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Tipps
Punk aus dem Appenzell
Albert Oehlen: unfertig.Kunstmuseum
St.Gallen imLOK, bis 10.11.
Ganz hinten in derEcke darfsich der ganze
kleinbürgerliche Mief doch nochkondensie-
ren: Der Bademantel hängt neben demWC.
Auf dem Spülkasten liegt die Ersatzpapier-
rolle unter einem Häkelhut. Und dieZahn-
bürste grüsst zum Gillette-Rasierschaum
hinüber.Kein Wunder, dass derKünstler sich
in dieserLage mit aufgerissenenAugen ge-
malt hat und dasSelbstporträt über der
Badewanne steht.Doch ganz so schlimm ist
es nicht. AlbertOehlen (*1954) spielt mit
Erinnerungen so sehrwie mit derKunst.
In denMund hat er sich einenrealenPinsel
gesteckt, der auf der Bildflächewie eine
Pfeifegespiegeltwird. Magritte oder Maigret
gilt gleichviel. Der Maler und derKommissar
verstanden sich beide aufs Antäuschen und
Verstellen, und eine surreale Grundhaltung
zumLeben versteht sichvon selbst.
AlbertOehlen hat die Installation in seiner
Ausstellung in der ehemaligenLokremise
hinterm St. GallerBahnhof selbst eingerich-
tet. 25Gemälde und Zeichnungen von 1981
bis 2019 sowie ein schmuddeligesHeimkino
kommen dazu. Und er nutzt den kleinen
Überblick zu einerBesinnungspause auf die
eigene Malerei und unsereGegenwart. Er hat
Anfang der 1980 er Jahre mit Martin Kippen-
berger undWerner Büttner eine Haltung
entwickelt, die als «bad painting»vermarktet
wurde. Punk war angesagt, dieGesellschaft
verhockt. Alkohol, Drogen. Man kultivierte
sich selbst, derRest war Establishment,
gegen das man nur mitVerweigerung und
Unterbietung ankam.Fertig war dasGegen-
teil von vollendet. Also malteOehlen mög-
lichst banale Themen in einer kruden Art.
Damit liess sich der ErlöserBeuys ebenso
unterlaufenwie die neoexpressive Malerei
mit ihremHunger nach Bildern.
Das Experimentelle und Anarchische,
die Offenheit für jede Bildquelle hat Albert
Oehlen sich trotz seinerWeltkarriere mit
Wohnsitz im Appenzell erhalten.Zwei Werk-
gruppenvon 1985 zeigen diePunk-Attit üde,
eineSerie aus den letztenJahrenreduziert
Malerei auf lineare baumartigeGebilde und
Magenta-Farbflächen. DieserReduktion
treten am Computergenerierte, halbtranspa-
rente Panelsgegenüber, in denen sich Sujets
wie karierte Tücher undgesprayte Linien
mit dem Umfeld mischen und das Bild zum
Raumelement machen.Widerstand ist
immer noch die beste Energie für diesen
eleganten Fighter.GerhardMack
Ausstellung
Kurz und knapp
Albert Oehlen: «Badezimmer»,2019.
PRO LITTERIS
Kurz und knapp
Late Night★★★✩✩
Molly (Mindy Kaling)soll die
Gagsschreiben für Late-Night-
Moderatorin Katherine New-
bury (EmmaThompson). Bald
muss diese zugeben, dass sie
ohne Molly nicht mehr aus-
kommt. Thompson trägt den
Film, der mitveralteten Tradi-
tionen bricht und die Liebes-
komödie neu denkt.
Die fruchtbaren Jahre sind
vorbei★★★★✩
Leila will ein Kind. Um jeden
Preis.– Di e Sch weizerin Nata-
scha Beller knöpft sich in ihrem
ErstlingFrauen vor, die so tun,
als ob Kinderkriegen das
einzige Ziel im Lebensei. Eine
absurd-böse Komödie, ein biss-
chen gesellschaftskritisch und
das Gegenteil von moralisch.
The White Crow★★★✩✩
Rudolf Nurejewreist in den
60ern mitseiner Truppe nach
Paris. DasPublikum liebt den
jungenTänzer, das KGB mag
dessen Liebe für diewestliche
Kultur nicht undversucht ihn
zurück in die UdSSR zu brin-
gen. Ein zukonventionell
gemachtes Porträt über den
rebellischenTänzer.(dbc.)
Ich isteine andere
X&Y.★★★★★
S/DK 2018. Regie:Anna Odell.
Mit:Anna Odell, Trine Dyrholm,
Mikael Persbrandt, Sofie Gråbøl.
«X &Y» hä tte eine peinliche
Übung inSelbstbespiegelung
werden können. Aberwenn die
schwedischeKünstlerin Anna
Odell öffentlich über sich selbst
nachdenkt, dann tut sie das
nicht, um sich zurSchau zu
stellen, sondernweil sie grund-
sätzlichMenschliches ergründen
will, das mehr mit uns allen als
nur mit ihr allein zu tun hat. Sie
nennt «X&Y» ein «soziales Expe-
riment», und dasgeht so:
Odell, diePerformancekünst-
lerin, die jede Grenze überschrei-
tet, und MikaelPersbrandt, in
Schweden der Inbegriff des
Kino
Frauenhelden,verbringen meh-
rereWochen zusammen auf
einem Filmset. Das Ziel ist es,
ihre beidenPersönlichkeiten zu
demontieren, bis nur noch das
Animalische übrig bleibt.Für
dieseDemontage spielen sechs
Kolleginnen undKollegen, alle
bekannt aus dem dänischen und
dem schwedischen Kino, jever-
schiedene Aspektevon Odells
undPersbrandtsPersönlichkeit.
Seine Rolle zuverlassen, ist
verboten. Odell sagt denBetei-
ligten, man probe hier für einen
Film. Die Arbeit, diewir sehen,
ist zugleich dasResultat.Wir
beobachten, wie ihreverletz-
lichen, dominanten, sinnlichen
oder rationalen Alter Egos auf
engstem Raum miteinander
auskommen.Bald blicktman aus
der Vogelperspektive auf dieses
Testgelände für menschliches
Verhalten hinunter, bald ziehen
einen Close-ups mitten hinein in
intimeMomente. Ob Streit oder
Sex. Und nieweiss man: Ist das
jetztgespielt oder echt? Das ist
ein genialerKunstgriff. Odell
schützt damit ihre eigene und
die Persönlichkeitvon Pers-
brandt, die sich hier zumVer-
suchsobjekt machen.
«X &Y» wirkt niewie eine nar-
zisstischeÜbung. Esgeht viel-
mehr um dieDekonstruktion der
Bilder, die die Öffentlichkeitvon
den zwei Stars hat, eineDekon-
struktionvon Vorurteilen also,
die wir der neurotischenKünst-
lerin und dem Alpha-Männchen
gegenüber haben.Wenn «X&Y»
endet, ist das Experiment noch
nichtvorbei: Odell, die im Film
ein «Kunst-Baby»will, geht
schwanger vom Set. Inzwischen
ist sieMutter geworden. IstPers-
brandt derVater? Wir werden es
nie erfahren.Denise Bucher
Vera Vitali, das sinnliche Alter Egoder Regisseurin, will ein «Kunst-Baby» von MikaelPersbrandt.
Die Aeroflot über
Montreux
Festspielsommer
Septembre Musical Montreux-
Vevey:Konzerte am8. und9.9.
in Montreux.★★★★✩
Ob dierussische Fluggesellschaft
Aeroflot schon einmal Partner
einesSchweizer Klassikfestivals
war?Der SeptembreMusical
Montreux-Vevey und sein neuer
Direktor Mischa Damev machen
es jedenfalls möglich.Der künst-
lerischeLeiter der Migros Clas-
sics stellt in Zukunft jeweils ein
Land in den Mittelpunkt. Damit
will man die in der Diaspora
lebendenMenschen sowie die
Freunde jenesLandes anspre-
Bühne
chen und Partner mobilisieren.
Für sein erstesFestival stellt
der Russenfreund DamevPutins
Reich in denFokus.
Grandios war dieGeste, zur
Festivaleröffnung amvergange-
nenSonntag dasMusikmärchen
«Peter und derWolf» gratis zu
zeigen. Die1800 Gäste waren
zwar unruhig, aber nichtwenig
begeistert. Kaum war derWolf
gefangen, standen dieFestival-
Hauptakteure, DirigentValery
Gergiev und das Orchester des
Mariinsky-Theaters, erneut auf
demPodium imAuditorium
Stravinski und gaben ein drei (!)
Stunden dauerndesKonzert. Im
Unterschied zu jenem, das der
Putin-FreundGergiev zweiTage
vorher in Luzerngeleitet ha tte,
aber ein enttäuschendes:Teile
aus Prokofjews «Romeo und
Julia» waren eher für einen
Tanzbären als für eine lilien-
füssigeBallerinagespielt, und
TschaikowskysVierte lärmte
grell in denSaal. Lichtblick war
der technisch überragendeJung-
pianist Alexandre Kantoro w.
Die Konsequenz, mit der das
«Russland»-Thema in 40Veran-
staltungen vielfältig umgesetzt
wird, macht Eindruck und dürfte
demFestival neueFreunde
bringen. Heute Sonntag steht auf
Schloss Chillon ein Kammer-
konzert mit jungen Russen an,
morgen ein Abend mit dem
MoskauerMusical-Theater.
2020 soll Israel das Gastland
sein.Vielleichtwird dann die
Fluggesellschaft El Al einFesti-
valpartner sein.ChristianBerzins
Oleg Iwenko als R. Nurejew.
Valery Gergiev dirigierte in
Montreux gleich vier Konzerte,
eines für Kinder.
JESUS DIGES
/ EPA / KEYSTONE
JudithKuckart: KeinSturm,
nur Wetter.Roman.Dumont,
Köln 2019. 224S., umFr. 34.–,
E-Book 23.–.★★★★✩
Die Männer sind immer 36 Jahre
alt im neuen Roman der deut-
schen Schriftstellerin Judith
Kuckart. Ihre namenlose Heldin
ist 18,als sie amBerlinerBahnhof
Zoo den Althippie Viktor ken-
nenlernt. Mit ihm bleibt sie
15 Jahre zusammen. Als sie sich
danach in Johannverliebt, einen
Dramaturgen, dersein Geld als
Putzmannverdient, ist sie gleich
alt wie dieser. Im dritten Teil des
Romanssodann ist sie 54 und
klaut einem 36-jährigen Mann
namens Robert Sturm am Flug-
hafen Tegelseine Visitenkarte.
Sechs Tageverbringt dieser
Robert auf einer Dienstreise. Das
ist die Jetztzeit des Romans, in
der dieErzählerin, Ärztin in einem
neurologischen Institut, auf die
Rück kehr des Manneswartet, ihm
in en tflammten Gedanken nach-
hängt undverstörende Stunden
erlebt. Immerwiederschiebt sich
die Vergangenheit in ihre Gedan-
ken. Wasweiss sie, undwo ist das
geblieben,was sie vergessen hat?
In in tensiven Bildernzeigt Judith
Kuckart, wie das,was wir verges-
sen haben, uns zu dem macht, was
wir sind. Siesetzt Fragestellungen
der Neurobiologie in Literatur um,
ohne dass das je aufgesetzt wir-
ken würde. Ihre Gedanken sindoft
düster, doch ihre Sprache leuch-
tet. Sie mussnur etwas ansehen,
und schon istes neu. Nicht der
Bogenarchitektur des Erzählens
gilt ihr Interesse, nicht einem viel-
figurigen Zeitgemälde. Die kleins-
ten Verschiebungen der Wahr-
nehmungfasst sie ins Wort.(pap.)
Litera tur
Ursula Mauder: TheFeel of Life.
Unplugged.Verlag Antje Kunst-
mann.★★★★✩
Als Drehbuchautorin und Sängerin
hat Ursula Mauder sich einen
Namengemacht. Etliche Projekte
hat sie mit ihrem Ehemann, dem
Journalisten und Erfolgsautor Axel
Hacke («Streiflicht», «Derweisse
NegerWumbaba»),realisiert. Als
Musikerinwar sie bishervor allem
dem Jazz und dem «Great Ameri-
can Songbook» zugetan. Nun legt
sie ein bemerkenswertes Sin ger/
Songwriter-Album mit 16 eigenen
Titelnvor. Die englisch gesunge-
nen Lieder handelnvon Liebeund
Tod, Hoffnung undVerlust, Mut
und Scham. Unaufgeregt sind sie
und dochintensiv. Sie enthalten
Elemente von Folk, Country und
Blu es. Meist sind sie auf einen
ruhigen Ton gestimmt, es gibt
aber auch erdigen Groove
(«Cheater’s Blues») undverein-
zelte Up-Tempo-Nummern.
Ursula Mauders Stimme hat ein
schimmerndes Timbre, die Sän-
gerin phrasiertsorgfältig und
lässt die Silbenschön ausklin-
gen. Manchmal haucht sie ein
bisschen mehr als nötig.Vorzüg-
lich ist dieBegleitband mit den
beiden Gitarristen Paulo Morello
und Luke Cyrus Goetze. Wie ihre
meist auf akustischen Instru-
menten gespielten Akkorde und
Melodielinien ineinandergreifen,
ist eineFreude. Chris Gall am Kla-
vier, Benni Schäfer am Kontra-
bass und Walter Bittner an der
Perkussion agieren empathisch.
Fazit: Einreifes und doch fri-
sches Album; dieschlichten, ein-
gängigen Songs entfalten bei
mehrmaligem Hören ein immer
reicher es Bouquet.(pap.)
Pop
Edith Mathis: Liederabend.Karl
Engel (Klavier), Audite.★★★★★
Unglaublich,welche Klangwolken
am LucerneFestival überall die
Jahreaufsteigen und im Nimmer-
wiederhörenverklingen. Doch
erfreulicherweise zeichnet das
Schweizer Radio viele Konzerte
auf. Ein Schatz ist da gewachsen,
den dasFestival in der Reihe «His-
toric Performances» ab undan als
CDs derstaunenden Welt präsen-
tiert. Die 81-jährige Luzerner
Sopranistin Edith Mathis wird nun
mit einemtollen Rezital geehrt. Im
Sommer 1975 sang sie im Kunst-
haus unübertrefflich charmant
und mittadelloser Technik Lieder
von Mo zart, Bartók, Brahms und
anderen.Nebenbei: Das derzeitige
Festival dauert noch eine Woche,
jeden Abendkönnen «Historic Per-
formances» erlebtwerd en.(bez.)
Klassik
Edith Mathis singt im November
1978 bei der Verleihung des
Hans-Reinhart-Ringes.
KEY STONE