Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1

NZZamSonntag8.September 2019


Schweiz 13


Classepolitique


Martin Nydegger,Landesver-
käufer, greift zumGlas. DerChef
von Schweiz Tourismus hat die
ersteschweizweite Plattform für
Weintourismus lanciert, mit dem
Ziel, die Schweiz als Weinland
bekannter zu machen. Soweit,
sokühn. Nochforscher ist aller-
dings der Slogan, unter dem
Nydeggerseinen Planvorge-
stellt hat: «Ein berauschender
Herbst», lautet der. Das dünkt
uns jetzt,woauf Mallorca der
Ballermann trockengelegt wurde
und Tausende trinkfester Party-
gänger eine neue Hochburg
suchen,einegewagte Strategie.

Christoph Blocher,Dauertalker,
feiertediese Woche das Jubiläum
der 60 0.«Tele-Blocher»-Sendung.
Im «Haus derFreiheit» in Ebnat-

Kappel wurde garschon die627.
Folge der Internet-T alkshow
aufgezeichnet,vor 80mehroder
weniger prominenten Gästen.
«Tele Blocher» wirdoft belächelt,
weil die Aussagen desSVP-Über-
vaters abwechslungsreich sind
wie das Ticken einer Uhr. Eines
muss man Blocher aber lassen:
Er etabliertesich als Social-Me-
dia-Influencer, als noch niemand
wusste, was ein Influencer ist.

V


iel wird in diesenTagen über
gefährliche Trottinette geschnödet.
Das ist einerseitsverständlich. Die
elektrifizierten Kinderroller sind
eineBeleidigung des gutenGeschmacks, und
wenn sie den einzelnenMenschen ein paar
Meter weit erbringen, werfen sie dieMensch-
heit umMeilen zurück – schliesslich haben

wir vor Millionenvon Jahren einmalgelernt,
stabil auf zwei parallel positioniertenFüssen
zu stehen. Aber andererseits muss man beim
Klagen auch dieVerhältnisse wahren. Mit
den überall herumliegendenRollern stehen
wir vor einemrein urbanen Phänomen.
Besucht man einmal die abgelegeneren
Gegenden unseresLandes,wird manGefähr-
ten begegnen, die denMenschen auf ganz
andereWeise gefährden.
Besonders bei leichten Gängen durch
unsereGebirge kann man heute jederzeit
einenHerzinfarkt erleiden – plötzlichvorbei-
zischendeMountainbikes lösen im arglosen
Fussgänger Schockwellen aus, dievon
Schwindel bis zumSchlimmsten führen
können. EinigeBergradfahrer setzen inzwi-
schen auf Alarmsysteme und führen im
Helm integrierteMusikanlagen mit. DieAus-
wirkungen dieserBeschallung auf Flora,
Fauna undFussgänger sind noch uner-
forscht, aber imFall von zeitge nössischem
Mundartrock sicher negativ.

All dieseBedrohungen durch neueMobili-
tätsformen sind zuletzt aber nichtsgegen die
Überlebenskämpfe, die derMenschfernab
der Städte in altenVerkehrsmitteln ausfech-
ten muss:Was einPostauto an einem ganz
normalen sonnigenWochentag anGefahren
bereithält, ist kaum inZahlen zufassen. In
einemWagen voller Ü-65-Passagiere sieht
sich derReisende 116Wanderstöckengegen-
übe r – sofern ihm nochkeines dieser High-
tech-Carbon-Geräte die Augen ausgestochen
hat oder er selbigegeschlossen hält, um sich
vor den Halluzinationen zu schützen, die
durch dasWechselspiel derrot-grauen, blau-
pinken undgelb-grünen Karomuster auf
den 58 ihn umzingelndenWanderhemden
entstehen.Sehstörungen sind das Mindeste,
was diese seniorenbepacktenVehikelverur-
sachen, dochgerade für diesegefährliche
Verkehrssituation liegenLösungen in weit er
Ferne: Kinderroller kann der Staatrecht
leichtregulieren, dasRentenalter dagegen
wird sich so schnell nicht erhöhen.

ClaudiaMäder


MountainbikeslösenSchockwellen aus


Showdown


Martin
Nydegger

Christoph
Blocher

FOTO

S:KEYSTONE

Kleinunternehmer, diestark
auf Nachhaltigkeit setzen,
bündeln ihrKräfte in einem
neuenVerein. Als Alternative
zum Gewerbeverband.
Stefan Bühler

Dem SchweizerischenGewerbe-
verband mit Direktor und FDP-
Nationalrat Hans-Ulrich Bigler
fühlen sich dieseGewerbler nicht
verbunden: Er entspreche nicht
ihrer Kultur, man fühle sich
«nicht zugehörig», sagen sie.
Sie, das sind Mitglieder eines
neuenVereins, der sich schlicht
«DerGewerbeverein» nennt. Die-
se Woche wurde er in Thun lan-
ciert. Bisher machenrund fünfzig
Firmen mit, «die sich für eine
nachhaltige Unternehmenskultur
in sozialen, ökologischen und
ökonomischenBereichen einset-
zen», wie es auf dergewerbever-
ein.ch heisst. Ihre Ziele sind ehr-
geizig:«Wir wollen ein grosses
nationales Netzwerkvon nach-
haltig denkenden Unternehme-
rinnen und Unternehmern sein
(...) und grenzen uns klarvon
multinationalenKonzernen ab.»
Eine treibende Kraft ist Michel
Gygaxvon derKG Gastrokultur,
die inBern sechsRestaurants
führt.Heute seien grosse Unter-
nehmengegenüber KMU imVor-
teil: «WährendreichePersonen
dank derProgression mehr Steu-
ern zahlen, ist es bei Unterneh-
mengerade umgekehrt: Je grös-
ser eine Firma ist, umso mehr
Druck kann sie auf dieBehörden
ausüben und ihre Intere ssen
durchsetzen.» Es brauche des-
halb eine Stimme für die kleinen
Unternehmen.So ist die Mitglied-
schaft im «Gewerbeverein» auf
Firmen mit höchstens 250 Ange-
stellten begrenzt. Zu den Grün-
dern zählt auch die«Smith and
Smith Wine Company» aus
Zürich.Geschäftsführer Markus
Lichtenstein sieht wegen der
Übernahmevieler kleiner Firmen
durchKonzerne dieVielfalt des
Angebots inGefahr: «Ichwün-
sche mir Diversität, deshalb bin
ich beim Gewerbeverein.» Er
hoffe, dass man sich auch po-
litisch einbringen könne. Dafür
steht die grüneBerner National-
rätin Aline Trede, die mit Gygax
das Co-Präsidium desVereins bil-
det: Sie sehe den «Gewerbever-
ein» als nachhaltigeVariante zum
Gewerbeverband. DieReaktionen
auf dieVereinsgründungzeigten,
dass dafür einBedürfnis bestehe.
Gewerbeverbandsdirektor Big-
ler bleibtgelassen: «Konkurrenz
belebt dasGeschäft», sagt er.
Auch für den SGV seien Energie
und Umwelt zentrale Themen.

Gewerbler


bildenneue


Allianz


Stefan Bühler


Samstagmorgen kurz nach 9 Uhr
vor derPost in Zollikofen. Ein Ort
im architektonischen Niemands-
land der AgglomerationBern,
eineBetonlandschaftvon ausge-
suchter Trostlosigkeit. Hier steht
IsabelleSchorer undfreut sich:
Soeben hat sie zwei Unterschrif-
ten für dieKostenbremse-Initiati-
ve eingeheimst, mit der die CVP
gegen die stetig steigenden Kran-
kenkassenprämien kämpft. Sie
hat den Ort mitBedachtgewählt:
«VieleLeute zahlen ihreRech-
nungen nachwie vor auf derPost.
Hier sehen sie,wie viel sie für die
Krankenkasse bezahlen. Darum
unterschreiben sie nachhergern
bei mir.»Frau Schorer lacht ein
spitzbübischesLachen. Und man
denkt sich, dassvielleicht doch
etwas dran ist, an dem, was CVP-
Politiker seitWochen unablässig
wiederholen: An der Parteibasis
herrscheAufbruchstimmung!
Dumm nur, dass diese Stim-
mung bis jetzt nicht über die eige-
ne Basis hinausreicht.Gerade hat
das Wahlbarometer für die CVP
einen neuen Tiefpunktgemes-
sen: In der SRG-Wahlumfrage,
durchgeführt von der For-
schungsstelleSotomo, sind die
Christlichdemokraten in der
Wählergunstvon den Grünen
überholtworden. Man liegt jetzt
auf Platz fünf der Parteien.Be-
reits stellen scharfsinnigeRech-
ner den Bundesratssitz der CVP
infrage. Da nützt es nurwenig,
wenn Parteipräsident Gerhard
Pfister imFernsehen auf die zahl-
reichen Sitze der CVP in den Kan-
tonsregierungen verweist und
hervorstreicht, dass seine Partei
die grösste Gruppe im Ständerat
stellt,wohl auch nach denWah-
len. Es hilft nichts, dass sie bei
Abstimmungen fast immerge-
winnt und mitViola Amherd die
beliebtste Bundesrätin stellt.
Was zählt, ist dieZahl hinter
demKomma: 10,5 Pr ozent wollen
am 20.Oktober die Grünen wäh-
len, nur 10,2Prozent die CVP.


Röstisuchen– CVPfin den


Gianna Luzio sitzt amTag nach
demWahlbarometer in derBer-
ner Piazza-Bar und nippt an
einemCafé. Die CVP-General-
sekretärinwirkt überraschendge-
lassen angesichts der trübenAus-
sic hten. Stress ist ihr nicht anzu-
merken. Und auchkein Zweifel an
der von langer Handgeplanten
Wahlkampagne, die auf nationa-
ler Ebene ohne Plakate aus-
kommt, auf Inserate in den gros-
sen Zeitungen verzichtet, dafür
stark aufs Internet setzt. Und die
wohl dazu beigetragen hat, dass
die CVP in der öffentlichen


DieCVPverliertdenGlaubennicht


Debatte zuletzt kaum stattfand:
SP und FDPzoffen sich herzhaft
bei allen möglichen Themen, die
SVP pr ovoziert mit einemwurm-
stichigen Apfel, die Grünen be-
feuern die Klimadebatte, und so-
gar die BDP erhält mit der hem-
mungslosen Inszenierung ihres
Niedergangs mehrAufmerksam-
keit als die CVP.Doch das bringt
Luzio nicht aus derFassung: Sie
strahlt Zuversicht aus undver-
spricht, dass die CVP bis amWahl-
tag noch einiges bietenwerde.
Zunächst im Internet:Über 40
Videos mit prominenten CVP-Ver-
tretern sind im Kasten, nur ein
Teil da von ist über die sozialen
Netzwerke schon ausgespielt
worden. Darunter jenes der ehe-
maligen Bundesrats- und jetzigen
Ständeratskandidatin, Heidi
Zgraggen. Die Urnerinwirbt darin
als «Berglerin», die «weiss, was es
heisst,wenn die Natur ihreGe-
walten entfesselt», für mehr
Klimaschutz. Bemerkenswert:
ZgraggensVideo wurde vor allem
bei Facebook-Nutzern in Zürich
ausgespielt,weniger in Uri. Man
will neue, urbaneWähler anspre-
chen, die auf die Klimathematik
aufspringen. Weitere Videos sol-
len folgen, je nach Aktualität:
Wenn das Parlament denVater-
schaftsurlaub berät,wird die CVP
ein Filmchen zurVereinbarkeit
von Familie undBeruf aufschal-
ten. Sogar ein bisschen provozie-
ren will die oft so brave Partei. Es

ist geplant, dassGoogle-User, die
beispielsweise den Namenvon
SVP-Pr äsident AlbertRösti ein-
geben, zur CVPgelenktwerden:
Hier treffen sie aufAussagen der
SVP, die sodann aus Sicht der CVP
gekont ert werden. Luzio spricht
von einer«Vergleichskampagne».
Der Start ist in den nächstenTa-
gen: «Wir tun dies natürlich zuge-
spitzt, aberfaktenbasiert.»

Die Massesollesrichten
Neben demWahlkampf im Inter-
net setzt die CVP auf dieMobili-
sierung derBasis – und die schiere
Masse:700 Kandidierende hat
die Partei aufgestellt, die alle ihre
Freunde undVerwandten an die
Urne bringen sollen. «Das sind
über 30Prozent mehr alsvor vier
Jahren», sagt Pfister. Und auch
wenn dasWahlbarometer dies
jetzt nichtzeige, werde sich diese
Strategie amWahltag auszahlen:
«Ich bin zuversichtlich, dasswir
den Wähleranteil sogar leicht
werden steigernkönnen», hält
der Parteichef unbeirrtfest.
Was es dafür braucht, macht er
persönlich vor: Es gibt kaum
einen Abend, an dem Pfister nicht
an einerVersammlung auftritt.
Fast alle Kantone hat er schon be-
sucht. Und auchGeneralsekretä-
rin Luzio muss nun los, in ihre
Heimat Graubünden,wo sie k an-
didiert: Unterschriften sammeln
für die Krankenkassen-Initiative.
Wie Frau Schorer in Zollikofen.

Parteichef Pfister ist überzeugt: DieCVP kann beiden Wahlenzule gen. Trotz allem


ANTHONY ANE

X / KEYSTONE

Setzt auf die Netzwerkevon über700 Kandidatinnen und Kandidaten: CVP-PräsidentGerhardPfister.(Bundeshaus, 12. Juni 20 19)

Wahlsager


Wir wissen,was kommt. Mit dem
Beginn der Herbstsession der
eidgenössischen Räte am
Montag naht eine gute Möglich-
keit fürBundespräsidentUeli
Mau rer,seinen Rücktrittauf
Ende Jahranzukündigen.
Entsprechende Spekulationen
werden in denkommenden
Tagen ins Krautschiessen. Dies
nicht zuletzt mit dem Hinweis
auf denschlechten Formstand
derSVP: Maurers Rücktritt
brächtegemässversierten
Wahlprognostikern derSVP
einenWähleranstiegvon
mindestens3,21Pro-
zentpunkten –sofern
esam Wahlsonntag
nichtregnet! Allerdings
wird sich Chefstratege
Christoph Blochervor

einemsolchen Manöver über-
legen müssen, obessich lohnt,
denroutinierten Finanzminister
und altbewährten Kämpen
Maurer in Rentezuschicken,um
damit Sitze von Hinterbänklern
wieMauro TuenaoderErich
Hesszuretten.Kommthinzu,
dass dieWiederwahlvonMag-
dalena Martullo-Blocherin
Graubünden alles andere als
sicher ist. Und damit ist auch ihr
allfälliges Nachrutschenin die
Landesregierungkeine Selbst-
verständlichkeit. Könntees
sich dieSVP im Dezem-
ber erlauben, eine
Politikerin als Nach-
folgerin Maurers zu
portieren, die gerade
vomVolk abgewählt
worden ist?
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