Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.09.2019

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SEITE 4·FREITAG, 13. SEPTEMBER 2019·NR. 213 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Schwester Katharina, zur Vorbereitung
des „Synodalen Wegs“, den die Bischofs-
konferenz ausgerufen hat, musste auf
Druck des Zentralkomitees der deut-
schen Katholiken ein viertes vorbereiten-
des Forum anberaumt werden. Thema:
Frauen in Diensten und Ämtern der Kir-
che. Was sollte diese Aktion?


Wir kennen das Spiel seit Jahrzehnten.
Immer heißt es, die Frauenfrage sei ein
Querschnittsthema. So sollte es auch dies-
mal sein. Damit ist die Bischofskonferenz
nicht mehr durchgekommen. Das Quer-
schnittsargument ist zwar nicht falsch,
aber das eigentliche Problem wird damit
ausgeklammert.


Welches?


Ich sage es mal in meinem franziskani-
schen Wortschatz: Wie kommen wir zu ei-
ner geschwisterlichen Kirche, in der Män-
ner und Frauen auf Augenhöhe Verant-
wortung wahrnehmen, den Anbruch des
Reiches Gottes verkünden und dieses in
der Nachfolge Jesu erfahrbar werden las-
sen?


Wer oder was hindert Frauen daran, in
diesem Sinn zu leben und zu wirken?


Kommunikation in der katholischen
Kirche geschieht asymmetrisch von oben
nach unten. Und die Deutungshoheit
über das, was Kirche ist, haben ausschließ-
lich geweihte Männer. Also müssen Frau-
en die Machtfrage stellen.


Bis heute wird die Verbindung von
Macht und dem an das Y-Geschlechts-
chromosom gebundenen Weiheamt als
unauflöslich dargestellt. Warum neh-


men Sie einem Papst wie Johannes Paul
II. diese Argumentation nicht ab?
Warum soll die geschlechtliche Männ-
lichkeit eine notwendige Bedingung sein,
um den Mann Christus zu repräsentieren,
wenn umgekehrt die Kirche die Braut des
Bräutigams Christi sein soll? Dann dürfte
die Kirche doch nur aus Frauen bestehen.
Wer meint, aus symbolischer Sprache
Machtverhältnisse ableiten zu können, ist
nicht gut beraten.

Papst Franziskus hat zu Beginn seines
Pontifikats davon gesprochen, dass vie-
les nicht mehr von Rom, sondern dezen-
tral entschieden werden sollte. Für die
Frauenordination gilt das wohl nicht.
Kein Papst hat den Ausschluss von
Frauen bisher als Dogma, also als unver-
änderlichen Teil des Glaubensgutes, defi-
niert. Ein Votum eines Konzils oder einer
Bischofssynode darüber gibt es nicht.
Und die Behauptung, es bestehe im Bi-
schofskollegium der Welt ein Konsens in
dieser Frage, wäre in dem Moment wider-
legt, in dem eine Gruppe von Bischöfen,
etwa eine Mehrheit der Mitglieder der
Deutschen Bischofskonferenz, sagte, dass
es gute theologische Gründe dafür gibt,
die Frauenordination nicht für ausge-
schlossen zu halten.

Befürwortern der Frauenordination
wird vorgehalten, sie sähen nicht die
„Zeichen der Zeit“, sondern seien dem
westlichen Zeitgeist verfallen. Verfängt
dieser Vorwurf in Ihren Kreisen?
Das Thema ist längst ein weltweites.
Im Juni fand hier in Würzburg das alle

sechs Jahre tagende Generalkapitel mei-
ner Gemeinschaft statt. Wir hatten sehr
spannende Auseinandersetzungen, es fie-
len Worte wie „männerbündisch“ oder
„männerdominiert“. Am meisten über-
rascht haben mich die Schwestern aus
Südafrika. Die sagten, sie könnten das Po-
sitionspapier der Gemeinschaft kaum er-
warten, weil sie die patriarchale Bevor-
mundung täglich erlebten und mit der
ganzen Gemeinschaft im Rücken stärker
in Kirche und Gesellschaft hineinwirken
könnten.

Das Aufbegehren von Ordensfrauen ge-
gen eine patriarchal-männerbündisch

verfasste Kirche hätte gesellschaftliche
Bedeutung?
Wenn die katholische Kirche feststell-
te, Männer und Frauen hätten nicht nur
die gleiche Würde, sondern auch die glei-
chen Rechte – wäre das bei mehr als einer
Milliarde Katholiken auf der Welt nicht
ein unüberhörbares Signal für eine gerech-
tere, partnerschaftliche Welt?

Als der Papst 2016 eine Kommission ein-
setzte, die sich mit der Geschichte des
Frauendiakonats in der Kirche der ers-
ten Jahrhunderte beschäftigen sollte, tat
er dies auf Veranlassung von Ordensfrau-
en. Ist der Druck auch in Rom schon so
groß, dass man der Frage nach Diensten
und Ämtern von Frauen nicht mehr aus-
weichen kann?
Ja. Aber anders als von interessierter
Seite gerne dargestellt, ging der Vorstoß
nicht von deutschen Feministinnen aus,
sondern von Ordensoberinnen aus Latein-
amerika. Diese Schwestern berichteten
von ihren Erfahrungen in der „Macho-Kir-
che“. Deswegen haben sie dieses Thema
aufgebracht.

Im Blick auf den „Synodalen Weg“ hat
der aus einer Macho-Kirche stammende
Papst Franziskus schon vor Wochen
durchblicken lassen, dass er negative
Auswirkungen auf „die Weltkirche“ be-
fürchtet. Der Kölner Kardinal Woelki be-
schwört unterdessen die Gefahr einer
Kirchenspaltung herauf. Sie wirken sehr
entspannt. Warum?
Der Verweis auf „Weltkirche“ dient in
der Regel als Argument, um alle Diskus-
sionen im Keim zu ersticken. Aber er

kann auch sehr motivierend sein: Wer
sollte etwas dagegen haben können,
wenn die katholische Kirche in Deutsch-
land stellvertretend für die Weltkirche
mit Hilfe der akademischen Theologie
das Für und Wider von Ämtern und Diens-
ten von Frauen in der Kirche erörtert?

Nach ihrer Zusammenkunft im Dezem-
ber in Rom haben die Ordensoberinnen
einen Aufruf publiziert: Alle Ordensfrau-
en, die im Raum der Kirche Gewalt er-
fahren haben, sollten sich ihrer Oberin
anvertrauen oder sich an staatliche und
kirchliche Autoritäten wenden. Könnte
das Aufbegehren gegen „geistliche“ und
reale Macht der Männer auch mit der
Enttabuisierung von Gewalterfahrungen
von Frauen im Raum der Kirche zusam-
menhängen?
Die Weihe hat Männern eine Macht ge-
geben, von der wir bestenfalls ahnen, wie
viel Missbrauch mit ihr allein im Rahmen
der Beichte oder der Seelsorge getrieben
wurde – nicht zuletzt in Frauenklöstern.
Es sind aber nicht nur Männer, die im
Raum der Kirche Gewalt ausgeübt haben
oder ausüben. Auch Frauengemeinschaf-
ten haben in der Vergangenheit Schuld
auf sich geladen, gerade in der Heimerzie-
hung. Was wohl den Unterschied aus-
macht, sind das Ausmaß und die Intensi-
tät sexualisierter Gewalt.

Papst Franziskus hat Ihnen stellvertre-
tend für alle Ordensoberinnen während
einer Audienz im Mai geraten, sie könn-
ten sich eine „andere Kirche“ machen,
wenn Sie mit den Zulassungsbedingun-
gen zum Weiheamt nicht einverstanden
seien. Was werden Sie jetzt tun?

Die Frage ist, wer auf eine „andere Kir-
che“ hinarbeitet. In zahlreichen Ländern
wirken sich die gegenwärtigen Zulas-
sungsbedingungen so aus, dass es kaum
noch junge Priester gibt. Das verändert
die Kirche vielleicht viel grundlegender
als manches, was Frauen denken und wol-
len. Es können einfach keine Sakramente
mehr gespendet werden. Die Kirche mar-
ginalisiert sich selbst.

Der Papst könnte es von heute auf mor-
gen den Priestern erlauben, zu heiraten.
Wäre damit nicht schon viel gewonnen?
Wie viel damit gewonnen wäre, müsste
man abwarten. Im afrikanischen Kontext
etwa gäbe es, wie mir die Bischöfe sagen,
dann ein neues Problem: die Vielehe. Ich
kenne Bischöfe in Afrika, die würden
wohl eher das Priesteramt für Ordensfrau-
en öffnen wollen, als den Zölibat aufzuhe-
ben. Öffentlich hat das aber noch nie-
mand gesagt.

Ist mehr Geschlechtergerechtigkeit die
Lösung?
Die Frage nach Geschlechtergerechtig-
keit ist für mich eine Frage nach der Viel-
falt in der Kirche und damit auch nach an-
deren Formen der Ausübung und auch
der Kontrolle von Macht. Das heißt aber
nicht, dass mit Frauen automatisch alles
besser wird. Und auch nicht, dass es im-
mer mehr Ämter geben muss, erst recht
nicht etwas Eigenes für Frauen, etwa eine
Art Diakonat light. Vielleicht sollte man
eher über eine Reduktion von Ämtern
und die Entkoppelung von Macht und
Amt nachdenken.
Die Fragen stellteDaniel Deckers.

Katharina
Ganzwurde
2013 erstmals
an die Spitze
der – noch –
143 Schwestern
zählenden
„Kongregation
der Dienerin-
nen der heili-
gen Kindheit Jesu“ gewählt. 117
von ihnen leben in Deutschland,
19 in Südafrika, sieben in Ameri-
ka. Die Sozialpädagogin und pro-
movierte Theologin berät die Pas-
toralkommission der Deutschen
Bischofskonferenz. (D.D.)

Frankfurter Zeitung
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Foto privat


STUTTGART, 12. September


W


er sich das sonnige und vom
Trumpismus weitgehend ver-
schonte Kalifornien zum Vorbild
nimmt, macht wenig falsch. So war es am
Donnerstag, als der baden-württembergi-
sche Ministerpräsident Winfried Kretsch-
mann (Grüne) einem wenig überraschten
Publikum erklärte, seine Partei 2021 in die
Landtagswahl führen zu wollen und das
Land bis 2026 zu regieren. Kretschmann
wäre dann 78 Jahre alt. Sein politischer
Freund Jerry Brown, der ehemalige, demo-
kratische Gouverneur Kaliforniens, war
80 Jahre alt, als er sich aus der Politik zu-
rückzog. „Vom physiologischen Alter bin
ich abgekommen, nachdem ich den kalifor-
nischen Gouverneur Brown getroffen
habe. Und in der Politik geht es nicht um
ontologische Fragen, sondern um politi-
sche“, sagte Kretschmann. Dass man im
hohen Alter nicht kraftvoll regieren kön-
ne, sei empirisch nicht haltbar. Wichtig sei
die Frage, ob man noch neugierig sei.
Nach ausgiebigen Beratungen mit Fami-
lie, Freunden und politischen Weggefähr-
ten, so der grüne Ministerpräsident, sei er
zur Auffassung gelangt, dass er noch ein-
mal Spitzenkandidat und zum dritten Mal
Regierungschef einer Landesregierung
werden wolle. Die inhaltliche und politi-
sche Begründung schickte Kretschmann
hinterher – auch sie war wenig überra-
schend: „Wir leben in dramatischen Zei-
ten, da ist vor allem der Klimawandel in
der Natur und in der Politik.“ Hinzu kom-
me der Transformationsprozess in der
Wirtschaft, der ohne Zumutungen nicht zu
schaffen sei. Auch programmatisch will
sich Kretschmann an Brown orientieren
und mit einer Mischung aus Anti-Populis-
mus und Klimaschutz bestehen.
Durch Kretschmanns Ausführungen am
Donnerstag wurde deutlich, dass es in sei-
nem familiären Umfeld offenbar durchaus
Stimmen gab, die zum Ruhestand geraten
haben. Aber weil die Chance auf einen län-


gerfristigen grünen Erfolg in Baden-Würt-
temberg selten so gut war wie derzeit,
schlug Kretschmann diese Ratschläge in
den Wind. „Narrative mit unserem Kern-
profil werden bestätigt durch die Tatsa-
chen.“ Soll heißen: Der Klimawandel oder
die Verkehrswende machen die Grünen
zur Zukunftspartei schlechthin. Aus seiner
Partei habe er ohnehin nur den Wunsch
vernommen, weiterzumachen, was nicht
verwunderlich ist, denn nur Kretschmann
garantiert den Grünen Macht, Einfluss
und Mandate.
Wer jedoch die Personallage bei den ba-
den-württembergischen Grünen und die
Lage in der Koalition betrachtet, der wird
auch schnell zum Ergebnis kommen, dass
es für Kretschmann nicht einfach gewesen
wäre, sich in den Ruhestand nach Sigma-
ringen-Laiz zurückzuziehen: Der letzte
Nachfolgekandidat kam dem Ministerprä-

sidenten in Cem Özdemir am vergangenen
Wochenende abhanden. Sollte Özdemir es
jetzt nicht schaffen, in Berlin zum Vorsit-
zenden der grünen Bundestagsfraktion ge-
wählt zu werden, wird es ausgesprochen
schwierig, ihn als Nachfolger aufzubauen.
Weil die grünen Kabinettsmitglieder als
künftige Regierungschefs nicht in Frage
kommen, bleibt Kretschmann zur Rege-
lung seiner Nachfolge nur die Möglichkeit,
den Fraktionsvorsitzenden Andreas
Schwarz künftig stärker zu fördern. Der ist
gerade 40 Jahre alt geworden.
Die Frage, wer in seiner Partei denn fä-
hig und in der Lage sei, das Ministerpräsi-
dentenamt auszufüllen, wollte Kretsch-
mann am Donnerstag nicht beantworten:
„Jetzt werde ich doch nicht die Diskussion
eröffnen, wer es statt meiner sein könnte.“
Kretschmann sieht sich heute in einer Liga
mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten

Erwin Teufel (CDU). Als der in der vergan-
genen Woche seinen 80. Geburtstag feier-
te und Kretschmann die Festrede hielt, kor-
rigierte er die gängige Behauptung, er sei
ein „Erwin Teufel in Grün“, nur geringfü-
gig. Sie würden nach dem Prinzip „Erst
das Land, dann die Partei, dann die Per-
son“ ein ähnliches Amtsverständnis teilen.
Außerdem verbänden ihn mit Teufel die
Heimatliebe und ähnliche Vorstellungen
von Subsidiarität und Föderalismus.
In jedem Fall kommen auf Kretschmann
schwierige Jahre zu: Die grün-schwarze
Koalition hält nur zusammen, weil üppige
Steuereinnahmen es möglich machen, die
Wünsche beider Regierungsparteien groß-
zügig zu realisieren. Dem Automobilland
Baden-Württemberg droht jedoch eine
Wirtschaftskrise. Die CDU wird sich auch
nach Kretschmanns Ausführungen zum
Thema Neugier im Alter nicht davon abhal-
ten lassen, die angeblich geringe Leistungs-
kraft des Ministerpräsidenten weiter zu
thematisieren. Koalitionsmitglieder der
CDU berichten schon jetzt, dass Kretsch-
mann die Einzelpläne des Landeshaus-
halts nicht detailliert kenne und er Sit-
zungen des Koalitionsausschusses gern
vor 23 Uhr beende, weil sein Schlafbe-
dürfnis mittlerweile größer sei.
Die CDU-Spitzenkandidatin Susanne
Eisenmann sagte zu Kretschmanns Ent-
scheidung, sie freue sich auf einen „fairen
und harten Wettbewerb“. Vor wenigen Ta-
gen hatte sie sich in einem Interview für
eine Begrenzung der Amtszeit für Minister-
präsidenten auf zehn Jahre ausgespro-
chen. Manuel Hagel, der CDU-Generalse-
kretär, warf den Grünen vor, sie wollten
„Kretschmann offenbar im Amt zu seinem
eigenen Denkmal erstarren“ lassen, was
der Betroffene am Donnerstag sichtlich
verärgert kommentierte: „Das ist alles
Blödsinn. Wir sollten am Montag wieder
gemeinsam an die Arbeit gehen.“
Dazu wird es wohl nicht kommen, denn
in Eisenmann sitzt auch eine selbstbewuss-
te Spitzenkandidatin mit am Kabinetts-
tisch. Die grün-schwarze Regierung hat
ihre Projekte größtenteils abgearbeitet, für
den Wahlkampf ist es eigentlich noch zu
früh. Offiziell werden die Grünen Kretsch-
mann erst Ende 2020 zum Spitzenkandida-
ten wählen. In der Stuttgarter Innenstadt
interviewte ein ARD-Team am Donners-
tagmittag die Bürger zur Entscheidung
Kretschmanns. „Den Kretschmann mag
ich nicht so, der ist bei der CDU, und der
hat auch mal was falsch gemacht“, sagte
der 18 Jahre alte Abiturient Enes ins Mi-
krofon der Reporter. Sein Freund Faruk,
ein Informatikstudent, sah es anders: „Er
ist sympathisch. Außerdem wollen die Grü-
nen Cannabis legalisieren.“ So groß ist der
Unterschied zwischen wirklicher und poli-
tischer Welt manchmal.

Im Gespräch: Schwester Katharina Ganz, Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen, über die Forderung nach Gleichberechtigung in der katholischen Kirche


„Frauen müssen die Machtfrage stellen“

Katharina Ganz


Zur Person


BERLIN,12. September. Mit dem Pro-
gramm zur Förderung des wissenschaft-
lichen Nachwuchses wollen Bund und
Länder jungen Nachwuchswissenschaft-
lern früher als bisher die Aussicht auf
eine Lebenszeitprofessur geben. Am
Donnerstag haben sie in Berlin die 532
neuen Nachwuchsprofessuren an 52
Hochschulen bekanntgegeben. Von Te-
nure-Track-Stellen ist die Rede, ein Be-
griff, der aus dem Amerikanischen
stammt. Damit werden jetzt insgesamt
1000 solcher Professuren in einem För-
derzeitraum von 2017 bis 2032 mit einer
Gesamtlaufzeit von 13 Jahren pro Uni-
versität gefördert. Alle Universitäten,
aber auch Kunstakademienund Pädago-
gische Hochschulen konnten sich darauf
bewerben. In der ersten Bewilligungsrun-
de 2017 wurden bereits 468 Tenure-
Track-Professuren vergeben.
Die Förderung selbst wird über einen
Projektträger des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung (BMBF) ab-
gewickelt, der von den in der ersten
Runde bereits geförderten Universitä-
ten auch heftig kritisiert wird. Das
BMBF beschäftigt für die unterschiedli-
chen Förderformate verschiedene Pro-
jektträger. Von den zu Fördernden wer-
den diese als sehr unterschiedlich ko-
operativ wahrgenommen.
„Ich freue mich sehr, dass wir heute
die geförderten Tenure-Track-Professu-
ren der zweiten Bewilligungsrunde be-
kanntgeben können“, sagte der Vorsit-
zende der Gemeinsamen Wissenschafts-
konferenz, Konrad Wolf. Er ist Minister
für Wissenschaft, Weiterbildung und Kul-
tur des Landes Rheinland-Pfalz. Mit dem
Programm zur Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses hätten Bund
und Länder die Karrieremöglichkeiten
des hochqualifizierten wissenschaftli-
chen Nachwuchses entscheidend verbes-
sert. Die damit neu geschaffenen Te-
nure-Track-Professuren würden Genera-
tionen junger Wissenschaftler dauerhaft
zur Verfügung stehen. „Darüber hinaus
wird ein Kultur- und Strukturwandel in
den Hochschulen eingeleitet: Die Förde-
rung hat eine ganz neue Dynamik in das
Tenure-Track-System in Deutschland ge-
bracht“, so Wolf. Mit dem Tenure-Track-
Programm stellten sich Bund und Län-
der dem weltweiten Wettbewerb um die
klügsten jungen Köpfe. Für viele junge
Wissenschaftler soll damit der Weg zur
Lebenszeitprofessur besser planbar und
transparenter werden.

„Ich freue mich, dass die Universitä-
ten das Tenure-Track-Programm so gut
angenommen und auch in der zweiten
Auswahlrunde wieder qualitativ hoch-
wertige Konzepte vorgelegt haben. Den
Erfolg der ersten Runde können wir nun
fortsetzen“, sagte Bundesbildungsminis-
terin Anja Karliczek (CDU) in Berlin.
Durch die Förderung der zusätzlichen
Professuren wollen Bund und Länder
die Tenure-Track-Professur als eigen-
ständigen Karriereweg neben dem her-
kömmlichen Berufungsverfahren auf
eine Professur dauerhaft und breit an
deutschen Universitäten etablieren. Es
wird aber auch weiter die Habilitation
als Qualifikation für die unbefristete
Professur geben. In einigen Fächern,
etwa Natur- und Technikwissenschaf-
ten, spielt sie allerdings eine deutlich ge-
ringere Rolle.
Die Universitäten mussten im Rah-
men der Antragstellung Gesamtkonzep-
te vorlegen – mit systematischen Überle-
gungen zur Weiterentwicklung der Per-
sonalstruktur und der Karrierewege für
Nachwuchswissenschaftler. Der Bund
stellt hierfür bis zu eine Milliarde Euro
bereit, die Sitzländer der geförderten
Hochschulen stellen die Gesamtfinan-
zierung sicher. Die Länder verpflichten
sich dazu, dass der mit dem Programm
erreichte Umfang an Tenure-Track-Pro-
fessuren auch nach dem Ende des Pro-
gramms erhalten bleibt. Zugleich haben
die Länder zugesagt, die Zahl der unbe-
fristet beschäftigten Professoren an ih-
ren antragsberechtigten Universitäten
dauerhaft um 1000 zu erhöhen.
Zu den in der zweiten Runde erfolgrei-
chen Universitäten gehören die TH Aa-
chen, die Filmhochschule Babelsberg,
die Universität Bamberg, die drei Berli-
ner Universitäten sowie die Charité, die
Universitäten in Bonn, Bochum, Bre-
men, Chemnitz, Darmstadt, Duisburg-
Essen, Erfurt, Flensburg und Freiburg
sowie die Pädagogischen Hochschulen
in Freiburg, Karlsruhe, Ludwigsburg
und Schwäbisch Gmünd, die Universitä-
ten in Kiel, Konstanz, Leipzig, Mainz,
Marburg, Siegen, Stuttgart, Tübingen,
die Universität München und die Akade-
mie der Bildenden Künste München.
Die Freie Universität in Berlin strebt
langfristig an, etwa ein Viertel der jähr-
lich ausgeschriebenen Professuren nach
dem Tenure-Track-Verfahren zu beset-
zen und dabei insbesondere den Anteil
von Frauen auf Universitätsprofessuren
„Vom physiologischen Alter abgekommen“:Winfried Kretschmann Foto dpa zu steigern.

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MehrPlanbarkeit für die


klügsten jungen Köpfe


532 neue Nachwuchsprofessuren / Von Heike Schmoll


Der Herbst des grünen Patriarchen

Winfried Kretschmann


will die Grünen 2021 in


den Wahlkampf führen.


Dann ist er 72 Jahre alt.


Das hat viel damit zu


tun, dass es der Partei


an Führungspersonal


mangelt.


Von Rüdiger Soldt

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