Kein ungefährlicher Zeitvertreib, dem die-
se Ausflügler vergangenes Jahr vor Hawaii
nachgingen: Vom Boot aus beobachteten
sie aus nächster Nähe den Ausbruch des
Kīlauea, eines der aktivsten Vulkane der
Welt. Bei der jüngsten Eruption von Juni
bis August 2018 schleuderte er bis zu 100
Kubikmeter Lava pro Sekunde in den Pazi-
fik, insgesamt viele Millionen Tonnen. Wie
nun eine Analyse im FachmagazinScience
ergab, hatte der Lavastrom für die Ökosys-
teme auch sein Gutes. Die im geschmolze-
nen Gestein gebundenen Nährstoffe hät-
ten zu einer sprunghaften Algenblüte vor
Hawaii geführt, berichtet ein Team um Sa-
muel Wilson von der Universität Hawaii.
Vor allem Kieselalgen und Cyanobakterien
wuchsen rasant, ein grüner Teppich breite-
te sich binnen Tagen im Meer aus. Bei der
Analyse der Wasserzusammensetzung stie-
ßen die Forscher auf eine Überraschung:
Neben Eisen und Phosphat entdeckten sie
auch große Mengen Nitrate, die allerdings
im Vulkangestein selbst kaum vorkom-
men. Diese Stickstoffverbindungen be-
günstigten das Algenwachstum wohl be-
sonders. Doch woher stammen sie? Die
Wissenschaftler haben den Verdacht, dass
ihr Ursprung am Meeresgrund liegt. Ver-
mutlich sank das glühende Gestein in die
Tiefe ab und erhitzte dort nitrathaltige
Wasserschichten. Die Nährstoffe stiegen
auf und ließen die Algen wuchern. cvei
Dünger aus
dem Vulkan
von susanne donner
E
s dauert immer ein paar Wochen, bis
sich neue Bewohner von Senioren-
wohnheimen daran gewöhnt haben,
dass anderen im Haus der Lebenswille ab-
handengekommen ist. Beim ersten Mal
bleibt noch das Essen auf dem Teller lie-
gen, doch irgendwann gehören die Suizide
zum Alltag. In diesem Stadium sagen sie
dann vielleicht trocken und traurig: „Jetzt
ist wieder ein Zimmer frei.“
„Der Sprung aus dem Fenster“, sagt
Reinhard Lindner, Suizidologe von der Uni-
versität Kassel, „ist oft die einzige Möglich-
keit für Menschen in einem Heim, um ihr
Leben durch eigene Hand zu beenden.“ Zu
Hause, einsam und ohne Kontrolle durch
Pflegepersonal, erhängen oder erschießen
sie sich oder sterben an einer Überdosis
Medikamenten.
Seit Jahrzehnten wissen Epidemiolo-
gen, dass Senioren über 70 Jahren beson-
ders gefährdet sind, sich das Leben zu neh-
men, besonders Männer. Mehr als doppelt
so viele verglichen mit den Jüngeren bege-
hen im Alter von 70 bis 79 Suizid. Ab 90
liegt die Rate sogar fünf bis sechs Mal so
hoch. Auch bei Frauen beobachten Statisti-
ker dieses sogenannte „ungarische Mus-
ter“. Im Alter steigt die Suizidrate. Das er-
kannten Statistiker einst erstmals an der
ungarischen Bevölkerung, daher der Na-
me.
Seit Jahren verharren die Zahlen der Fäl-
le unter Senioren hierzulande auf ver-
gleichsweise hohem Niveau. „Die psycho-
soziale Gesundheit einer ganzen Bevölke-
rungsgruppe wird vollständig vernachläs-
sigt“, sagt Lindner. Seinen Studien zufolge
sind Hochbetagte besonders suizidgefähr-
det, wenn sie mehrfach erkrankt sind. Da-
bei ist nicht die Schwere der Erkrankun-
gen entscheidend, sondern wie stark diese
als seelisch belastend empfunden werden.
Der Verlust des Ehepartners oder naher An-
gehöriger verleiht der Lebensmüdigkeit
dann oft einen zusätzlichen Schub. „Es
sind besonders einsame Männer, die ein-
zelgängerisch sind und alles selbst anpa-
cken, die sich am Ende das Leben nehmen
wollen. Sie haben mit dem Kontrollverlust
und der Abhängigkeit von Pflegenden gro-
ße Probleme“, sagt Annette Erlangsen, Epi-
demiologin am Forschungsinstitut für Sui-
zidprävention im dänischen Aarhus.
Ganz aus heiterem Himmel kommt der
Wunsch nach dem Tod im Alter allerdings
nicht, stellt Reinhard Lindner klar. 50 bis
80 Prozent der Menschen mit solchen Ge-
danken waren schon vorher in psychisch
fragiler Verfassung. Ihr Leben war durchzo-
gen von konflikthaften Beziehungen, er-
fuhr Lindner, als er 20 Personen, die sich
mit Suizidgedanken trugen, in einer geria-
trischen Einrichtung befragte. Lange wäh-
rende Sozialkontakte hatten sie tendenzi-
ell selten. Dafür zeigten die meisten unter
ihnen depressive Symptome.
„Wir kennen eine Reihe von Möglichkei-
ten, den Betroffenen Lebensmut zu ge-
ben“, sagt Lindner. Eine der wichtigsten
Studien zur Suizidprävention im Alter er-
schien schon 2002. Der italienischstämmi-
ge Psychiater Diego de Leo hatte es bei
mehr als 18000 Senioren aus Norditalien
geschafft, die Suizidrate um mehr als zwei
Drittel zu reduzieren. Während man statis-
tisch bei dieser Anzahl Menschen etwa
20 Suizide erwarten würde, geschahen
während des Studienzeitraums sechs sol-
cher Fälle. De Leos einziges Mittel: Telefon-
seelsorge. Zwei Mal die Woche wurden die
Betagten angerufen und konnten im Not-
fall rund um die Uhr eine Betreuerin spre-
chen. Besonders bei Frauen vertrieb das
sehr wirksam Suizidabsichten.
Wichtig sei, dass sich die Seelsorger bei
den Senioren melden dürfen, denn „lebens-
müde Menschen greifen nicht unbedingt
selbst zum Hörer“, sagt Lindner. Dass
aktive Fürsorge gelingen kann, zeigte sich
im Modellprojekt „Gemeindeschwestern
plus“, das im Mai abgeschlossen wurde.
Bis Ende 2018 besuchten vierzehn Schwes-
tern 3000 Hochbetagte in Rheinland-
Pfalz, um sie zu Fragen der Gesundheit
und Teilhabe zu beraten. „Wir erreichen da-
mit viele Menschen, informieren, mobili-
sieren und befähigen Senioren ganz nach
ihren Bedürfnissen, um auch weiterhin an
der Gesellschaft teilzuhaben“, sagt Frank
Weidner, Direktor vom Deutschen Institut
für Pflegeforschung. Das Institut hat das
Projekt wissenschaftlich begleitet. Die al-
lermeisten Senioren fühlten sich wohl mit
den Hausbesuchen und möchten Weidner
zufolge nicht mehr darauf verzichten.
Viele Betagte mit Suizidabsichten lei-
den unter einer Depression. „Wenn man
Pflegepersonal und Hausärzte darin
schult, depressive Symptome und auch Sui-
zidalität bei Senioren wahrzunehmen, er-
reicht man sehr viel“, sagt Lindner. Oft ist
Niedergeschlagenheit kein Thema, weil sie
von anderen Erkrankungen überschattet
wird. Zwischen 4,6 und 9,3 Prozent der
über 75-Jährigen hätten das Vollbild einer
Depression, fand die Sozialmedizinerin
Steffi Riedel-Heller von der Universität
Leipzig heraus. Die wenigsten würden
aber behandelt.
Medikamente und Psychotherapie – die
Standardbehandlung gegen Depression –
würden ihnen helfen. „Leider gibt es das
Vorurteil, dass ältere Menschen so einge-
fahren seien, dass ihnen ein Besuch beim
Psychotherapeuten nichts mehr bringe“,
so Riedel-Heller. Sie konnte jedoch anhand
von Studien an über 60-Jährigen zeigen,
dass Senioren auch auf eine Verhaltensthe-
rapie ansprechen. Sie sind danach weniger
niedergeschlagen, seltener depressiv und
zufriedener mit ihrem Leben.
Senioren geraten allerdings meist über-
haupt nur in Suizidfantasien, wenn sie
sehr einsam sind. Wenn die Ehefrau stirbt,
markiert das beispielsweise ein kritisches
Lebensereignis, das die Spirale in Gang set-
zen kann. Deshalb hat Riedel-Heller ge-
meinsam mit anderen Kollegen ein Inter-
netprogramm gegen die Trauerfalle im Al-
ter entwickelt. „TrauerActiv“ soll den Men-
schen zeigen, wie sie trotz des Verlustes
wieder Lebensmut schöpfen. Pflegeperso-
nal und Hausärzte könnten, so die Idee, die
Betroffenen auf das Programm aufmerk-
sam machen.
Sie lernen darin, kleine Aktivitäten, die
ihnen Freude machen, wie mit dem Hund
spazieren zu gehen oder bei der Familie an-
zurufen, zu pflegen. Ein Stimmungstage-
buch soll zusätzlich helfen, Gefühle be-
wusster wahrzunehmen und zu reflektie-
ren, was aufheitert oder betrübt. Das Pro-
gramm basiert auf dem Prinzip der kogniti-
ven Verhaltenstherapie. Derzeit werde die
Wirksamkeit an Senioren überprüft, sagt
Riedel-Heller. Scheu vor der Technik hät-
ten diese kaum; es sei nicht schwer, Pro-
banden zu finden.
In eine ähnliche Richtung denkt Annet-
te Erlangsen. Sie hat eine App erfunden,
die bei heftiger Todessehnsucht helfen
soll, mit ein paar Klicks das Leben wieder
in einem besseren Licht zu sehen. „Von jun-
gen Menschen wissen wir, dass Fragen wie
‚Was würde deine Familie sagen, wenn du
dich jetzt umbringst?‘ helfen, den Suizid
schließlich nicht auszuführen“, sagt Er-
langsen. Wer seinem Leben ein Ende set-
zen will, ist nämlich oft gefangen in einem
Hin und Her und regelrecht ambivalent.
An älteren Menschen hat die Dänin die App
bisher aber noch nicht getestet.
Erfreulich erscheint Erlangsen in dieser
Hinsicht ein neuer Trend aus Dänemark.
Neuerdings gäbe es immer mehr sogenann-
te Männerhütten. Betagte Senioren verab-
reden sich ein- oder zweimal in der Woche,
reparieren, bauen oder unternehmen et-
was gemeinsam. „Mein Vater geht auch in
so eine Männerhütte.“ Ein soziales Umfeld
zu haben, ist die beste Medizin gegen Le-
bensverdruss im Alter. Deshalb sind die Su-
izidraten in Pflegeheimen Studien zufolge
auch niedriger verglichen mit Gleichaltri-
gen, die zu Hause leben.
Das Mammut, der Riesenhirsch und das
Wollnashorn sind Ende der letzten Eiszeit
vor etwa 12 500 bis 10 000 Jahren ausge-
storben. In relativ kurzer Zeit verschwan-
den damals in einem gigantischen Arten-
sterben viele große Pflanzenfresser – über
die Ursachen wird bis heute gestritten. In
Europa konnten sich nur drei Arten in die
neue Epoche, das Holozän, hinüberretten:
das Wisent, der Elch und der Auerochse,
auch Ur genannt.
Ein internationales Team um Hervé Bo-
cherens vom Senckenberg Centre for Hu-
man Evolution and Palaeoenvironment an
der Universität Tübingen hat jetzt unter-
sucht, warum Elche und Wisente bis heute
überlebt haben, das Ur hingegen ausgestor-
ben ist (Global Change Biology). „Seit dem
Beginn des Holozäns vor etwa 11 700 Jah-
ren waren diese Tiere großen Umweltver-
änderungen unterworfen“, sagt Boche-
rens. Die Erwärmung des Klimas hat dazu
geführt, dass sich die Vegetation in Europa
verändert hat. Anstelle der offenen Step-
penlandschaften, in denen diese Tiere gras-
ten, entwickelten sich überall in Europa
Wälder. Die Wissenschaftler vermuteten,
dass der Auerochse ausgestorben ist, weil
er es nicht geschafft hat, seine Ernährung
umzustellen und statt der Gräser, Blätter
zu fressen. Um diese Theorie zu bestäti-
gen, bestimmten sie das Verhältnis ver-
schiedener Stickstoff- und Kohlenstoffva-
rianten im Knochen-Kollagen von 295 Fos-
silien aus 14 europäischen Ländern. Die
Atomarten, sogenannte Isotope, die die Tie-
re in Knochen, Zähne und Haare eingebaut
haben, geben nämlich Auskunft darüber,
was einst auf ihrem Speiseplan stand. Grä-
ser enthalten beispielsweise mehr „leich-
ten“ Stickstoff (N14) und mehr „schweren“
Kohlenstoff (C13) als Blätter von Bäumen.
Mithilfe dieser sogenannten Isotopen-
analyse fanden die Forscher heraus, dass
Elche und Wisente ihre Ernährung um-
gestellt haben und vor allem Blätter fra-
ßen. Die Auerochsen versuchten dagegen
offenbar weiter, sich von Gras zu ernähren.
Bocherens glaubt, dass sie deshalb schlicht
nicht mehr genug zu fressen fanden.
Daran änderte sich auch nichts, als die
Menschen begannen, Landwirtschaft zu
betreiben, die Wälder rodeten und so
wieder mehr offene Flächen schufen. „Den
Auerochsen nutzte das nichts“, sagt Boche-
rens. Die neuen Graslandschaften waren
für die Tiere unerreichbar, weil die Men-
schen sich dort aufhielten, die sie dann
auch noch jagten. Das alles zusammen
habe schließlich dazu geführt, dass Auer-
ochsen im frühen 17. Jahrhundert ausge-
storben sind.
Die drastischen Veränderungen damals
ähneln der Situation, in der sich viele Tiere
auch heute befinden: Eine Veränderung
des Klimas in Kombination mit der Aus-
breitung des Menschen setzen viele Arten
derart unter Druck, dass sie vom Ausster-
ben bedroht sind. tina baier
Apps sollen schwere Gedanken
vertreiben und Lebensfreude
zurückbringen
Klimawandel und Menschen:
Damals wie heute bedrohen
ähnliche Faktoren viele Tiere
Dem Tod zu nah
Die Suizidrate unter Senioren liegt deutlich höher als in der übrigen Bevölkerung. Ein gesundheitspolitisches Versäumnis,
kritisieren Experten. Denn es gäbe wirksame Mittel gegen den Freitod im Alter
Warum das Ur
ausgestorbenist
Auerochsen konnten sich nicht an
eine veränderte Umwelt anpassen
Eine Psychotherapie hilft auch
im Alter. Häufig stehen dem
jedoch Vorurteile im Weg
(^16) WISSEN Dienstag, 10. September 2019, Nr. 209 DEFGH
FOTO: REUTERS
Höhlenmalerei mit Auerochsen in der
Grotte Chauvet FOTO: IMAGO/ALIMDI
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