Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1
NZZamSonntag8. September 2019
Kultur 61

Der Chorsteht füreine heutige Generationvon Künstlern,welche dieVolksmusikvom konservativen Image befreienwollen.

Folklore trägt


TolleundHipsterbart


Der Männerchor Heimweh reitet mit einem Amalgamaus volkstümlicher Musik


undMundartpopauf einer unheimlichen Erfolgswelle.Von Marko Lethinen


E


s sind dieseGeschichten, die
Heimweh besondersgerne
erzählen.Beschauliche Anek­
dotenvon Liebe undBesin­
nung auf der Alp oder
irgendwoweithinten imTal.
Momentaufnahmen aus einer
Heimat, in der echte Werte noch Gültigkeit
haben.Der zwölfköpfige Männerchor
zeichnet eineWelt, dieVertrautheit, Unbe­
schwertheit undGeborgenheitvermittelt –
eine eskapistische, idealisierte, klischiert
ländliche und überaus plakative Welt.
«Für mich bedeutetHeimat in erster Linie
Sehnsucht –Sehnsucht nachvertrauten
Menschen und Orten und nachvergangenen
Zeiten», sagt ChorgründerGeorg Schlun­
egger. Dass der imBerner Oberland aufge­
wachseneProduzent dabei dick aufträgt,
gibt er zu. «Ein bisschen Pathos darf sein.
Schliesslichwill ich mit meinenTexten tiefe
Emotionenvermitteln. Und dieMusik ist ja
ebenfallswuchtig. Das passt.»

Die Büezer stürmen dieCharts
Der ehrliche Büezer, das bescheidene
Arbeitstier – auch andere urschweizerische
Tugenden schwingen mit.Auf derWebsite
werden dieSänger alsBauern, Handwerker
oderBeizer skizziert, die aus ihrem Alltag
«zu Hause imMuotatal, auf dem Urnerboden
oder amJurasüdfuss» erzählen. ImPresse­
text ist passenderweise von «geerdeten
Schweizer Männern» dieRede. Diese Männer
sind bodenständig undvolksnah. Und sie
haben Erfolg.
Der Chor ist mit zweiWerken bereits
zuoberst in denSchweizer Chartsgelandet.
Das Debüt kletterte auf Platz drei. Er hat über
100000 Albenverkauft, dafür mehrfach
Platin erhalten und zweiSwiss Music Awards
gewonnen. Er hat ausverkaufteTourneen
absolviert – und anSchwingfesten und
netten Gemeindefeiern auf demLand für
rotweissgefärbte Stimmunggesorgt.

Ihre Geschichten haben sichgelohnt für
Heimweh. Und so singen und jodeln die Man­
nen auch auf ihremvierten Album «Ärde­
schön»von ländlicher Liebe undHeimat­
gefühlen. Sie jauchzen zur «Alpabfahrt» und
stossen an auf guten Käse. «Äs isch Alpab­
fahrt bi üs imTal / D Herbschtsunnä schiint
numal / Glii scho gits dr erschtiSchnee.»
An anderer Stelle erinnern sie sich an das
Leben in einem altenBauernhaus: «Im
Summer hets mängsFeschtli gäh /Ds halbe
Dorf isch eis cho näh / U me het tanzet bis id
Nacht.» «Nume einisch» istwiederum ein
einfaches Liebeslied.Viele Herzenwünschen
sich das Mädchenvom Land. «Aber di, di gits
nume einisch.»Schwülstigwird es schliess­
lich im Titelstück: «Am Himmel stad äs
Abigrot / Und laad die Alpe glüe / Mir luegid
guet uf üsesLand / Und äs luegt guät zu üs.»
Und in derFerne erklingt ein Alphorn.
Diese Inhalte greifen.Der eigentliche
Schlüssel zuHeimwehs Erfolg ist jedoch ein
anderer.Der Chor steht für eine aktuelle
Generationvon Künstlern,welche dieVolks­
musikvom konservativen Image befreien
wollen. Siegeben ihr eine moderne Ästhetik
und sind offen, zugleich stark am Main­
stream orientiert.
Folklore,kombiniertwomit auch immer,
verspricht ein grossesPublikum,Berüh­
rungsängste gibt es deshalb kaum noch.
Ländler mitMetal­Gitarren?Volkstümlicher
Schlager mit Elektro­Rhythmen?Warum
nicht. Ein Trachtenchor, der auf Hardrock
steht? Alles scheint in diesemGenre derzeit
möglich.
Sänger wie Trauffer oder Andreas Gabalier
haben mit diesemSelbstverständnis die
bisher grössten Erfolgegefeiert. Und auf
derselbenWelle reiten auchHeimweh, wenn
auch nicht so offensichtlich und unverhoh­
len. «Wir möchten mit Traditionen brechen»,
bestätigtGeorg Schlunegger. «Heimweh ist
ein Brückenschlag.Ich selbst bin zwar mit
traditionellen Klängen aufgewachsen, aber

«Für mich
bedeutet
Heimat Sehn-
sucht – Sehn-
sucht na ch
vertrauten
Menschen und
Orten und nach
vergangenen
Zeiten.»

im Pop bin ich zu Hause. Das hört man mei­
nen Liedern an.»
Schon die Instrumentierung offenbart es:
Die Musik desKonzept­Chors, in dem der
Gründer selbst seit dem zweiten Album nicht
mehr mitsingt, ist in erster LinieSchlager­
pop,verkleidet in einen Chüjermutz. Das
Akkordeon hält sich im Hintergrund, Zithern
oder Klarinetten sindkeine zu hören, dafür
Synthesizer, Gitarre,Bass, immerhin aber
Kontrabass – undSchlagzeug. Die Strophen
singt jeweils einLeadsänger, Chorgesang
und Jodel gibt es nur in denRefrains.

Traditionsbewusst undcool
Und dieTypen hinter den Stimmengeben
sich betont modern. Das Credo: Traditions­
bewusstsein und Coolness sindkein Wider­
spruch,Folklore muss nicht schnurrbärtig
sein. Sie trägtTolle und Hipsterbart – und hat
Tattoos.So sindHeimweh auf ihrenPromo­
foto s wie Role Models aus demBauern­
kalender in Szenegesetzt und nicht etwa als
schüchterne Bergmusikanten, die nicht
wissen,wie sie sichvor einer Kamerageben
sollen.
Die Mitgliederwerfen sich inPose, die
Farbgebung der Bilder istzeitge mäss.Georg
Schluneggerversichert, dass dieSänger
seines Chors einen handfestenBezug zur
Volksmusik haben. Die Steckbriefe auf der
Website aberverraten: Diese Männer hören
vor allemAC/DC, Nightwish, Shakra,Aero­
smith undGotthard und nicht etwaPeter
Zinsli. HarteJungs mit tätowierten Unter­
armen mutieren hier zuJodlern aus dem
Dorf – oder umgekehrt.
Das Abendrot über denBerggipfeln ist mit
Händen greifbar.Der Bauernjunge bezirzt
seineJuge ndliebe. Und «Ärdeschön»wird
sich wohl schon bald an der Spitze der
eidgenössischen Hitparadewiederfinden.

«Ärdeschön» vonHeimweherscheintam
13.SeptemberbeiHitMill/Phonag-

Mami,


allesist


gut!


Charles Lewinsky warf in


dieser ZeitungWerbern
«Publikumsverarschung» vor.

EineReplik von Li vio Dainese,


Werber desJahres 2018.


Als Werber bin ich esgewohnt, Haue zu
bekommen:Letztlich sind oftwir es, die
herhalten müssen für alles, was dieMen­
schen am Kapitalismus stört. Das ist okay,
gehört zumBerufsrisiko. Aberwenn der
Autor, den meineMutter so mag, in der
Zeitung, die sie liest, derart undifferenziert
den Berufsstand ihresSohnesverunglimpft,
dann istFeuer imFamilien­Chat.Mein Sohn,
der «Publikumsverarscher»? Da schmerzt
das Mutterherz. Undweil sich bestimmt
noch andereMütter undVäter Sorgen um die
moralische Integrität ihres Nachwuchses in
der Werbebranche machen, möchte ich hier
meinerseits auch einen«Weckruf»veröffen t­
lichen – und zwar dafür, dieKonsumentin­
nen undKonsumenten endlich als mündige,
kritischeMenschen zu akzeptieren.
«Warum glaubenwir eigentlich diesen
Märchenerzählern?»,fragt Herr Lewinsky im
Titel und echauffiert sich darüber, dass die
WerbungProdukte mitGeschichten verwebt.
Da stecken zwei Themen drin. Erstens:
Könnte es sein, dassHerr Lewinsky tatsäch­
lich glaubte, dass dievon ihm erwähnten
Pralinékugelnvon Handgefülltwerden, bis
er während einerFührung durch die Lindt­
Fabrik feststellte, dass das gar nicht stimmt?
Sonst gehe ich davon aus, dass diewenigs­
ten Menschen dieGeschichten, die ihnen die
Werbung erzählt, tatsächlich für bareMünze
nehmen. Die aufgeklärten Bürger und Bürge­
rinnen derJetztzeit sind fähig, zu erkennen,
wann und mitwelchen Mitteln ihnen etwas
verkauftwerden will, und haben auch die
Plattformen, um sich zuwehren. Und damit
sindwir, zweitens, beim Hauptpunkt: dem
Stilmittel derGeschichte nämlich, dessen
Verwendung in derWerbungHerrn Lewinsky
so stört.Ich habe ihn allerdings nicht ganz
verstanden:Setzt erwirklich die Inszenie­
rung einesProduktes mit demgezielten
und politisch motiviertenVerbreiten von
Fake­News gleich? Ist er derMeinung, dass
Geschichten allein Eigentumvon Li teratur
und Kultur sind und nichts in den Niederun­
gen desKommerzes zu suchen haben?
Möchte er Geschichten verbieten, die nicht
nur um derGeschichte willen erfunden
wurden? Dann hätten Religionen und die
meisten Kinderbücher ein Riesenproblem.
Zurück zurWerbung: Eine Marke oder ein
Produkt gutzulügen, funktioniert auf Dauer
nicht. GuteWerbung basiert auf sorgfältig
gewonnenen Erkenntnissen, auf ganz spezifi­
schen Eigenheiten von Marke oderProdukt.
Um diese hervorzuheben, bieten sich
Geschichten an.Geschichten sind Allgemein­
gut. Sie sprechen alle anders an.Wenn Sie
also nach einemMerci­Werbespotgerührt
sind und jemandem mitMerci­Schoggi danke
sagenwollen: Grossartig.Ich möchte übri­
gens meinem Mami danken. Dafür, dass sie
mir als Kind soviele Geschichten erzählt hat.
Dadurchwurde dieWelt gross.Geradeweil
die meisten davon gar nicht wahrwaren.

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