Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
FOTO: JESSICA TAYLOR/DPA

Verlorene Abstimmungen, Rausschmisse von Fraktions-
mitgliedern, Rücktritte und kein politischer Ausweg: Pre-
mier Boris Johnson scheint nach der vergangenen Chaos-
woche bereits verloren zu haben. Und doch: Johnsons Um-
fragewerte sind stabil. Seine Gegner gewinnen kaum. In-
zwischen wollen 53 Prozent der Briten keinen Brexit
mehr. Doch bei der Wahl zwischen No-Deal-Brexit und
einem Labour-Premier Jeremy Corbyn entscheiden sich
52 Prozent für No Deal. Es scheint an der Zeit, denen zu-
zuhören, die trotz allem an Boris und Brexit festhalten.

Seit einem Vierteljahrhundert kenne ich Boris Johnson,
zähle mich aber nicht zu seinen Freunden – obwohl er
mit seiner Familie ein Wochenende bei mir verbracht hat,
während er für denselben Verlag arbeitete wie ich. Einer
seiner echten Freunde aus Teenagerzeiten rügte mich für
einen Artikel, den ich zur Kampagne um den Vorsitz der
Konservativen geschrieben hatte. Darin sagte ich, dass

Vielleicht ist es richtiger zu sagen, dass es vor allem
für Intellektuelle und politische Vordenker ein Rätsel
bleibt, die immer schon Schwierigkeiten hatten,
Massenphänomene zu verstehen. Sie bezeichnen die-
jenigen, die ein solches Phänomen auslösen können,
oft als „Populisten“. Sollte Boris Johnson tatsächlich ein
solcher sein, steht er für eine sehr ungewöhnliche Spiel-
art des Populismus. Es zeugt von Unverständnis, wenn
man ihn Donald Trump gleichstellt – obwohl die bei-
den Po litiker anscheinend gut miteinander arbeiten
kön nen.
Es stimmt, dass Johnson wie viele Populisten oft er-
staunlich umgangssprachlich spricht. Im Parlament
nannte er den Vorsitzenden der Opposition, Jeremy Cor-
byn, in der vergangenen Woche „big girl’s blouse“ –
Weichei. (Eine ziemlich altmodische, einige würden
sagen sexistische Beleidigung, die einem Mann Feigheit
unterstellt.) Und einst versprach er denjenigen, die kon-

Johnson eine zu chaotische und unkontrollierbare Figur
sei, um die richtige Wahl für die Partei zu sein.
„Du begreifst ihn nicht: Boris ist immer nach oben
gefallen“, sagte er mir. „Seit seiner Zeit in Eton College
war er stets in jedem Raum die brillanteste Person, über
die am meisten gesprochen wurde. Und stets waren sich
die Leute einig, dass er zu so viel mehr in der Lage wäre.
Und sich selbst mit seinem Benehmen torpediert. Das
sagten seine Lehrer und später seine Professoren in
Oxford. Das Gleiche passierte, als er vom Vorsitzenden
der Tories, Michael Howard, als Stellvertreter gefeuert
wurde, weil er diesen über eine Affäre angelogen hatte.
Und doch: Er ist stets nach oben gefallen.“
Tatsächlich wurde Johnson bald nach meinem Ge-
spräch mit Boris’ altem Freund von einer überwältigen-
den Mehrheit in der Partei zum Vorsitzenden der Kon-
servativen gewählt und damit automatisch zum Pre-
mierminister.
In den Wochen seit er das Amt von Theresa May über-
nommen hat, addierte Johnson ungefähr zehn Prozent-
punkte zu den Umfragewerten der Konservativen hin-
zu. Was ihn darin bestärkte, nun Neuwahlen ausrufen
zu wollen. Es ist bezeichnend, dass die Opposition einen
Grund gefunden hat, dieser Schlacht auszuweichen –
übrigens hat es eine solche Situation noch nie gegeben.
Labour ist sich Boris Johnsons Anziehungskraft sehr
bewusst. Auch wenn diese Anziehungskraft außerhalb
unseres Landes ein Rätsel bleibt.

servativ wählen: „Deine Freundin wird einen größeren
BH brauchen.“ Hier legte er die Idee zugrunde, dass unter
Konservativen die Wirtschaft wachse, sodass sich alle
besseres Essen leisten und mehr Kalzium aufnehmen
könnten ... was zu größeren Brüsten führe.
Doch so entsetzt oder empört viele Kommentato-
ren anlässlich einer solchen Ausdrucksweise sind – oder
vorgeben zu sein –, genau diese macht Johnson so popu-
lär wie kaum einen anderen Politiker. Der Grund dafür
liegt auf der Hand: Die Sprache der Politik ist monoton
geworden, zu Manager-Sprech verkommen oder gar
zu leeren Phrasen, die so oft wiederholt werden, dass die
Öffentlichkeit dies zu Recht als Beleidigung ihrer Intel-
ligenz auffasst. Diesen Fehler macht Johnson nie – was
immer für Fehler er auch sonst macht (und er macht
viele, ohne Frage).
Das liegt vor allem daran, dass er selbst überaus
intelligent ist. Er ist schnell gelangweilt und weiß,
dass dies für die Öffentlichkeit ebenso gilt. Vielleicht
kann man an dieser Stelle einen Vergleich mit Trump
wagen – wobei schnelles Desinteresse beim US-Präsi-
denten auf eine erstaunlich niedrige Aufmerksamkeits-
spanne zurückzuführen ist. Es ist fraglich, ob Trump
je ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen
hat. Johnson dagegen – das weiß ich von meinen Ge-
sprächen mit ihm – ist außergewöhnlich belesen und
hat tatsächlich nicht wenige Bücher selbst geschrieben,
als letztes eine Biografie Winston Churchills.

V


Dominic Lawson, 62,
ist der Sohn von Lord
Lawson, Schatzkanzler
unter Thatcher, und
Bruder von Nigella Law-
son, Englands bekann-
tester Fernsehköchin.
Seine Karriere begann
bei der BBC. Als Chef-
redakteur des „Spectator“
verpflichtete er Boris
Johnson für dessen erste
Kolumne. Heute schreibt
er für „Sunday Times“
und „Daily Mail“ – und
widmet sich als Autor
dem Schach. Er ist
verheiratet mit Rosa
Monckton, einst eine der
engsten Freundinnen
von Prinzessin Diana


Kolumnist Dominic Lawson will den Brexit. Und verteidigt


Boris Johnson. Er ist mit dieser Meinung in Großbritannien nicht


allein. Der Versuch einer Erklärung – für uns Europäer


„BRUTAL, ABER LOGISCH“


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POLITIK

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