7
DUNCAN MCGLYNN
/ REUTERS
oris Johnson auf einemFischerboot im schottischen Aberdeen.(6.September2019)
Was für ein groteskes Bild und
doch so symptomatisch fürBoris
Johnson: Da sieht man den briti-
schenPremierministervor
stramm stehendenPolizeikadet-
ten, ganz ein Bildvon Recht und
Ordnung.Doch auf dieFrage, ob
Johnson sich an dasGesetz
haltenwill, wenn ihm auferlegt
wird, bei der EU um eineFrist-
verlängerung nachzufragen,
kommt ein unbekümmertes:
«Nein – da läge ich liebertot im
Graben.»Höchstwahrscheinlich
hat erSchützengrabengemeint,
denn derzeit drückt er sich oft in
militärischenBegriffen aus. Die
Opposition sind «Feinde» des
Volkes, dasGesetz zurFristver-
längerung eine «Kapitulation»,
die Brexit- Politik ein «Krieg»,
den es zugewinnen gilt.
Kaum einer seinerVorgänger
ist je so skrupellosvorgegangen,
um seine Ziele zu erreichen:
Johnson hat sein Kabinett mit
Verbündeten bestückt und
linienförmiggemacht, das Parla-
ment ausgeschaltet und Partei-
mitglieder, die sich ihm in libera-
lem Geist entgegen gestellt
haben, aus der Parteigejagt.
Alles nur, damit er einen «No
Deal»-Brexit am 31. Oktober
umsetzen und an der Macht blei-
ben kann. DieTories sind nach
nur sechsWochen mitJohnson
an der Spitze nicht mehr, was sie
einmal waren. «Johnson hat sie
in kürzester Zeit umfunktioniert.
Sie sind nur noch ein Instru-
ment, um seine Brexit- Kampa-
gne durchzusetzen», sagt Alistair
Burt, einer derkonservativen
Abgeordneten, die im Unterhaus
gege n Johnsonrebelliert hatten.
Nun, da ihn das Unterhaus
vorerst ausgebremst hat, sucht
Johnson mit Neuwahlen seine
Brexit- Politik zu erzwingen.
Seine Ruchlosigkeitgeht auch
vielen Verbündeten zuweit. Sein
eigener Bruder trat als Abgeord-
neter undHochschulminister
zurück. Erwollte diese Artvon
Politik nicht mehr mittragen.
Die mächtige Parlamentsver-
einigung derKonservativen, das
sogenannte 1922 Committee, hat
DerblondeMachiavelli
Analyse
Johnson ebenfallsgewarnt:
«Säuberungsaktionen enden nie
gut. Das war schon im altenRom
so.» Doch Johnson sieht das
anders: «BeiOctavian hat es
funktioniert, denn dann war 60
Jahre Ruhe.» Der Premierminis-
ter hat inOxford die Klassiker
studiert, die altenrömischen
und griechischenHeld en sind
sein Vorbild. In derTat hat Kaiser
AugustusRom das «goldene
Zeitalter»geschenkt, aber erst
nachdem er sich dieKöpfe seiner
ermordetenGegner hatte liefern
lassen und seine Macht auf den
Ruinen der ehemaligenRepublik
aufgebaut hatte.
Ein Herrscher müsseMoral
nur nach aussen hin wahren,
dürfe aber im Intere sse des Staa-
tes selbstvor Gewalt undTerror
nicht zurückschrecken, schrieb
der Philosoph undPolitikberater
Niccolo Machiavelli im16.Jahr-
hundert.Moral undPolitik seien
zu trennen.Wichtig sei nur, dass
der Herrschervom Volk nicht
gehasstwerd e. Dazugehöre
auch, demVolk etwasvorzugau-
keln. Johnsonfolgt demLeit-
faden von Machiavellis Staats-
räson aufSchritt und Tritt. Und
das Vorgaukeln hat er im Blut.
Er hintergeht alle
Als junger Journalist machte er
sich einen Namen mit erfunde-
nen Skandalgeschichten über die
Brüsseler Bürokratie und trug
damit zur EU-Skepsis imLand
bei. Und alsPolitiker hinterging
er Freunde, seine Ehefrau,
Geliebte,Politiker, die Partei, die
Öffentlichkeit, eigentlich prak-
tisch jeden, mit dem er zu tun
hatte. Er fiel seinemWeggefähr-
ten undfrüherenPremierminis-
ter Da vid Cameron in den
Rücken, als er sichvor dem
Brexit- Refere ndum derLeave-
Kampagne anschloss. Erverliess
das Kabinett seinerVorgängerin
Theresa May, nur um siegemein-
sam mit denkonservativen
Hardlinern zu schwächen. Er
führte seine Partei hinters Licht,
als erversicherte, so etwas
«Archaisches»wie die Ausset-
zung des Parlamentes könne er
sich nichtvorstellen.Auch heute
betrügt er die Öffentlichkeit,
wenn er behauptet, er führe
ernsthafteVerhandlungen in
Brüssel. Er lügt,wenn er sagt,
das neueGesetz erlaube der EU,
einseitig dieFristverlängerung
festzulegen.
«Seine Fähigkeit, zuplanen,
zu manipulieren und Dinge
brutal durchzusetzen, hätte
Machiavelli entzückt», sagt
George Kassimeris,Professor für
Sozialwissenschaften undPolitik
an der UniversitätWolverhamp-
ton. «BorisJohnsonweiss genau,
was er tut», sagt Kassimeris.
Alles, was er sage, jeder angeb-
liche Überraschungszufall sei
kalkuliert, um ihn da zu behalten,
wo er auch künftig seinwolle: in
10 Downing Street – an der Spitze
der Macht.Selbst seinzerzaustes
Haar, die immer etwas zu grossen
Anzüge und seinHumor sind
Kalkül. Erwirkt damitvolksnah
und liebenswürdig, statt berech-
nend und skrupellos.
Auf seinemSchreibtisch an
der Downing Street thront
neuerdings ein Büstevon Peri-
kles. Er istJohnsons Lieblings-
held der Antike.Auch Perikles
entmachtete die Opposition und
stellte sich alsAutokrat über die
AthenerVolksversammlung. Er
plante jedenAuftritt, jede
Ansprache, jeden politischen
Schachzug. Ihm sind die Blüte-
zeit Athens und die Akropolis zu
verdanken.Von diesemRuhm
träumtBoris Johnson. Erwill
den Brexit durchsetzen, um
dannvom Volk alsRetter der
Nationgefeiert zuwerd en. Dann
werd e ihm allesverziehen.
Vor Jahren hatBoris Johnson
in einem autobiografischen
Roman,«Seventy-twoVirgins»,
beschrieben,wie ein kleiner,
unbedeutender Abgeordneter zu
Weltruhmgelangt.Der Antiheld
seines Buches radelt morgens
mit zerzaustem Haarschopf zum
Parlament, um letztlich den
amerikanischenPräsidenten auf
dessenBesuch imLondoner
Parlament während einesTerro-
risten-Anschlags zuretten.
DieserRuhm stellt die dunklen
Seiten des kleinenPolitikers in
den Schatten, seine Liebschaft,
seineFaulheit, seine Gleichgül-
tigkeit, wasIdeologie undPrinzi-
pien angeht. Johnson beschreibt
sich mit aussergewöhnlicher
Präzision.Der Abgeordnete, der
«aalglatt» jedePosition in der
Diskussion einnehmenkönne.
«Religion,Gesetze,Prinzipien,
Traditionen – all das sind nur
Krücken, derer man sich auf dem
eigenen, strauchelndenWeg
bedient», schreibt er.
«Was für eine Artkonservati-
ver Politiker ist der eigentlich?»,
lässt er seine Assistentin im
Roman sagen. «Begreift er nicht,
dass dieLeute es ernst meinen?
Er wird mit S teuergeld ern
bezahlt, er sollte den Bürgern im
Parlament dienen.»
Stolpert er übersich?
Johnsonzeigt eine erstaunliche
Unbekümmertheit undLeicht-
fertigkeit, was dieKonsequen-
zen seines Tuns angeht. Diese
«unbekümmerteÜberlegenheit»
werd e in Eton anerzogen,
schreibt der ehemalige Mitschü-
ler von Boris Johnson,James
Wood. Der Headmaster der
Schule gebe den Absolventen
lediglich auf denWeg, ihreÜber-
legenheit nicht zurSchau zu
stellen.Was auch immer die
Post-Br exit- Welt bringt, die pri-
vilegierten Eton-Absolventen
werd en davon nichts spüren. Sie
warenreich und bleiben es.
Doch Johnsonkönnte trotz
allem scheitern. «Er ist ein politi-
scher Narzisst.Sein Narzissmus
hält ihn davon ab, die Dinge
objektiv zu sehen», sagtPolito-
loge Kassimeris.Jeder Politiker
müsse einengewissen Grad an
Narzissmus und Ehrgeiz mitbrin-
gen, gleichzeitig aber auch ana-
lytischeFähigkeiten. Dasfehle
Johnson. Er denke strategisch,
aber er überschätze sich. «Das,
was er glaubt, erreichen zu
können, ist unrealistisch.» Noch
ist er mitten im Machtspiel.
Bettina Schulz, London
Am Montag wird der britische
Premierminister Boris Johnson
das Parlament erneut auffor-
dern, für eine Neuwahlzu stim-
men. Die Oppositionsparteien
haben angekündigt,dem nicht
zuzu stimmen, solange nicht
klar sei, dass die Wahl nach dem
EU-Gipfel vom 17. bis 19. Okto-
ber stattfinde. Die Abgeordne-
ten wissen, dass Johnson die EU
dann um eineFristverlängerung
bitten muss. Damit würde er
sein Versprechen brechen,
Grossbritannien am31.Ok tober
aus der EUzu führen. Seine
geschwächte Position will die
Opposition in einer späteren
Wahl ausnutzen. Boris Johnson
könnte dasParlament aber auch
auffordern, ihm dasVertrauen
Wieweiter?
Parlamentgege nNeuwahlen
auszusprechen. Oder erkönnte
zurücktreten und der Königin
empfehlen, Jeremy Corbynzum
Premierminister zu ernennen,
so dass dieser um dieFristver-
längerung bitten muss. Danach
könnte Johnsonversuchen,
mithilfe desParlaments Corbyn
mit einem Misstra uensvotum zu
stürzen. Oder Johnsonkönnte
einen nur auf Nordirland
bezogenenBackstop im EU-Ver-
trag akzeptieren. Nordirland
wäre dannweiter in Zollunion
und Binnenmarkt,nicht aber
Grossbritannien. Labour müsste
diesen Deal akzeptieren. Und
die Revolte der nordirischen
DUP und der Hardlinerkönnte
ignoriertwerden. Der Brexit
wäre vollbracht.Bettina Schulz
zurHälfteFa lschesraus»
ünkler.Doch sie passe in eineZeit der grossen Umwälzungen inder europäischen Politik.Interview:GordanaMijuk
glauben, man befinde sich in einer Zeiten-
wende, einer Situation, die der deutsche
PhilosophOswald Spengler in den1920er
Jahren «Heraufkunft der neuenCäsaren»
genannt hat. Ein grosserTeil derBevölke-
rung hat kein Vertrauen ins klassische Räso-
nieren und Abwägen, sondernwill einen
starken Mann an der Spitze, der sagt,wo es
langgeht. Er läuft hinter Leuten wie Trump
her, von dem manweiss, dass er notorisch
Sachen sagt, die nicht stimmen. Und hinter
Johnson.Wenn Johnson denMund auf-
macht,kommt zur HälfteFalsches raus.
Wo führt das hin?
Ich hoffe, dass dieKontinentaleuropäer
durch die Erinnerung an die1930er Jahre
imprägniert sind und sich nicht auf ein sol-
ches Spiel einlassen.Wenn die Briten John-
son folgen,werd en sie sich eine ziemlich
blutige Nase holen. Undvielleicht sind sie
hinterher schlauer. Dasgehört ja auch zur
Demokratie, zu sagen: Man lernt durch
Fehler, die man auch selber bezahlen muss.
Johnson könnte dieWahlengewinnen. Salvini
könnte über kurz oder lang die italienische
Politik wiederbestimmen, und Marine Le Pen
könnte inFrankreich bei den nächsten Wahlen
reüssieren. Was passiert dann?
In Europa und auch im globalen Rahmen
sind wir sicher nicht in einer Situation,wo
man mit Zuversicht undGelassenheit sagen
kann: Daswird schon alles gutwerd en. Und
wenn man die Situationvon 2019 mit der
von 1990 und1991 vergleicht, dann ist die
Hoffnung, dass die Räume überWirtschaft
und Recht zusammenwachsen undwir in
eine friedlicheWelt hineingehen – diese
Hoffnung ist düpiert. DieWelt wird klein-
räumiger, diePolitik wird kurzfristiger, und
an die Stellevon Rationalität tritt im politi-
schenBetrieb zunehmend Emotionalität.
Das machtPolitik spannend, abergefährlich.
Undwo führt uns das hin? Ineine Rezession –
oder in Schlimmeres?
In einenwirtschaftlichen Abschwung mit
ziemlicher Sicherheit. Aber was schlimmer
ist: Eskönnte auch in ein neuesGegeneinan-
der führen mit einer neuerlichen Erhöhung
des Rüstungsniveaus – was zurzeit ziemlich
gut erkennbar ist – und dann invermehrte
Konflikte, auch solche kriegerischer Art. Es
sind wenig erfreulicheAussichten, mit
denenwir da konfrontiert sind.
Die Welt wirdkleinräumiger,
die Politik kurzfristiger,
undandieStel levon
Rationalitättr ittvermehrt
Emotionalität.