor, sich jetzt nur noch um
den Klimaschutz zu kümmern: Es ist das große Thema,
das ansteht. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen
und dem von Angela Merkel eingestandenen Versagen,
die Klimaziele 2020 zu erreichen, erwarten die Men-
schen zu Recht endlich Antworten auf ihre Fragen.“

STIMMEN DER ANDEREN


Foto dpa


FRANKFURT, 12. September. Die rumä-
nische Opposition hat prompt reagiert,
als der Name der rumänischen Kandida-
tin für die EU-Kommission bekanntwur-
de: Mit diesem Vorschlag für das hohe
Amt werde Rumänien lächerlich ge-
macht, heißt es in einer Erklärung der Eu-
ropaabgeordneten der liberalen USR-
Plus. Die Regierung in Bukarest solle die
Nominierung von Rovana Plumb besser
selbst zurückziehen, bevor sie im Europa-
parlament scheitere.
Die Gefahr, dass es dazu kommt, ist
groß. Die europäischen Liberalen, deren
Fraktion von dem Rumänen Dacian Cio-
loşgeführt wird, und die Grünen attackie-
ren Plumb schon, bei der christlich-demo-
kratischen EVP dürfte sie ebenfalls auf
wenig Zustimmung stoßen. Und sogar
der einhelligen Unterstützung ihrer eige-
nen Fraktion, der Sozialdemokraten,
kann sich die Europaabgeordnete, die
derzeit in Rumänien auch noch Ministe-
rin für EU-Mittel ist, nicht sicher sein.
Denn die 59 Jahre alte Politikerin ist eine
profilierte Vertreterin der Kräfte in der
rumänischen Regierungspartei PSD, die
in den vergangenen Jahren versucht ha-
ben, die Justiz unter politische Kontrolle
zu bekommen und die Korruptionsbe-
kämpfung durch Gesetzesänderungen zu
erschweren. Die EU-Kommission hat Ru-

mänien deshalb mit einem Rechtsstaats-
verfahren gedroht, und die europäischen
Sozialdemokraten froren die Beziehun-
gen zur PSD aus diesem Grund im Früh-
jahr, wenige Wochen vor der Europa-
wahl, vorübergehend ein.
Plumb ist eine enge Mitstreiterin des
früheren PSD-Vorsitzenden Liviu Drag-
nea, der am 27. Mai, dem Tag nach der
Europawahl, von einem Gericht in Buka-
rest zu dreieinhalb Jahren Haft wegen
Anstiftung zum Amtsmissbrauch verur-
teilt wurde. Auch gegen sie selbst würde
die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft
DNA wegen Amtsmissbrauch ermitteln,
wenn das rumänische Parlament es im
Herbst 2017 nicht abgelehnt hätte, ihre
Immunität aufzuheben. Es geht um einen
Fall, in dem Dragnea der Nutznießer
war: Als Umweltministerin hat Plumb
die unter Naturschutz stehende Insel Beli-
na in der Donau aus Staatsbesitz an Drag-
neas Heimatlandkreis Teleorman über-
schrieben, der sie darauf zu extrem güns-
tigen Bedingungen an eine von Dragneas
Familie kontrollierte Firma verpachtete.
Dragnea nutzte die Insel seither als priva-
tes Angelrevier für sich und seine Freun-
de. Dass der ganze Vorgang rechtswidrig
war, ist inzwischen aktenkundig. Die In-
sel Belina ist Ende 2018 wieder in Staats-
besitz zurückgekehrt – in dem offensicht-

lichen Bestreben, eine für Dragnea poten-
tiell gefährliche juristische Front zu be-
gradigen.
Die Ermittlungen gegen Plumb und
eine weitere Vertraute Dragneas, die
stellvertretende Ministerpräsidentin Se-
vil Shhaideh, führten Ende 2017 indirekt
zum Sturz der Regierung: Nachdem der
PSD-Ministerpräsident Mihai Tudose die
beiden Frauen gegen
Dragneas Willen zum
Rücktritt gezwungen
hatte, drängte der Par-
teichef den Regie-
rungschef aus dem
Amt. Dragnea selbst
durfte nicht Minister-
präsident sein, weil er
wegen Wahlmanipula-
tion schon vorbestraft
war. In der nächsten Regierung von Drag-
neas Gnaden unter der jetzigen Minister-
präsidentin Viorica Dancila wurde
Plumb dann wieder Ministerin für EU-
Mittel.
Als Dragnea und Dancila Ende vori-
gen Jahres angesichts der scharfen War-
nungen der EU-Kommission wegen ihrer
sogenannten „Justizreform“ begannen,
gegen Brüssel zu wettern, stimmte auch
Plumb in den Chor der EU-kritischen
Stimmen in der PSD ein. Seit Dragneas

Inhaftierung im Mai äußert sich die Re-
gierungschefin wieder konzilianter. So
wird die Justizreform derzeit nicht weiter
vorangetrieben. Die Forderung der EU,
die bereits in Kraft getretenen Teile wie-
der zurückzunehmen, wurde indes bisher
nicht erfüllt. Und auch die Nominierung
Plumbs ist ein Indiz dafür, dass der Kurs
der Bukarester sich nicht grundsätzlich
geändert hat.
Die Personalie Plumb ist auch deshalb
pikant, weil gleichzeitig eine weitere Ru-
mänin in Brüssel für ein hohes Amt im
Gespräch ist: Laura Codruţa Kövesi, die
frühere Leiterin der Antikorruptions-
staatsanwaltschaft DNA. Die Frau, unter
deren Führung die DNA gegen Plumb er-
mitteln wollte, will nun europäische
Staatsanwältin werden. Gegen diese Kan-
didatur ist die rumänische Regierung bis
zur Europawahl Sturm gelaufen. Eine
von der PSD-Regierung neugeschaffene
Sondereinheit der Staatsanwaltschaft
nahm Ermittlungen gegen sie auf und ver-
bot ihr die Ausreise, kurz bevor sie zu An-
hörungen vor dem EU-Parlament reisen
sollte. Erst nach heftigen Protesten aus
Brüssel wurde dieses Ausreiseverbot auf-
gehoben. Kövesis Chancen, tatsächlich
erste europäische Staatsanwältin zu wer-
den, gelten als gut.

bub.BERLIN, 12. September.Als Re-
aktion auf den tödlichen Angriff auf ei-
nen Jungen am Frankfurter Hauptbahn-
hof Ende Juli haben Bundesregierung
und Deutsche Bahn Maßnahmen für
die Verbesserung der Sicherheitslage
an Bahnhöfen vereinbart. Die Zahl der
Sicherheitskräfte von Bundespolizei
und Bahn soll aufgestockt werden, zu-
dem soll die Videoüberwachung ausge-
baut werden. Das teilten Bundesinnen-
minister Horst Seehofer, Bundesver-
kehrsminister Andreas Scheuer (beide
CSU) und Bahn-Vorstand Ronald Pofal-
la am Donnerstag mit.
Für die Bundespolizei werden 1300
zusätzliche Stellen für bahnpolizeiliche
Aufgaben geschaffen. Da das Personal
noch ausgebildet werden muss, werden
die Stellen nach und nach bis zum Jahr
2024 eingerichtet. Darüber hinaus will
Seehofer die Bundespolizei bis 2025
um weitere 11 300 Stellen verstärken.
Das neue Personal soll unter anderem
für die präventive Aufgabenwahrneh-
mung auch auf Bahnhöfen eingesetzt
werden. Auch die Deutsche Bahn versi-
cherte, mehr Sicherheitskräfte zur Be-
wachung von Bahnhöfen und Zügen
einzusetzen und dafür etwa zehn Millio-
nen Euro pro Jahr bereitzustellen. Es
soll eine mobile Unterstützungsgruppe
aufgebaut werden, hieß es in einer Mit-
teilung. Dabei handelt es sich um spe-
ziell ausgebildete Einsatzkräfte, die ent-
sprechend der jeweiligen Sicherheitsla-
ge mit technischer Unterstützung
schnell und effektiv gezielt in Bahnhö-
fen und in Zügen eingesetzt werden.
Diese Gruppen gibt es bereits in Berlin;
in Essen und München werden sie auf-
gebaut. Im kommenden Jahr ist das
auch für Frankfurt, Hamburg, Stuttgart
und Leipzig vorgesehen.
Verkehrsminister Scheuer kündigte
an, in den kommenden Jahren 50 Mil-
lionen Euro in Videotechnik sowie 250
Millionen Euro in modernen Digital-
funk zu investieren. Damit soll die Vi-
deoüberwachung auch mittels biometri-
scher Gesichtserkennung an Bahnhö-
fen vorangetrieben werden. Bereits
jetzt stehen bei der Bundespolizei für
den Ausbau der Videoüberwachung bis
zum Jahr 2023 Mittel in Höhe von
mehr als 70 Millionen Euro bereit. Die
Bahn will 12,5 Millionen Euro investie-
ren. Geplant ist es, bis Ende 2024 nahe-
zu alle großen Bahnhöfe mit moderner
Videotechnik auszustatten.

LONDON, 12. September


K


ein Brexit-Szenario ist so umstrit-
ten wie der No-Deal-Exit. Wäh-
rend Austrittsgegner einen ungere-
gelten Austritt als „katastrophal“ für das
Vereinigte Königreich bezeichnen, man-
che sogar als „nationalen Selbstmord“,
sprechen Brexiteers von „Angstmache“
und erwarten allenfalls kurzfristige „Stö-
rungen“ im Wirtschaftsleben. Eine inter-
ne Studie der Regierung, die sie nun auf
Drängen des Unterhauses veröffentlichen
musste, verortet die Auswirkungen in
etwa in der Mitte.
In dem Szenario mit dem so rätselhaf-
ten wie klangvollen Namen Operation
„Yellowhammer“ (Goldammer) widmet
sie sich nur den praktischen Auswirkun-
gen. Mögliche strukturelle Veränderun-
gen in den Handelsbeziehungen und poli-
tische Konsequenzen eines No-Deal-Bre-
xits kommen in dem nur sechs Seiten lan-
gen Dokument nicht vor. Die Autoren sa-
gen vor allem lange Staus am Kanaltunnel
voraus. Über einen Zeitraum von bis zu
drei Monaten könnten Lastwagen mehr
als zwei Tage lang auf die Abfertigung in
Frankreich warten müssen. Als Haupt-
grund wird angegeben, dass die Transport-
unternehmen die neuen Frachtdokumen-
te nicht parat haben könnten. Sollten die-
se (sich graduell reduzierenden) Verzöge-
rungen länger als sechs Monate dauern,
könne es auch zu Engpässen bei der Medi-
kamentenversorgung kommen, fürchten
die Autoren. Auch Privatreisende könn-
ten bei der Ein- und Ausreise „verstärkten
Kontrollen an EU-Grenzstellen“ ausge-
setzt sein, heißt es.
Die Grundversorgung mit Energie und
Wasser sieht die Studie nicht gefährdet.
Allerdings könnte es in den Staugegenden
zu Engpässen an Tankstellen kommen. In
den Supermärkten des Landes drohe die
„Auswahl einiger frischer Lebensmittel
eingeschränkt“ zu werden. Eine „allgemei-
ne Unterversorgung mit Nahrungsmit-
teln“ sei nicht zu erwarten, wohl aber ein
Preisanstieg bei einigen Produkten, der
Bürger mit niedrigeren Einkommen über-
proportional treffen würde. Es wird ge-
warnt, dass Panikkäufe die Lage ver-
schlechtern könnten. Die Autoren vermu-
ten außerdem, dass es zu Demonstratio-

nen und Gegendemonstrationen kommen
werde, die viele Polizeikräfte binden und
die Spannungen in bestimmten Gegenden
erhöhen könnten. Sogar von möglichen
„Unruhen“ ist die Rede.
Für den Brexit-Koordinator der Labour
Party, Keir Starmer, zeigt die Studie, dass
ein ungeregelter Brexit „schwere Risiken“
beinhalte, weshalb es umso dringender
sei, das Parlament sofort einzuberufen; die
Regierung hatte es in der Nacht zum Diens-
tag für fünf Wochen schließen lassen.
Auch andere Abgeordnete verlangten,
über den Bericht zu debattieren. Das
Unterhaus hatte in der vergangenen Wo-
che gesetzlich ausgeschlossen, dass es am


  1. Oktober, dem Austrittstag, zu einem
    No-Deal-Brexit kommt. In der letzten Sit-
    zung vor der Parlamentspause hatte die
    Opposition, die mittlerweile über eine
    Mehrheit verfügt, die Regierung dann per
    Beschluss zur Veröffentlichung des „Yel-
    lowhammer“-Dokuments gezwungen. Es
    war schon Anfang August der „Sunday
    Times“ zugespielt worden, weshalb die In-
    halte bekannt waren.
    Die Regierung spielte die Relevanz der
    Studie, die noch von Theresa May in Auf-
    trag gegeben worden war, am Donnerstag
    herunter. Sie zeige nur, „was passieren
    könnte, wenn die Regierung nichts dage-
    gen tut“, sagte Verteidigungsminister Ben
    Wallace in der BBC. Er hob hervor, dass
    die Regierung Johnson die Vorbereitun-
    gen in den vergangenen Wochen intensi-
    viert habe. Viele Probleme könnten durch
    Planung vermindert werden. Als Beispiel


nannte er genauere Informationen über
die an der Grenze vorzulegenden Frachtpa-
piere. Bei der Studie handele es sich um
ein „lebendes Dokument“, das fortwäh-
rend aktualisiert werde. In Kürze wolle die
Regierung die Öffentlichkeit mit einem
neuen Bericht auf den aktuellen Stand
bringen. Premierminister Boris Johnson
bezeichnete das Dokument am Donners-
tag als „Worst-case-Szenario“, das Teil ei-
ner „vernünftigen Vorbereitung“ sein müs-
se. Er habe die Vorkehrungen „massiv be-
schleunigt“ und sichergestellt, dass das
Land „bereit“ sei, sollte es am 31. Oktober
ohne Austrittsabkommen ausscheiden
müssen.
Johnson wollte einen ungeregelten Bre-
xit immer auch als Druckmittel verstan-
den wissen, mit dessen Hilfe ein besserer
Deal mit der EU erreicht werden könne.
Seit ihm das Unterhaus das Drohinstru-
ment aus der Hand geschlagen hat, hebt er
hervor, dennoch alles zu tun, um in den
kommenden Wochen ein neues Austritts-
abkommen auszuhandeln. Die Anzeichen
mehren sich, dass er den umstrittenen
„Backstop“, in variierter Form, auf Nordir-
land begrenzen möchte. Der „Backstop“
soll garantieren, dass es nach dem Brexit
bei der „unsichtbaren“ Grenze zwischen
Nordirland und der Irischen Republik
bleibt. Offiziell hält die Regierung daran
fest, dass sie keinen „Backstop“ im Aus-
trittsvertrag akzeptieren werde. Aber das
Angebot, einen Sonderwirtschaftsraum
auf der irischen Insel einzurichten, in dem
sich Agrargüter und Nahrungsmittel an
EU-Binnenmarktstandards ausrichten,

geht in diese Richtung. Aus Sicht der EU
müssen allerdings weitere Schritte folgen
und auch andere Produkte einbezogen wer-
den. Zudem müsste Nordirland Teil der Eu-
ropäischen Zollunion bleiben.
Am Donnerstag sagte Johnson, er sehe
nun die „ungefähre Gegend einer Lande-
zone“ für einen Deal vor sich. „Es wird
schwer, aber ich denke, wir können das er-
reichen.“ In Brüssel klang das deutlich vor-
sichtiger. Dort teilte Verhandlungsführer
Michel Barnier nur mit, dass die EU wei-
terhin „bereit ist, konkrete und rechtlich
durchführbare Vorschläge des Vereinigten
Königreichs objektiv zu prüfen“.
Um einen modifizierten Deal durchs
Unterhaus zu bringen, ist Johnson auf
Stimmen aus der Opposition angewiesen.
Nicht von ungefähr dürfte daher sein Vor-
stoß gekommen sein, jenen Abgeordne-
ten, die er in der vergangenen Woche aus
der Fraktion geworfen hatte, die Hand aus-
zustrecken. Am Donnerstag ließ er Briefe
an die ehemaligen Kollegen verschicken,
in denen ihnen – offenbar unterschiedli-
che – Angebote für eine Rückkehr unter-
breitet wurden. Zu den Bedingungen soll
die Verpflichtung gehören, nicht noch ein-
mal in einer Vertrauensabstimmung ge-
gen die Regierung zu stimmen und ein
neues Abkommen mit der EU zu unter-
stützen. Laut „Daily Telegraph“ hat John-
son in Gesprächen mit Suspendierten ge-
sagt, dass er darauf vorbereitet sei, dem-
nächst von den Erz-Brexiteers in seiner
Fraktion und den Abgeordneten der nord-
irischen DUP „Messer in den Rücken“ ge-
stochen zu bekommen.

reb.DÜSSELDORF, 12. September.
Fahrer älterer Dieselfahrzeuge in Köln
müssen nach einem Urteil des Oberver-
waltungsgerichts (OVG) Nordrhein-
Westfalen in wenigen Monaten mit stre-
ckenbezogenen Fahrverboten rechnen.
Das Gericht entschied am Donnerstag,
dass der aktuelle Luftreinhalteplan für
die größte Stadt in Nordrhein-Westfa-
len rechtswidrig ist, weil er die Möglich-
keit von Fahrverboten bisher nicht vor-
sieht. Bemängelt wurde dies für Stra-
ßen, an denen der Messwert für Stick-
stoffdioxid besonders stark von dem
seit 2010 gültigen Grenzwert von 40 Mi-
krogramm pro Kubikmeter Luft ab-
weicht. Das OVG bestätigte damit im
Grundsatz ein Urteil, das die Deutsche
Umwelthilfe vor dem Verwaltungsge-
richt Köln erstritten hatte.
Anders als das vorinstanzliche Ge-
richt hält das OVG jedoch eine Fahrver-
botszone nicht für zwingend erforder-
lich. Vielmehr könnten bloße strecken-
bezogene Verbote am Neumarkt, am
Clevischen Ring sowie in der Justinian-
straße und der Luxemburger Straße „un-
ter Umständen“ genügen. Nach den bis-
herigen Prognosen werde sich dort der
Stickstoffdioxid-Grenzwert im Jahr
2020 nur mit Fahrverboten für Diesel-
fahrzeuge der Abgasnorm Euro 5/V und
älter einhalten lassen. Für die übrigen
in Frage stehenden Straßen „erscheint
es nach derzeitigem Sachstand“ und mit
Blick auf die im laufenden Jahr ermittel-
ten Messwerte „nicht zwingend gebo-
ten, auch dort Fahrverbote anzuord-
nen“. Die Bezirksregierung müsse den
Plan deshalb nun nach den in dem Ur-
teil festgelegten Kriterien ohne schuld-
haftes Verzögern fortschreiben. Dies
dauere erfahrungsgemäß mehrere Mo-
nate, so das Gericht.
Bei der Fortschreibung hat die Be-
zirksregierung allerdings durchaus Ge-
staltungsspielraum. Wie schon in sei-
nem Grundsatzurteil zum Luftreinhal-
teplan für die Stadt Aachen von Ende
Juli stellte das OVG auch am Donners-
tag noch einmal ausdrücklich fest, dass
Fahrverbote „unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalls verhält-
nismäßig sein“ müssen. Bei streckenbe-
zogenen Fahrverboten gelte es auch,
den dadurch verursachten Ausweich-
verkehr und dessen Auswirkungen ge-
nauer zu untersuchen. „Sollten durch
den Ausweichverkehr Grenzwerte in
anderen Straßen überschritten werden,
kann dies Fahrverbote für weitere Stra-
ßen erforderlich machen.“ Prüfen müs-
se die Bezirksregierung Köln zudem,
ob für Fahrzeuge etwa von Handwer-
kern oder Anwohnern Ausnahmen er-
teilt werden könnten. Falle der Mess-
wert an einer der betroffenen Stellen
günstiger aus als prognostiziert, könne
dort „aus Gründen der Verhältnismä-
ßigkeit auch von einem Fahrverbot ab-
gesehen werden“. (Aktenzeichen 8A
4775/18)

sat. WASHINGTON, 12. September.
Der amerikanische Präsident Donald
Trump hat im Konflikt über seine Mi-
grationspolitik einen weiteren Etappen-
sieg errungen. Der Oberste Gerichts-
hof genehmigte vorläufig die Verschär-
fung des Asylrechts auf dem Verord-
nungsweg. Konkret hoben die Richter
am Mittwoch eine Entscheidung eines
Bundesrichters aus Kalifornien auf, der
die Anwendung der Verordnung zuvor
blockiert hatte. Der Beschluss des
Obersten Gerichtshofs sieht vor, dass
die Regelung schon greifen kann, bevor
die Verfassungsrichter in Washington
in der Sache über die grundsätzliche
Änderung des Asylrechts geurteilt ha-
ben. Das kann dem Vernehmen nach
Monate dauern.
Die Trump-Regierung hatte im Juli
erlassen, dass Migranten, die nach der
Ausreise aus ihrem Heimatland ein an-
deres Land betreten haben, nur noch
dann in den Vereinigten Staaten Asyl
beantragen dürfen, wenn ihnen in dem
Drittstaat der Flüchtlingsstatus ver-
wehrt wurde. Die Bürgerrechtsorgani-
sation American Civil Liberties Union
klagte gegen die Verordnung. Sie woll-
te geltend machen, dass die Regierung
die Verordnung im Eilverfahren erlas-
sen und keine Anhörungen gewährt
habe. Washington hatte im Sommer
Mexiko und Guatemala massiv unter
Druck gesetzt, die Drittstaatregelung
anzunehmen. Zwischenzeitlich hatte
Trump sogar mit Strafzöllen gedroht.
Mit Guatemala wurde letztlich eine
Vereinbarung getroffen. Das Verfas-
sungsgericht des Landes hält das ge-
troffene Abkommen aber noch nicht
für ausreichend legitimiert. Mexiko
sagte bislang nur zu, eine grundlegen-
de Vereinbarung mit Washington zu
treffen, falls die Schritte der mexikani-
schen Regierung, die die Grenzen im
Norden und Süden des Landes militä-
risch stärker sichern sollen, nicht aus-
reichten.
Washington will durch die Drittstaat-
regelung erreichen, dass Migranten
aus El Salvador und Honduras von
Guatemala aufgenommen werden und
Migranten aus Guatemala von Mexiko.
In den vergangenen zwölf Monaten
hat der amerikanische Grenzschutz
420 000 Personen aus zentralamerika-
nischen Ländern wegen illegalen
Grenzübertritts festgenommen. Hei-
matschutzminister Kevin McAleenan
hat aber zuletzt darauf verwiesen, dass
aufgrund verschärfter Maßnahmen,
vor allem seitens der mexikanischen
Nationalgarde, die Zahl der pro Monat
in Amerika in Gewahrsam genomme-
nen Migranten um dreißig Prozent zu-
rückgegangen sei.
Trump lobte den Beschluss der Ver-
fassungsrichter und sprach von einem
„großen Sieg für die Grenze“. Das Wei-
ße Haus teilte mit, die Gerichtsent-
scheidung werde der Regierung sehr da-
bei helfen, auf den bisher erzielten
Fortschritten im Umgang mit der Krise
an der Südgrenze aufzubauen.
Die Verfassungsrichterinnen Sonia
Sotomayor und Ruth Bader Ginsburg
hatten abweichende Meinungen zu der
neuen Vorschrift vertreten. Diese ver-
wehre „fast allen Zentralamerika-
nern“, in den Vereinigten Staaten Asyl
zu beantragen, schrieb Sotomayor.
Eine derart weitreichende Änderung
des Asylrechts müsse ein öffentliches
Verfahren erhalten. Die Mehrheit der
Richter gab indes der Regierung recht,
die auf ihre außenpolitische Prärogati-
ve und den enormen Anstieg der Mi-
grantenzahlen verwies. Aufgrund der
Blockade von Republikanern und De-
mokraten im Kongress hatte Trump
den Verordnungsweg gewählt.
Die Trump-Regierung hatte sich zu-
vor schon in einer anderen die Migra-
tionskrise betreffenden Entscheidung
durchgesetzt. Die Verfassungsrichter
hatten der Regierung Ende Juli vorläu-
fig das Recht erteilt, vom Kongress für
andere Zwecke bestimmte Gelder aus
dem Verteidigungsetat für den Bau ei-
nes Grenzzauns zu verwenden, bis sie
in der Sache über den institutionellen
Konflikt entschieden haben. Konkret
ging es um 2,5 Milliarden Dollar. An-
ders als im Juli, als im Obersten Ge-
richtshof die vier von demokratischen
Präsidenten nominierten Verfassungs-
richter gegen den Beschluss stimmten,
gab es diesmal nur zwei abweichende
Meinungen.


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in Bahnhöfen


Johnsons Sprung ins Ungewisse

Köln drohen


streckenbezogene


Diesel-Fahrverbote


Eine Insel für den Genossen


Warum Rumäniens Kommissions-Kandidatin Rovana Plumb so umstritten ist / Von Reinhard Veser


Rovana Plumb


„Sieg für die


Grenze“


Weiterer Erfolg für Trump


in der Migrationspolitik


Die britische Regierung


legt eine Studie vor, die


mögliche Folgen eines


No-Deal-Brexits zeigt.


Der Premierminister


wiegelt ab und sucht


verstärkt nach einer


Einigung mit der EU.


Von Jochen Buchsteiner


Gibt es genügend frische Lebensmittel?Johnson mit Schulkindern während der London International Shipping Week Foto dpa

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