Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1
NZZamSonntag8. September 2019
Kultur 65

Streifzug


durchein


Sudelheft


D


er Wiener Dramati-
ker Johann Nes-
troywar listen-
reich im doppelten
Sinn. Er war listig
wie Odysseus,
führte aber auchgerne Listen.
Eines seiner Manuskripte heisst
«Reserve». Es enthält auf 35
Seiten 254 durchnummerierte
Notizen:Gedanken undBeob-
achtungen, Formulierungen und
Wortspiele, die ihm originell
erschienen und die er deshalb
aufbewahrte, um sie beiGe-
legenheit in seineKomödien
einzubauen.Was erverwendet
hatte, strich er ab –wie Thomas
Mann, der später ähnlichver-
fahren sollte. Er notierte zum
Beispiel dieWendung«Wechsel-
seitigeLebensverbitterungsan-
stalt»; darauswurde im Stück
«DerFärber und seinZwillings-
bruder»von 1840 derSatz: «Das
Geld, was man auf dieHochzeit
ausgiebt ist sehr häufig die erste
Einzahlung in diewechselseitige
Lebensverbitterungsanstalt.»
ImJahr 2000 hat die Nestroy-
Gesellschaft dasKonvolut ediert.
Wir sehen jeweils auf der linken
Seite die kaum leserlichen Krit-
zeleien, in denen derAutor zu-
dem nochwild herumgefuhr-
werkt hat, undrechts einezei-
chentreue Transkription.Schon
mit seinem ersten Eintrag nimmt
Nestroyunsgefangen: Nicht die
Nacht sei die Stunde desGewis-
sens, sagt er, sondernvielmehr
derMorgen danach. Hat man
Geld durchgebracht, einVerbre-
chen oder eineLächerlichkeit
begangen, so steigen dieGe-
spenster derVergangenheit auf:
«Der Kirchhof der Erinnerung
schikt seine gräulichenTodten
heraus, derMorgen ist die Stun-
dewouns der böseFeind am
wenigstenverführen aber am
meisten quälen kann.»
Treffender kann manSchmerz
undReue nach einer durchspiel-
ten oder durchzechten Nacht
nicht charakterisieren; was dabei
schlimmer ist, dasVerbrechen
oder dieLächerlichkeit, bleibt
offen, und man ahnt schon, dass
derVorsatz «Nie mehr!» nicht
langehaltenwird.
In vielen Notaten zeigen sich
Nestroys Sarkasmus, seine Miso-
gynie und sein Nihilismus, auch
seine innereLeere undLebens-
angst.Gegen denTanz seiner
Gedanken, schreibt er, sei die
wilde Jagd einMenuett. In der
Täuschung sieht er «diefeine
aber starkeKette, die durch alle
Glieder derGesellschaft sich
zieht; betrügen oder betrogen
werden das ist dieWahl (undwer
glaubt es giebt ein Drittes der
betrügt sich selbst)».Der lateini-
schenSentenz «Homo homini
lupus» setzt er entgegen, dass
zweiWölfe sich begegnenkön-
nen, ohne sich zu fürchten, zwei
Menschen aber nicht.«Wohl-
geboren» hält er für «das
dümmsteWort, denn jeder
Sterbliche istWehgeboren». Er
freut sich an der Steigerungs-
form «rökököer» fürRokokound
leitet dieWichtigkeitvom Wicht
her.Soverspottet erModen und
Hierarchien.Auchfolgender
Gedanke kann uns dienen:«Was
hat denn die Nachwelt für uns
gethan? Nichts. Das nehmliche
tue ich für die Nachwelt.»

Zugabe


ManfredPapst


Erst vor kurz em hat das Gjirafa-Team das neue Gebäude in Pristina bezogen.

Manhatmit
Spezialautos
erstmalsStreet-
View-Kart ender
Regionerstellt.

GiraffederHoffnung


ImSchattenderTechgigantenwächst inKosovo eineeigenständigeInternetkulturheran.


AnderSpitzestehteineFirma,deres ummehralsProfit geht .VonSarahGenner


I


m Sommer ist inKosovo«Schatzi»-Sai-
son. Die«Schatzis» leben inDeutsch-
land oder in derSchweiz und besuchen
in denSommerferien ihrekosovari-
schenVerwandten. Nicht selten schi-
cken sie auch schon während des
JahresGeld. Auf den Parkplätzen und Strassen
wimmelt esnun von schönenAutos –viele
davon mitSchweizer Nummernschildern. Am
Abend pulsiert in der HauptstadtPristina die
wichtigste und autofreie Flaniermeile der
Republik: derMutter-Teresa-Boulevard. Man
trifft auffallendviele junge Menschen an.
Kosovoist nicht nur das jüngste Land Euro-
pas, sondern auch jenes mit der j üngsten
Bevölkerung.Gleichzeitig will rund die Hälfte
der jungen Kosovaren emigrieren. DasLand
leidet unter einemBrain-Drain: Es gibtwenig
Hoffnungauf Arbeit– viele klugeKöpfever-
lassenKosovo. 500 Euro gilt als guterMonats-
lohn, und dieJugendarbeitslosigkeit ist mit
über 50Prozent die höchste Europas.
ImFebruar 2008 erklärt sichKosovofür
unabhängigvon Serbien. Nur die Hälfte der
Mitgliedstaaten derVereinten Nationen
erkennen dieRepublikKosovoan.DasGebiet
bleibt umstritten. Die starkePräsenz inter-
nationaler Organisationen und der Europäi-
schen Union ist unübersehbar. Eine Bill-Clin-
ton-Statuewinkt in der Hauptstadt am Bule-
vardi Bill Klinton vor einer riesigenUSA-
Flagge.Auch andereDenkmäler drücken die
Dankbarkeit derBevölkerung für die Nato-
Intervention imKosovo-Krieg aus.Schätzun-
gen gehen davon aus, dass bereitsvor dem
Krieg einViertel derKosovo-Albanerinnen
und-Albaner imAusland lebte.

Google,Amazon,Netflixineinem
Die junge Firma Gjirafa ist so etwaswie ein
Silberstreifen amHorizont. Sie ist die am
schnellsten wachsendeTechnologiefirma in
derRegion. Gjirafa ist das albanischsprachige
Google,kombiniert mit Amazon und Netflix.
Ausgerechnet durch das mangelnde Inter-
esse derUS-Digitalwirtschaft am albanischen
Sprachraum ist dank Gjirafa ein digitales
Ökosystem entstanden, das unabhängigvon
der massiven Konzentrationvon Daten und
wirtschaftlicher Macht derUS-Tech-Gigan-
ten ist. Davon kann der deutsche Sprach-
raum nur träumen. Gleichzeitig kann sich
auch Gjirafa den Marktlogiken der Digital-
wirtschaft nicht entziehen und wächstregio-
nal langsam zurMonopolistin heran. Aber
ganz soweitscheint es noch nicht.

Der kosovarischeTaxifahrer muss eine
Weile suchen, bis manvor einem auffallend
modernenGebäude aussteigt. Die neuen
Gjirafa-Headquarters an den Stadträndern
von Pristina sind auf gängigen Digitalkarten
noch nicht erfasst. Erstvor einemMonat hat
das Gjirafa-Team das neueGebäude
bezogen. Es istteilweise noch imBau, fleis-
sigwird da und dortgearbeitet. Moderne
Glasfronten, Open-Space-Büros, coole junge
Menschen inT-Shirts,Hoodies und moder-
nenHemden.Wenig unterscheidet die
Atmosphäre hiervon einerTechnologiefirma
wie Microsoft oderGoogle. «Hier soll bald
eine riesige Giraffe stehen», erklärt Diogjen
Elshani, Mitgründer und Chief Operating
Officer, undzeigt auf einen noch leer-
stehendenSchacht.
Elshani empfängt die Gäste in einem hell-
blauenHemd. Er ist Ende 30,wirkt besonnen
und sympathisch. In einem gläsernen
Besprechungsraum erklärt er die Hinter-
gründe, während am Empfang Mitarbeitende
und Partner ein- und ausgehen. Dass der
albanische Markt für dieTech-Giganten aus
denUSA nicht interessant zu sein scheint, ist
für Gjirafa Glück im Unglück.
Google beispielsweiseverlässt sich in
vielenLändern darauf, bereits digitalisierte
Inhalte zu indizieren, zu aggregieren und
durchsuchbar zu machen. Gjirafa musste
damit beginnen, dieRegion zunächst zu
digitalisieren: Man hat Busfahrpläne an Bus-
haltestellen abfotografiert und mit Spezial-
autos erstmals Street-View-Karten der
Region erstellt. Gjirafa betreibt eine Such-
maschine, die auf albanischeWeb-Inhalte
optimiert ist und auch News aggregiert.
Geschäftlich besonders gut läuft das Digitec-
ähnliche Online-Versandhaus Gjirafa 50 mit
Hardware und Games. ImGebäude befindet
sich zudem ein Filmstudio,weil Gjirafa
analog zu Netflix nicht nur eine Streaming-
Plattform betreibt, sondern auch Inhalte
produziert. EinRenner ist die Comedy-Serie
«Schengen Visa», die satirisch mit derTat-
sache umgeht, dass sichKosovaren ohne
Spezialvisum imSchengen-Raum nicht
bewegenkönnen.

Ökonomische Entwicklung
Für die Gjirafa-Gründer ist ihr Engagement
kein rein ökonomisches. Sie alle hätten
lukrativere Möglichkeiten, imAusland zu
arbeiten. Sie sprechen tadelloses Englisch,
sind IT-Spezialisten undgönnen sichwenig

Freizeit. Obwohl der CEO und Gründer
MergimCahani in denUSA hätte Karriere
machenkönnen, entschied er sich nach
seiner Zeit an der NewYork University, in
Kosovoan der Universität Informatik zu
unterrichten. Esgelang ihm, einige dieser
Studierenden später als Mitarbeitende
zugewinnen.
Währenddessen blieb Elshani inKosovo
und arbeitetenach dem Krieg zunächst für
die Uno, dann für die Europäische Union. Es
entsteht der Eindruck, dass er mit einer
Firma, die Arbeitsplätze für intelligente
junge Menschen bietet und Zugang zu
Informationen auf Albanisch ermöglicht,
langfristig mehr für die Zukunft desLandes
bewirken kann, alswenn er im Rahmen
dieser internationalen Organisationen
arbeitet.

KantonKosovo
Jede Startup-Geschichte lebt nicht nurvon
gutenIdeen, sondern auchvon Investitionen.
CEOCahani, der auf eine amerikanische Art
lockerwirkt, erzählt: «In der Startphasegeht
es immer umVertrauen.Eswarmein damali-
ger Zimmergenosse an der NewYork Univer-
sity, der uns Türen öffnete. Er lud uns nach
Prag an eine Startup-Investorenrunde ein.»
Gjirafa erhält inzwischenGeld von zahl-
reichen Kapitalgebernwie RockawayCapital.
Über Umwegeführen die Spuren auch nach
Zürich: Die Amerikanerin Esther Dyson war
Gjirafaswichtigste Startkapitalgeberin. Sie
ist in Zürichgeboren – ihreMutter war eine
Schweizer Mathematikerin. Dyson war IT-
Journalistin und Mitgründerin der ICANN
(Internet Corporationfor Assigned Names
and Numbers), bis heute eine derzentralen
Schaltstellen des Internets.Heute ist sie eine
der mächtigsten Investorinnen und in zahl-
reicheTech-Startups involviert.Was hat sie
überzeugt, bei Gjirafa einzusteigen? «Zugang
zu digitalen Inhalten ist ein sozialesBedürf-
nis. Eine Firma, die dies imBalkan sicher-
stellt,wird erfolgreich sein», sagt Dyson.
Gjirafas Angebot ist nicht aufKosovo,
Albanien und Nordmazedonien beschränkt.
Neben derweltweitverstreuten albanischen
Diaspora leben in derSchweiz 175000 Men-
schen mitWurzeln inKosovo. Mehr als drei
Prozent derSchweizerBevölkerunggeben
Albanisch als Hauptsprache an – das ent-
spricht einerViertelmillionMenschen
und derWohnbevölkerung eines mittel-
grossenSchweizer Kantons.

CEO und Gjirafa-Gründer
Mergim Cahani.

JAN NEVILE
Free download pdf