von lea deuber
W
enn Gu Zhongming mor-
gens zur Arbeit kommt,
warten meist schon aufge-
brachte Anwohner auf ihn.
An diesem Morgen ist es
eine Frau im pinkfarbenen Schlafanzug:
„Wenn es einen Funken gibt“, sagt sie,
„dann fliegt hier alles in die Luft!“ Sie zeigt
auf einen Berg aus Sperrmüll, der sich ne-
ben der Heizgasanlage des Wohnblocks sta-
pelt. Daran ein Schild: „Vorsicht, Explosi-
onsgefahr.“ Gu lächelt tapfer.
Seit Wochen wachsen die Müllberge in
Shanghai in den Himmel. Die Stadt ist in ei-
ner Art Ausnahmezustand. Gu Zhongming
nennt das Chaos „Rettungsaktion“. Es geht
um 27 000 Tonnen Haushaltsmüll, die al-
lein in Shanghai jeden Tag anfallen. Je rei-
cher ein Land, desto mehr Abfall erzeugt
seine Bevölkerung. Schon heute ist die
Volksrepublik der größte Verschmutzer
der Weltmeere. Der Jangtse spült mehr
Plastikmüll ins Meer als jedes andere Ge-
wässer. 60 Milliarden Einwegstäbchen ver-
brauchen die Chinesen jedes Jahr. Aber ver-
zichten, das wolle niemand, sagt Gu.
Er ist jetzt 70, als er jung war, ging er mit
einer Rattantasche zum Einkaufen. Heute
bekommt er beim Markt vier Plastiktüten,
für jedes Gemüse eine. Drei Milliarden
Plastiktüten verbraucht das Land – jeden
Tag. Mittags kommt das Essen per Liefer-
dienst. Gu erzählt von den Jungen im
Wohnblock, bei denen vier Mal am Tag
Paketboten klingeln. Ihre Kartons stapeln
sich vor seinen Füßen. Die meisten Men-
schen hätten kein Verständnis für Umwelt-
bewegungen wie in Deutschland, sagt Gu,
der schon mal in Europa war. Wolle man so
sauber werden wie dort, könne die Regie-
rung nicht darauf warten, dass die Men-
schen umdenken. Für die meisten ist Recy-
cling ein Fremdwort. Die Regierung, sagt
Gu Zhongming, musste also durchgreifen.
Gerade einmal 3000 Tonnen wurden
bisher in Shanghai recycelt, etwa elf
Prozent. In Deutschland sind es fast 70 Pro-
zent des Haushaltsmülls. Das Wiederver-
wertungssystem der 23-Millionen-Metro-
pole Shanghai bestand bis jetzt zum größ-
ten Teil aus Müllsammlern, die mit Last-
fahrrädern durch die Stadt fuhren und den
Hausmüll nach Verwertbarem durchsuch-
ten. Für ein paar Yuan pro Kilo verkauften
sie Plastikflaschen und Pappkartons an Fa-
briken. Im Juli beendeten das die Stadtwer-
ke und verkündeten über Nacht einige der
strengsten Recyclingregeln der Welt.
Der Müll muss jetzt in schwarze, rote,
blaue und braune Tonnen. Unterschieden
wird zwischen nassem und trockenen
Müll, Gefahrgut und wiederverwertbaren
Materialien. Wer sich nicht daran hält,
dem drohen Geldstrafen und Minuspunk-
te beim Sozialkredit, mit dem Peking die
Bevölkerung und Unternehmen landes-
weit aufgrund ihres Sozialverhaltens und
ihrer politischen Haltung bewerten will.
Seitdem ist Chaos an den Mülltonnen:
Hühnerknochen gehören in den nassen
Müll. Austern in den trockenen. Eierscha-
len in den nassen. Telefonbatterien sind
Gefahrgut. Alte Batterien seltsamerweise
Trockenmüll. Damit die Menschen sich an
das neue System halten, hat die Stadt
30000 Aufpasser rekrutiert. Rentner Gu
ist einer von ihnen. Jeden Tag steht er vier
Stunden im Hof und bewacht die Tonnen.
Kurz vor Dienstbeginn isst er noch
schnell ein paar Löffel Lotussamensuppe,
holt seine neongelbe Helferjacke. Es ist sie-
ben Uhr morgens, und es sind bereits mehr
als 30 Grad. Noch bevor Gu an den Contai-
nern angekommen ist, kann er den Müll
riechen. Die Müllabfuhr ist gestern nicht
gekommen. Die meisten Tonnen sind voll.
Zwischen dem Berg aus Sperrmüll und
dem Gebäude, in dem die Heizgasanlage
steht, ist nur noch ein schmaler Weg frei.
Die Bewohner können nur einzeln zu den
Mülltonnen gehen.
Am Eingang zum Müllsammelplatz
steht ein älterer Mann mit nacktem Ober-
körper. Jaja, Recycling sei wichtig, sagt er.
Aber die Partei sollte ihrer aller Leben doch
eigentlich bequemer machen. „Ist es be-
quem, dass Menschen hundert Meter lau-
fen müssen, um ihren Müll wegzubrin-
gen?“ Er sei über 75 Jahre alt und herz-
krank. „Es braucht einfach eine bessere In-
frastruktur“, sagt ein anderer. Dieser Sam-
melpunkt sei doch viel zu klein und zu dre-
ckig. „Aber wenn die Partei uns zwingt, ma-
chen wir es mit Absicht schlecht.“
Gu Zhongming ist der Aufstand eher
unangenehm. Normalerweise sei es viel
ordentlicher hier, sagt er. Aber im Sommer
würden viele renovieren, deswegen der
Sperrmüll. Und die vollen Tonnen? Die wür-
den sicher bald abgeholt. Auf seinem Han-
dy hat er ein Dokument der lokalen Regie-
rung abgespeichert. Seine Nachbarschaft
sei als vorbildlich bei der Sortierung ausge-
zeichnet worden. Im Stadtteil hätten sie es
sogar auf Platz zwei geschafft.
40 Jahre hat Gu am Fließband eines
Staatsunternehmens Dieselmotoren zu-
sammengeschraubt. Seitdem ist er Partei-
mitglied. Anfangs bekam er wie jeder Ar-
beiter 36 Yuan im Monat. Heute ist das der
Preis für einen Cappuccino in Shanghai. Er
bekommt jetzt 6000 Yuan Rente, 760 Euro.
Eigentlich genug Geld, um den Ruhestand
zu genießen. Vor ein paar Jahren hatte er ei-
nen Herzinfarkt. Seine Frau hätte es lieber,
dass er sich ausruht und nicht so viele Stun-
den in der Sonne arbeitet. Aber sie konnte
ihn nicht davon abbringen. Er sei stolz dar-
auf, gebraucht zu werden, sagt seine Toch-
ter, verdreht die Augen, sie kennt dieses
Parteigeschwätz: „Den Menschen dienen.
Er kann an nichts anderes denken.“
Im November hatte er sich als Freiwilli-
ger für Chinas große Müllrevolution gemel-
det. Fast alle pensionierten Parteimitglie-
der im Viertel haben mitgemacht. 20 Stun-
den dauerte der Kurs. Er lernte, wohin die
Eierschalen gehören und in welchen Eimer
die Damenbinden. Auch wenn ihn nie-
mand hier fragt, wo was hingehört. Meist
schimpfen die Leute nur über die Sauerei.
Gu nickt, lächelt. Man kann sich nicht vor-
stellen, dass er mal böse wird, auch wenn
seine Tochter das behauptet. Sie ist über
40 Jahre alt, unverheiratet, lebt zu Hause.
Für chinesische Eltern, die Enkelkinder als
Altersvorsorge betrachten, eine Schande.
Mit den Müllsündern ist Gu Zhongming
an diesem Morgen gnädig. Natürlich, die
meisten sind Nachbarn, Freunde, Bekann-
te. Mit fast jedem redet er, fragt nach der
Familie, unterhält sich über Aktivitäten im
Seniorentreff. Dort gibt es jeden Tag Gym-
nastik, Filmvorführungen, an einigen Ta-
gen Mathematik- und Wissenschaftskur-
se. Aber das wichtigstes Thema ist gerade
die Mülldiktatur, wie einige sie nennen.
Es sind fast nur ältere Menschen bei Gu
am Müllplatz, obwohl die meisten mit
ihren erwachsenen Kindern zusammen-
leben. „Chinesische Kinder werden nie er-
wachsen“, sagt Gu und schaut zu seiner
Tochter. Die winkt ab, sie hat den Müll je-
denfalls noch nie heruntergebracht.
Jeder Bewohner hat einen Ausweis, auf
dem ein QR-Code aufgedruckt ist. Über die
App der lokalen Behörden scannt Gu den
Code. Wer seinen Müll rechtzeitig und rich-
tig sortiert bringt, bekommt Punkte gutge-
schrieben, die dann über eine andere App
gegen Produkte wie Shampoo und Seife
eingetauscht werden können. Gu scannt.
Egal, was die Leute in ihren Tüten haben
und in welche Tonne sie es werfen.
Dabei sollen die Freiwilligen jeden Re-
gelbruch anzeigen. Mehr als zehntausend
Strafen sollen in Shanghai bereits ver-
hängt worden sein. Wer sich nicht an die
Vorschriften hält, dem drohen Bußgelder
von 25 Euro, Firmen sollen bis zu 64000
Euro zahlen. Prominentestes Opfer war in
den ersten Tagen das ausländische Hotel
Swissôtel Grand Shanghai, ein Fünf-Ster-
ne-Haus im Zentrum der Stadt, in dessen
Recyclingmüll die Polizei Papier-
taschentücher fand. Es gab eine Verwar-
nung. In Peking hat die Regierung im Juli
Mülleimer mit Gesichtserkennungssoft-
ware aufstellen lassen, um Übeltäter zu
identifizieren. Die Stadt will Shanghai in
Sachen Mülltrennung bald folgen.
Während Nachbarländer wie Japan und
Taiwan bis zu 60 Prozent ihres Mülls recy-
celn, kommt China nicht einmal auf 20 Pro-
zent. Trotz Umweltkampagnen, das Be-
wusstsein in der Bevölkerung hat sich nie
gewandelt. Im vergangenen Jahr forderte
Chinas Präsident Xi Jinping dann bei einer
Reise nach Shanghai die Lokalregierung
auf, Pioniere der großen chinesischen Müll-
revolution zu werden. Die Drohung war
deutlich. Es war eine Hauruckaktion, kriti-
sieren viele Chinesen im Netz. Statt der Pro-
pagandavideos, auf denen knapp bekleide-
te Frauen freudig um Mülltonnen tanzen,
hätte man das System durchdenken müs-
sen. Der Hashtag „Shanghaier werden fast
wahnsinnig durch das neue System“, gehör-
te in den vergangenen Wochen zu den
meist debattierten Themen im Netz. Men-
schen posten die vielen Plastiktüten, die
sie nun brauchen, andere sammeln Bilder
von chaotischen Müllsammelstellen.
700 Familien leben in der Siedlung, für
die Gu Zhongming zuständig ist. Er ist vor
20 Jahren mit seiner Frau in das Viertel ei-
ne halbe Stunde außerhalb des Zentrums
umgesiedelt worden, nachdem seine Woh-
nung in der Innenstadt abgerissen wurde.
Bis Juli gab es hier elf Müllsammelstellen.
Jetzt gibt es noch eine. Anders könnte Gu
seinen Job nicht machen, er muss die Ton-
nen ja dauerhaft überwachen. Daher auch
der strikte Zeitplan: Der Müll darf in der
ganzen Stadt nur zwischen 7 und 9 Uhr so-
wie 18 und 20 Uhr eingeworfen werden.
Der Abfall bestimmt jetzt den Tages-
ablauf. Alle schlingen ihr Essen runter,
weil sie nach der Arbeit kochen und dann
den Müll runterbringen müssen. Unterneh-
mer haben den Bedarf erkannt. 30 Yuan
kostet es im Monat für einen Bewohner im
Erdgeschoss, sich den Müll wegbringen zu
lassen. 40 Yuan in den ersten beiden Stock-
werken, 50 Yuan in höheren – sechs Euro.
Im App Store und auf der Messenger-
Plattform WeChat finden sich mittlerweile
Hunderte Apps zum Müllsortieren. Es gibt
eine App, mit der man seinen Müll fotogra-
fieren kann und das Programm zeigt die
richtige Tonne an. Man kann auch den „Na-
tionalen Test zum Niveau der eigenen Sor-
tierfähigkeiten“ ablegen. Erdnussschalen
in den nassen Müll? Ja! Zahnbürste wieder-
verwertbar? Nein! Nagellack, nasser Müll?
Nein, Gefahrenstoff. Brillantring, trocke-
ner Müll? Nein, Recyclingtonne. Mehr als
drei Millionen Menschen sollen die App in
den ersten Tagen heruntergeladen haben.
Auf dem Markt einige Straßen entfernt
von Gus Müllplatz kauft ein Mann gerade
Fisch. Lu Zhengye hat an der Magnetschwe-
bebahn in Shanghai mitgebaut. Der 63-Jäh-
rige kennt sich mit deutscher Gründlich-
keit aus und ist sich ziemlich sicher, dass er
etwas von Regeln versteht. Es sei alles sehr
einfach, wenn man sich an die Schweine
halte, sagt er: Nassen Müll können Schwei-
ne essen, trockener Müll ist alles, was vom
Schwein übrig bleibt, wenn man es isst,
vom Gefahrgutmüll stirbt das Schwein
und der Rest ist Müll, mit dem man Geld
machen kann, von dem man sich also ein
Schwein kaufen kann. Dann streitet er mit
dem Fischverkäufer, wie es bei den Fluss-
krebsen ist, die vor ihm in der Wanne krab-
beln, nasser oder trockener Müll?
Wer Fehler macht, müsste eigentlich
festgesetzt werden. Gu hat das noch nie ge-
macht, auch wenn überall Kameras hän-
gen und er an diesem Morgen den halben
Block bestrafen könnte: Kokosnussscha-
len landen mit Maisblättern und Schalen-
tieren im nassen Müll, kleine Tierknochen
und Hummerschalen im trockenen. Die
halbgegessenen Liefergerichte liegen mit
Verpackung in einem der beiden Eimer. Gu
sagt: „Wir lassen es ruhig angehen.“
Ob die Nachbarn ihren Müll richtig sor-
tieren, kann er von seiner Position aus so-
wieso nicht sehen. Wenn jemand keine
Lust aufs Sortieren hat, kümmert sich ein
Mann in einem grauen Overall. Der Arbei-
ter stammt aus der ärmlichen Provinz
Anhui. Er ist taub und hat Schwierigkeiten
zu sprechen. Aber er scheint der einzige zu
sein, der die Regeln des neuen Systems ver-
steht. Er fischt fast jede Tüte wieder aus
dem Müll und sortiert sie um.
Gu Zhongming kennt nicht mal den Na-
men des Arbeiters. Der Rentner steht in
grauer Anzughose und weißem Hemd am
Eingang, in sicherem Abstand zum Ge-
stank. Ein-, zweimal kickt er ein paar Kar-
tons weg, das war es. Sonst fasst er den
Müll nicht an. Um 9Uhr kommt endlich die
Müllabfuhr. Gu geht nach Hause, um sich
auszuruhen. Abends muss er wieder fit
sein. Um 18 Uhr geht die Revolution weiter.
von christiane schlötzer
S
ie sagen immer noch „er“ und „die
Macht“, nur keinen Namen. Aus
Angst. Sind ja schon so viele verpfif-
fen worden und standen dann vor Gericht,
wegen Präsidentenbeleidigung. Selber blei-
ben sie auch lieber anonym, sogar jetzt hier
an diesem Ort, an dem man schon sehen
kann, dass eine neue Zeit begonnen hat.
Auf diesem Platz, den sich der Präsident
hat bauen lassen, in Istanbul, direkt am
Meer, wo so viel Beton aufgeschüttet wur-
de, dass man eineinhalb Millionen Men-
schen versammeln kann. Wenn die Menge
vollständig war, schwebte Recep Tayyip
Erdoğan mit dem Hubschrauber ein.
Auf diesem Riesengelände am Wasser
parken jetzt in langen exakten Reihen
730 Mittelklasseautos. Alle weiß, das ist
die Farbe der Erdoğan-Partei AKP. Nur
ganz vorne am Zaun sind ein paar schwar-
ze Luxuskarossen aufgereiht, Limousinen
deutscher Edelmarken. Die Dienstwagen
hat der neue Istanbuler Bürgermeister
Ekrem İmamoğlu hier auffahren lassen
für das Volk, zur Besichtigung. Eine Frau,
blau verspiegelte Sonnenbrille, sommerli-
che Bluse, steht da, sie sagt: „Meine Fami-
lie lebt seit drei Generationen in Istanbul,
ich will jetzt wissen, was er mit unserem
Geld gemacht hat, wer hat diesen Merce-
des Jeep gefahren?“
Eine der Limousinen, so viel weiß man,
nutzte der Chef des Tulpenzwiebelamts.
Ein Mann geht am Zaun vorbei, spuckt aus.
Ein anderer sagt: „Das ist ein Museum der
Schande, Istanbul war eine Black Box.“
Ein Vierteljahrhundert hatten Erdoğan
und seine Partei die Macht über Istanbul,
1994 begann hier Erdoğans Karriere, als
Oberbürgermeister. Am 23. Juni wurde
der Oppositionspolitiker İmamoğlu in
dieses Amt gewählt, im zweiten Anlauf.
Die Regierung hatte seine erste Wahl
einfach annullieren lassen. İmamoğlu,
49 Jahre alt, und bis dahin ein fast unbe-
kannter Lokalpolitiker, siegte danach mit
einem Vorsprung von rund 800 000 Stim-
men. Es ist ein Erfolg ohne Vorbild.
„Ich denke, dass die AKP jetzt ein Trau-
ma erlebt“, sagt die Frau mit der blauen
Brille, „ich kann das sogar irgendwie ver-
stehen.“ Plötzlich gibt es ein Gerangel am
Zaun, ein Mann schreit: „Gott soll Euch
verfluchen, ihr Sittenlosen.“
Der Bürgermeister spießt ein Stück
Käse auf, er frühstückt, als wäre dies ein
ganz normaler Sonntag und nicht der Tag,
an dem der Innenminister in der Morgen-
show von CNN Türk mitteilen wollte, ob er
İmamoğlu absetzen werde, wie davor
kurdische Bürgermeister im Südosten.
İmamoğlu hebt das Teeglas und sagt: „Ich
will der Polemik nichts hinzufügen. Unser
Selbstvertrauen ist sehr groß.“
Das Treffen mit Ekrem İmamoğlu fin-
det in einem neuen Stadtpark statt, weit
im Norden von Istanbul, wo man schon
den Wind vom Schwarzen Meer spürt.
550 Hektar. Die alte Stadtverwaltung hat
das Projekt begonnen, aber sie konnte es
nicht vollenden, Baufirmen gingen in der
Wirtschaftskrise pleite. Jetzt fällt es
İmamoğlu sozusagen in den Schoß, wie die
Verantwortung für große Teile des histori-
schen Erbes Istanbuls, für bröckelnde
Prunk- und Prachtbauten. „5000 Jahre ak-
tives Stadtleben sind hier präsent. Wir tra-
gen eine Verantwortung für die Welt“, sagt
er. Dann breitet er die Arme aus, als wolle
er alle 16 Millionen Einwohner umarmen.
Es ist diese Mischung aus Entspannt-
heit und Selbstbewusstsein, die schon im
Wahlkampf wie Gegengift zur harten
Regierungspropaganda wirkte, zu all den
Drohungen und Verwünschungen. AKP-
Politiker geben zu, zumindest anonym,
dass sie İmamoğlu unterschätzt haben.
Einer sagt: „Wir können in Istanbul jetzt
keine Großveranstaltungen mehr machen,
uns fehlen die Stadtbusse.“ Mit denen
wurden Angestellte zu Erdoğans Kundge-
bungen gekarrt. Erscheinen war Pflicht,
die AKP verteilte Schirmmützen für alle.
İmamoğlu hat außerdem regierungs-
nahen religiösen Stiftungen Millionen-
zuwendungen gestrichen, auch einer, in
der eine Tochter Erdoğans im Vorstand
sitzt. „Sollen sie doch klagen“, sagt der OB.
„Damit verhindern wir Verschwendung,
Sparen ist unsere Priorität.“ Das Geld wolle
man für soziale Zwecke verwenden. „In die-
ser Stadt leben 250000 Menschen, die
nicht lesen und schreiben können.“ Min-
destens fünf Milliarden Lira (800 Millio-
nen Euro) wolle man sparen, das ist der
Plan, zehn Prozent des Budgets. 50 Millio-
nen Lira allein durch die Kündigung der
Verträge für die überflüssigen Dienst-
wagen, rechnet İmamoğlu vor. Was sie
noch nicht gefunden haben, sind all jene
Angestellten, die nie zur Arbeit erschienen
sind. Bankautomatenpersonal nennt man
sie hier. Alles werde transparent sein, ver-
spricht der OB.
Stadtratssitzungen werden jetzt live
übertragen. Dort haben die Konservativen
weiterhin die Mehrheit. „Ich möchte mal
sehen, ob sie verhindern, dass wir in jedem
Viertel einen Kindergarten bauen“, sagt ei-
ner aus İmamoğlus säkularer Partei CHP,
der Mitglied des Stadtrats ist. Der Bürger-
meister sagt: „Wir wollen hier ein Beispiel
für die ganze Türkei geben.“
In Istanbul fährt die Metro jetzt am
Wochenende rund um die Uhr, bis jetzt war
um Mitternacht Schluss. Das soll der
Kulturszene helfen. Unter den Vorgängern
wurden Theater geschlossen, historische
Kinos Bauprojekten geopfert, Schauspie-
ler und Autoren vor Gericht gezerrt. Nach
seinem ersten Wahlsieg im März forderte
İmamoğlu die Künstler auf, ihre Angst zu
vergessen. Am Freitag stellten dann 18 tür-
kische Rapper einen 15 Minuten langen
Song ins Netz. 15 Millionen Mal wurde er
bis Montag geklickt. „Susamam – Ich kann
nicht schweigen“, heißt das Stück. Es geht
darin um die Angst vor der Polizei, vor der
Justiz, um Journalisten im Gefängnis, das
Wegdriften in Konsumträume, um Um-
weltzerstörung, die Missachtung von Frau-
enrechten in der Türkei. Ein Aufschrei.
Undenkbar vor Kurzem noch in einem
Land, in dem sich so viele Menschen vor so
vielem fürchten. „Ich würde mich glück-
lich schätzen, wenn ich sie inspiriert habe“,
sagt İmamoğlu. „Toll“, findet er den Song.
Die Staatsmacht aber bleibt sichtbar.
Am zentralen Taksim-Platz stehen Tag
und Nacht ein halbes Dutzend Wasserwer-
fer, eine Armee der Abschreckung für alle,
die Protest wagen sollten. İmamoğlu sagt,
er werde mit der Polizei und dem Gouver-
neur über eine Abrüstung sprechen. „Ich
glaube, dass wir auch hier einen Erfolg er-
zielen werden.“ Der Mann glaubt wirklich,
er könne alle umarmen.
Aber es gibt Widerstand. Am vergange-
nen Freitag wurde İmamoğlus engste Ver-
traute, die Istanbuler CHP-Chefin Canan
Kaftancıoğlu, wegen ein paar Tweets zu
fast zehn Jahren Haft verurteilt. Manche
der Tweets sind sieben Jahre alt. Der Vor-
wurf: Präsidentenbeleidigung, Terrorpro-
paganda. „Das ist Rache“, titelte die Opposi-
tionszeitungCumhuriyet. Auch ein regie-
rungsnaher Journalist schien geschockt,
er erinnerte daran, dass in der Türkei
„nicht mal Mörder“ zehn Jahre Gefängnis
erhalten. Kaftancıoğlu bleibt bis zur Beru-
fungsverhandlung auf freiem Fuß. „Die
Demokratie in der Türkei wird auch
dadurch reifer werden“, sagt İmamoğlu,
„wir sind nicht besorgt, wir werden Zeugen
des Wandels sein.“
Eine Mitarbeiterin İmamoğlus schaut
auf ihr Handy, das Frühstück ist damit
beendet: CNN Türk meldet, der Innen-
minister habe in der Morgenshow darauf
verzichtet, erneut İmamoğlus Absetzung
zu verlangen. Kein schlechter Sonntag.
Gu Zhongming (u.) ist einer
von 30000 Aufpassern.
Noch sieht sein
Müllplatz nicht so aus,
als hätten sie hier
schon alles im Griff.
Aber er ist zuversichtlich.
FOTOS: LDE
DEFGH Nr. 209, Dienstag, 10. September 2019 (^) DIE SEITE DREI 3
Wer Fehler macht, muss bestraft
werden. Aber dann müsste der
halbe Block festgesetzt werden
Untrennbar
In Shanghaiwurden über Nacht die strengsten Recyclingregeln der Welt eingeführt.
Was Chinas große Müllrevolution für die privaten Haushalte bedeutet
Herr Gu hat einen Kurs besucht.
Er weiß jetzt, wo was hingehört.
Zumindest theoretisch
Er streicht mal eben Millionen für
regierungsnahe Stiftungen.
Angst vor Erdoğan? Hat er nicht
„Unser Selbstvertrauen ist sehr groß“, sagt Ekrem İmamoğlu, mit dem eine neue
Zeit begonnen hat in Istanbul. Vielleicht sogar im ganzen Land. FOTO: AP
Istanbul lebt
Der neue, liberale Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wird zum Problem für Recep Tayyip Erdoğan. Und es scheint, als hätte die Türkei nur auf einen wie ihn gewartet