NZZamSonntag8.September 2019
Wirtschaft 33
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Franziska Pfister
Der 2018 aufgeflogeneFall um
komplikationsanfällige Band-
scheiben-Prothesenweit et sich
aus. Mindestens acht Patienten
aus derSchweiz tragen oder tru-
gen eine imKörper. Nicht nur das
Salem-Spital inBern setzte das
fehlbare Implantat der britischen
Firma Ranier ein, auch ein Patient
der Klinik St. Anna in Luzern
erhielt dasModell.
Das macht die Klinikgruppe
Hirslanden, dasMutterhaus der
beiden Spitäler, in einem Unter-
suchungsbericht publik. Die An-
waltskanzleiBaumgartner Mäch-
ler hat dasDokument mit einem
Umfangvon über 100Seiten im
Auftrag Hirslandens ausgearbei-
tet; es liegt der «NZZ amSonntag»
vor. Aufgedeckt hatten denFall
Ende 2018 die «Implant Files»,
Recherchen eines internationalen
Journalistennetzwerks mitBetei-
ligungvon Tamedia.
Bis auf einen Eingriff führte
der gleicheBerner Orthopäde die
Operationen durch. Die ersten
vier Eingriffe imSalem fanden in
einer Zeitspannevon nurvier
Monaten imJahr 2011 statt. Da
war das Kunststoff-Implantat
frisch auf dem Markt.Auffällig
ist, dass er danach eine Pausevon
einemJahr einlegte. Die Gründe
dafürgehen aus dem Untersu-
chungsbericht nicht hervor.
«Kein Risiko» fürPatienten
Der letzte Eingrifffand imSom-
mer 2013 inBern statt. Da waren
Probleme bereits aktenkundig,
Ranier hatte die Operationsanlei-
tungkorrigiert. Das Unternehmen
betonte jedoch, für Patienten be-
stehe «kein Risiko».
Ein Teil der Operierten aus der
Schweiz leidet bis heute. Dreivon
ihnen mussten sich gar in der
Zwischenzeit einerweit eren Ope-
ration unterziehen,wobei einer
oder einemvon ihnen diePro-
these entfernt wurde. Für die
übrigen fünf erwartet ein unab-
hängiger,von Hirslanden bei-
gezogener Orthopäde einen un-
gewissenVerlauf. Die Klinik hat
daher allen acht lebenslangkos-
tenfreie Kontrolluntersuchungen
versprochen.
Erste Komplikationen stellt
Hersteller Ranier bereits in der
Entwicklungfest. Ärzte operieren
die Bandscheibe Pavianen ein
und entdecken schonwenigeMo-
nate später auf Röntgenbildern,
dass sie sich bei einigenverscho-
ben hat.Bei anderen bilden sich
umliegende Knochen zurück. Ein
unabhängiger Radiologe spricht
im Sommer 2009 in seinem
Befund zuhanden der Chefetage
von «besorgniserregendenVer-
änderungen».
Rücken-OPs: Was bei Hirslanden schieflief
Doch der wissenschaftliche
Beirat der Firma spielt die Ein-
wände herunter. «Das hat nichts
mit derRealität zu tun»,ver-
sic hert derBerner Orthopäde, der
in diesemBeirat sitzt. Ursache sei
vermutlich, dass dieProthesen
ungenau auf die Affenkörper zu-
geschnitten worden seien.Der
Beirat kommt überein, dass die
Probleme nicht unbedingt eine
direkteReaktion desKörpers auf
die Implantate sein müssen.
Trotz den alarmierendenBe-
funden beginnt Ranier, für eine
klinische StudieMenschen mit
schweren Rückenschmerzen zu
suchen. An 29 Patienten aus
Deutschland,Belgien und den
Niederlandenwird das Produkt
schliesslich erprobt. Anfang 2010
finden diese Operationen statt.
Die Ergebnisse liegen kaum
vor, da erhält Ranier auch schon
die Marktzulassung. Unklar ist,
ob dieBehörden im Bild waren
über die ernüchternden Ergeb-
nisse der Tierversuche. Gab Ra-
nier ihnen die Daten aus diesen
Studienweit er? DieAutore n des
Untersuchungsberichtskonnten
keinen Einblick in die Unterlagen
der Behörden nehmen und lassen
dieseFrage offen.Der Berner Or-
thopäde und Ex-Mitarbeiter von
Ranier standen fürBefragungen
nicht zurVerfügung.
Von denProbanden der klini-
schen Studie sind fünf nachPro-
blemen nachoperiertworden. Ra-
nier nahm dasProdukt 2014vom
Markt, die Firma ist inzwischen
aufgelöstworden.
Ob es weit ere Fälle in der
Schweiz gibt, bleibt offen. Eine
Umfrage bei Universitätsspitälern
ergab, dass diese dasModell nicht
verwendet haben und auchkeine
Berner Orthopäde ha tte dir ektes finanziellesInteresse am Erfolg des schadhaften Implantats
Nachoperationen vornahmen.
Gemäss heutigemWissenstand
sind nur Hirslanden-Patienten
betroffen.
Hirslanden-Ärzte sind nicht
festangestellt. Als selbständige
Belegärzte nutzen sie die Infra-
struktur, arbeiten aber auf eigene
Rechnung.Der Berner Orthopäde
befand sichgemäss demBericht
in einem Intere ssenkonflikt.
Direktion nicht informiert
Als wissenschaftlicherBeirat von
Ranier besass er auch eine Kauf-
option auf Aktien der Firma. Da-
durch sei derBerner Orthopäde
direkt finanziell intere ssiertge-
wesen am Erfolg des Implantats,
heisst es.Der Spitaldirektion ha-
be er dieTätigkeit alsBerater Ra-
niersverschwiegen, und auch
den Patienten habe er die Bin-
dung nicht offengelegt.
Inzwischen operiert er nicht
mehr imSalem, und im Kanton
Bern läuft eine Strafuntersu-
chunggegen ihn. Die Staatsan-
waltschaft ermittelt wegen mut-
masslicher schwerer Körperver-
letzung undVerstossesgegen das
Heilmittelgesetz.Der Arzt stelle
sich der Untersuchung in allen
Punkten, schreibt sein Anwalt.
Aufgrund des laufenden Ver-
fahrenswolle er jedochkeinen
Kommentar abgeben. Es gilt die
Unschuldsvermutung.
Der Skandal belastet Hirslan-
densRuf. Daher treibt die Gruppe
die Aufklärungvoran und legt die
Bindungen von Ärzten fortan
auf derWebsite offen. Patienten
sollen persönliche Intere ssen des
Operateurs an Implantaten, Wirk-
stoffen oderBehandlungsmetho-
den überblickenkönnen.Laut
einem Sprecherwurde dasÜber-
wachungssystem fürMedizinal-
produkteverfeinert, ein internes
Expertengremium prüft deren
Auswahl.
GETTY
IMAGES
Auch Schweizer Patienten haben Probleme mit schadhaften Ranier-Implantaten.
Medizinalprodukte
Höhere Hürden für Zulassung
KünstlicheBandscheiben blei-
ben im besten Fall lebenslang im
Körper. DieVorgaben für die
Marktzulassung sind jedoch
deutlichwenigerstreng als jene
für neue Medikamente. Pharma-
unternehmen müssen belegen,
dass ihr Wirkstoff besser
anschlägt als bestehende. Nicht
so Medizinaltechnik-Firmen. Der
Hersteller derschadhaften Pro-
these erhie lt die EU-Zulassung
nur Monate, nachdem sie ers ten
Testpatienten eingesetzt
word en war. Eine behördlich
autorisierte Prüfstelle in Gross-
britannienverlieh derFirma
Ranier ein europaweit gültiges
Industriesiegel, dassogenannte
CE-Zeichen. Das Siegel belegt
aber lediglich, dass das Implan-
tat technisch funktioniert.
Nach mehreren Skandalen hat
die EU nunstrengere Regeln
erlassen, dieab 2020und 2022
auch in der Schweiz gelten
werd en. Hersteller müssen
fortan Lieferketten wie Produk-
tionsverfahrenoffenlegen,
klinische Daten und einetechni-
sche Dokumentation beibringen.
Und das gilt nicht nur für neue
Produkte. Auch Implantate, die
bereitsin Gebrauch sind,werd en
nachgeprüft. «Die Einhaltung
der Vorschriften wird für die
meisten Hersteller kein Zucker-
schlecken», schreiben die Medi-
zinexperten derVersicherung
Axa.(frp.)
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