NZZ am Sonntag8.September 2019
Wirtschaft 27
derSchmerzgrenze. UBS-Präsi-
dent AxelWeber undweitereVer-
treter des Finanzplatzes warnen
davor, denLeitzins an der nächs-
ten Sitzungvom19.September
noch mehr zureduzieren.Der
Schaden für dieWirtschaft sei
grösser als der Nutzen(vgl.Box
rechts). Die Industrie und der
Tourismus hingegen fordern eine
Intervention der SNB; sie be-
fürchten eineAufwertung des
Frankens und denVerlustvon
Tausendenvon Arbeitsplätzen.
Nach Einschätzung des Ökono-
menKoch ist derFranken beim
gegenwärtigen Euro-Kurs von
1.09 nur leicht überbewertet.
Gegenüber demDollar sei der
Kurs sogar alsfair einzustufen.
«DieSchweizerWirtschaft erzielt
konstant hoheÜberschüsse mit
Moritz Kaufmann
Wer seinenHunger zügelt, holt
die bestenDeals heraus. Eine
Sushi-BoxfürFr. 15.90 anstatt
Fr.48.– zumBeispiel. Oder eine
Tüte mit Globus-Delicatessa-Pro-
dukten fürFr. 14.90 – ein Drittel
des Originalpreises. Dafür muss
man bloss das Abendessen auf
22 Uhrverschieben und die App
Too goodto goherunterladen.
Vor einem Jahr kam das
dänische Unternehmen in die
Schweiz.Too goodtogoist in
zwölf weiteren europäischen
Ländern aktiv und beschäftigt
insgesamt 400Personen.Mette
Lykke, Ex-Journalistin und Start-
up-Gründerin, sprang erst als
Financière ein, übernahm vor
zweiJahren dann den CEO-Pos-
ten. IhrGeschäftsmodell: über-
schüssiges Essen – auchFood-
Wastegenannt –vor dem Abfall-
kübelretten.«Wenn man einmal
einBewusstsein fürLebensmit-
telabfälle entwickelt hat, kann
man nicht mehrwegschauen»,
sagt sie.
Die App funktioniert nach
denMechanismenvon Internet-
Marktplätzen: Anbieter undKun-
den zusammenbringen, die sich
sonst nicht findenwürden. An-
bieter sind in diesemFall Gast-
stätten, die nachLadenschluss
Sie rettet die Reste
der Restaurants
nochLebensmittel übrig haben.
Kunden sindSchnäppchenjäger,
die fixfertigeMenüs zuteilweise
äusserst günstigenPreisen ab-
holenkönnen.Den Preis bestim-
men dieRestaurants.Too goodto
gokassiert dafür eineVermittler-
gebühr von Fr. 2.90. In der
Schweiz laufe Sushi am besten,
sagtLykke. Ihr persönlicher Lieb-
lingsbetrieb sei eine Bio-Bäckerei
in Kopenhagen.
Gewinn machtToo goodto go
auch nochkeinen. Aber das ist
das Ziel, um nichtvon Spenden
abhängig zu sein. «Irgendwann in
einem bis fünfJahren», sagt
Lykke.
Betriebe hinausgeworfen
Das Interesse istvor allem auf der
Anbieterseite gross. Mittlerweile
machen 1500Verkäufer aus allen
Schweizer Kantonen mit. Dar-
unter Grössenwie die Migros
Zürich, aber auch Kleinbetriebe
wie dieDorfbäckerei derDeutsch-
freiburger BerggemeindeJaun.
Mit Coop undweiteren Migros-
Regionalgenossenschaften fin-
den Gespräche statt. Conve-
nience-SpezialistValora ist mit
verschiedenen Brandswie Super-
guud,Backwerk undCaffè Spet-
tacolo anBord. Mit Kantinen-
Multiswie derSVGroup oder ZFV
wurden Pilotprojekte lanciert.
«Bis EndeJahrwollenwir in der
Schweiz 3000 Partner haben»,
sagtLykke. Hierzulandewill die
38-Jährige nach eigenen Angaben
bereits eine halbe Million Mahl-
zeitenvermittelt haben.
Das Unternehmen profitiert
vom Fehler im System: dem
täglichenÜberschuss anLebens-
mitteln, den die Restaurants
produzieren. «Der Gast erwartet
ein –fast –vollständiges Angebot
bis zumLadenschluss», erklärt
Stefan Schmid, Marketingchef
des Gastro-UnternehmensTwo
Spice, zu dem unter anderem die
Formate Yooji’s und Rice Upge-
hören. Diese arbeiten seit letztem
Herbst mitToo goodto gozusam-
men. Die Erfahrungen seien posi-
tiv. «DieBefürchtung, dass man
von Schnäppchenjägern über-
ranntwird, istkein Thema, da
man dievolleKontrolle hat.»Der
Betriebkönne die Grösse, den In-
halt und die Anzahl derPortionen
selbst festlegen, sagtSchmid.
Mankönne sogarreserviertePor-
tionen stornieren,wenn sie im
Restaurant doch nochgebraucht
würden. «Als Gast hat mankein
Anrecht auf günstigeres Essen.
Sondern nur,wenn dies tatsäch-
lichFood-Waste bekämpft», hält
der Gastro-Profifest.
Lykke, die dieseWoche am
Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI)
in Rüschlikon auftrat, glaubt
nicht, dass ihr derRohstoff aus-
geht: «Restaurants haben oft
keine andereWahl, als zuviel zu
produzieren.» Trotzdem schaut
siegenau hin. Es ist schonvorge-
kommen, dass sieRestaurants
hinauswerfen musste – wenn
dieseextra fürToo-good-to-go-
Kunden produziert haben. Dass
ihre Partnerunternehmen ihre
Bekanntheit dank der App stei-
gernkönnen, störtLykke aber
nicht. «Das ist ein positiver
Nebeneffekt für Betriebe, die
ihren ökologischenFussabdruck
verringern wollen.»
Tiere füttern verboten
Food-Waste mag sichvernachläs-
sigbar anfühlen,wenn man saure
Milch in denAusguss kippt. Aber
in der Summe ist derRessourcen-
undLandverschleiss gigantisch.
Rund 28ProzentderUmwelt-
belastung in derSchweizgeht auf
dasKonto unserer Ernährung,
schätzt das Bundesamt für Um-
welt (Bafu). Gleichzeitig landet
rund ein Drittel der produzierten
Lebensmittel im Abfall. Entlang
der ganzen Produktionskette,
von derLandwirtschaft über die
Lebensmittelindustrie bis zum
Detailhandel,gehtEssbaresver-
loren – hierzulande insgesamt
etwa 2,8 MillionenTonnen pro
Jahr.
Die Schweizer Gastronomie
produziert davon 290000Ton-
nenLebensmittelabfälle. Dies hat
dasBafu errechnet. Nimmt man
den durchschnittlichenWaren-
wert von Fr. 5.50 pro Kilo, ergibt
das eine Mrd.Fr. Kosten proJahr.
Der Verkaufswert liegt um ein
Vielfaches höher.Früherwurden
diese Speisereste Tierenverfüt-
tert.Seit 2011 ist dasverboten.
DieLebensmittelabfälle aus den
Die SchweizerGastronomie produziertjedes Jahr
Lebensmittelabfälle imWert von einer Milliarde
Franken.Mette Lykke hilft mit ihrerApp, die
Müllberge zu verkleinern.Der Erfolg ist erstaunlich.
GABIVOGT
Auf der Terrassevon Too goodto go in der Schweiz: CEO Mette Lykke.(Zürich,4. September2019)
Grossküchen werden deshalb
zum grösstenTeil vergärt, um sie
danach zu Biogas und Dünger zu
verarbeiten. Für Mette Lykke ein
Unsinn: «Das ist eine sehrteure
Methode, um Energie zugewin-
nen.» Die besteLösung sei immer
noch,wennLebensmittelMen-
schen zugeführtwürden.
In der entwickeltenWelt sind
die grösstenLebensmittelsünder
übrigensweder dieRestaurants
noch die Supermärkte, sondern
dieKonsumenten.Auch das ist
Lykke bewusst.Too goodtogo
führt deshalbFood-Waste-Work-
shops durch, etwa an Unis oder
der Migros-Klubschule. Bis Ende
Jahrwerde man in derSchweiz
einePerson einstellen, die sich
ausschliesslich um dieAufklä-
rungkümmere. «OhneAussicht,
damitGeld zuverdienen»,wie sie
anmerkt.
Das Unternehmen
profitiertvom
Fehler imSystem:
dem täglichen
Überschuss.
Fortsetzung von Seite 25
Schweizer... den Handelspartnern – selbst der
Franken-Schockvon 2015 än-
derte nichts daran. UnsereWäh-
rungwird deshalbweiter anWert
zulegen.»
Ohnehin, betontKoch, sei die
Stärke desFrankens primär ein
hausgemachtes Problem.Zwar
fliesse in Zeiten der globalen Un-
sicherheit tatsächlichvermehrt
ausländisches Kapital in die
Schweiz. Eineviel grössereRolle
aber spielten die inländischen
Investoren undPensionskassen:
«Seit der Finanzkrise haben sie
Hunderte an Milliarden in die
Schweiz zurückgeholt. Ein gros-
serTeil dieserGelder steckt nun
in der Bilanz der SNB.»
Selbst Finanzminister Ueli
Maurer bemerktevor einemJahr,
die Bilanz der Nationalbank habe
die «Grenze des Erträglichen» er-
reicht. «Hier möchten wir in
Zukunft etwas zurückbauen»,
meinte derMagistrat. DieKehrt-
wende könnte nun schneller
kommen als erwartet – allerdings
nicht ausfreien Stücken, sondern
auf Druck derUSA.
Für dieSchweiz wäre eine sol-
che Anklagewegen Währungs-
manipulation eine bitterePille:
Denn immerhin habenSchweizer
Firmen in denUSA fast eine halbe
Million Arbeitsplätzegeschaffen.
Zudem hat dieWirtschaft über
300 Mrd. $ investiert, mehr als
Deutschland oderFrankreich.
Das sind zwar gute Argumente
in einem Handelskonflikt.Den-
noch bleibt dieSchweiz auf den
Goodwill derUS-Regierung ange-
wiesen. Noch im Mai war Bundes-
rat Ueli Maurer guterHoffnung,
als erDonald Trump imWeissen
Haus besuchte. Er glaubte sogar
an einen baldigen Durchbruch in
einem Freihandelsabkommen.
Realistischer ist ein anderes Sze-
nario: dass Trump künftig auch
dieSchweiz an denPranger stellt
- zumBeispiel mit einerwüten-
den Tiradevia Twitter.
GrabenzwischenFinanzplatz undIndustrie
Soll die Nationalbank den Negativzins verschärfen?
Der Schock über die abrupte
Aufwertung desFrankens
Anfang2015 sitzt noch immer
tief. EtlicheBetriebe hätten ihre
Existenz verloren, sagtBarbara
Gisi, Direktorin des Schweizer
Tourismus-Verbands: «Sinkt der
Euro-Kurs wieder unter 1.05,
gerät unsereBrancheerneut in
Schwierigkeiten.» DerFranken
sei gegenüber dem Euro erheb-
lich überbewertet, bestätigt
StefanBrupbacher, Direk tor des
Industrieverbands Swissmem:
«Wir erwarten deshalbvon der
SNB, dass sie alle sinnvollen
Massnahmen einsetzt, um den
Franken zuschwächen.»
Tatsächlich hat die SNB
bereits mit milliardenhohen
Devisenkäufenreagiert –womit
sie nun eine Anklagewegen Wäh-
rungsmanipulation riskiert. Doch
bleibt der SNB nur eine letzte
Alternative: den Negativzins
weiter zuverschärfen. Was eben-
falls zu heftiger Opposition führen
würde. Mit einem Satzvon –0 ,75%
sei der Punkt nicht mehrfern,
ab dem der Schaden für die Wirt-
schaft grösse r sei als der Nutzen,
warnte UBS-Präsident Axel Weber
kürz lich in der NZZ: «Eswäre falsch,
die Schwächung desFrankens zu
einem Dogma zu erheben.»
Durch die Negativzinsen trage
der Bankensektor eineschwere
Last zugunsten derExportindus-
trie, ergänzt Martin Hess, Chef-
ökonom derBankiervereinigung.
«Die wahren Leidtragenden aber
sind die Sparervon heuteund
die Pensionärevon morgen.» Mit
noch tieferen Zinsensei sogar
ein «Bank-Run» möglich, befürch-
tet der Zürcher FDP-Nationalrat
und Banken vertreter Hans-Peter
Portmann: «Die Sparerkönnten
ihr Kapital in grosse m Umfang
abziehen und alsBargeld hor-
ten.» DieFolge wäre ein gravie-
render Vertrauensverlust.
Auch der Devisenbestand der
SNB habe ein gesundes Mass
überschritten, kritisiert Port-
mann. Diese Investitionenseien
eine Gefahr für dasVolksvermö-
gen: «Wenn dieWährungen an
Stabilitätverlieren, erleidet die
Schweiz hoheVerluste.»(sal.)
Schweiz
Nordamerikaund Ozeanien
Europa
Industrialisi ertesAsien
Nordafrika, Mittelasien
Lateinamerika
Südostasien
Afrikasüdlich der Sahara
Industrie
0 50 100 150 200 250 300
Konsument
Jährliche Lebensmitt elverschwendung pro Kopf
nachWeltre gion(kg/Jahr)
Konsumenten sind die Schlimmsten
Quelle: Bundesamt für Umwelt / Uno