Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 35


M


anchmal ist weniger interessant,
was jemand sagt, als wer es sagt –
und vor allem wann. Michael
Hüther ist so etwas wie die stim­
me der Wirtschaft im Berliner Re­
gierungsbetrieb, er war Chefvolkswirt einer groß­
bank und hat für den sachverständigenrat gearbei­
tet, die sogenannten Wirtschaftsweisen. Heute
leitet er das von den Arbeitgebern finanzierte In­
stitut der deutschen Wirtschaft.
große teile seines Berufslebens hat Michael Hü­
ther damit verbracht, für mehr Markt und weniger
staat zu werben, er hat die Agenda 2010 von gerhard
schröder unterstützt und die Einführung des gesetz­
lichen Mindestlohns abgelehnt. Hüther war immer
der Meinung, dass der staat mit seinem geld sehr
sparsam umgehen sollte – und galt als einer der pro­
minentesten Befürworter der Idee, eine schulden­
bremse ins grundgesetz zu schreiben, was dann vor
ziemlich genau zehn Jahren auch geschehen ist.
Inzwischen aber hält ausgerechnet Michael Hü­
ther diese schuldenbremse für »ökonomisch fragwür­
dig«. und er sagt, dass das Ziel eines jederzeit aus­
geglichenen staatshaushalts, die sogenannte schwar­
ze Null, »eine Art erotisches symbol« geworden sei.
Womit sich die Frage stellt, ob einer der ein­
flussreichsten deutschen Ökonomen einfach nur
seine Meinung geändert hat. Oder ob sich die
Zeiten geändert haben und anders mit schulden
umgegangen werden sollte als vor zehn Jahren.
Fast jeder deutsche Kanzler hatte etwas sehr gro­
ßes, das mit seinem Namen in Verbindung gebracht
wurde: Bei Willy Brandt war es die Ostpolitik, bei
Helmut Kohl die deutsche Einheit – bei Angela
Merkel war es das staatliche schuldenverbot. Denn
sosehr Merkel in ihrer Regierungszeit die Nerven der
CDu strapazierte, indem sie aus der Atomkraft aus­
stieg, die Wehrpflicht abschaffte und den Mindest­
lohn zuließ, so klar war in den vergangenen Jahren
eben auch: An der schuldenbremse wird nicht gerüt­
telt. sie war der letzte stabilitätsanker der union.
Doch nun geht die Ära Merkel langsam zu
Ende. und wenn man sich umhört unter Ökono­
men, in den Forschungsinstituten, in den Parteien


und bei den Verbänden, dann fällt auf, wie kritisch
das schuldenverbot inzwischen gesehen wird.
»Die schwarze Null gehört in einer konjunkturell
fragilen Lage auf den Prüfstand«, sagt Joachim Lang,
Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deut­
schen Industrie.
»Ich bin der Meinung, dass Deutschland mehr
investieren könnte und davon profitieren würde«,
sagt Chris tine La garde, die künftige Chefin der Euro­
päischen Zentralbank.
»Die Finanzpolitik dem Ziel eines ausgeglichenen
staatshaushalts unterzuordnen ist nicht mehr zeit­
gemäß«, sagt Jens südekum, Professor für Volkswirt­
schaftslehre an der universität Düsseldorf.
In seinem Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre
argumentiert der amerikanische Ethnologe David
graeber, dass der Kredit die Menschheit in die
sklaverei treibe. Wer schulden mache, liefere sich
den anonymen Mächten der internationalen Fi­
nanzmärkte aus, den Banken, den Börsen, den
Rating­Agenturen, und verliere jeden politischen
gestaltungsspielraum.
graebers Buch erschien 2011. griechenland
stand vor dem staatsbankrott, spanien, Italien und
Irland brachen unter der Last ihrer schulden fast
zusammen und wurden zum spielball internatio­
naler gläubiger. In Deutschland musste ein immer
größerer teil des Haushalts für Zinsausgaben ver­
wendet werden und stand damit nicht mehr für
andere Zwecke zur Verfügung. Das staatliche
schuldenverbot wurde in diesem Zusammenhang
als Akt der Wiedergewinnung demokratischer
selbstbestimmungsrechte verstanden.
so sah das auch Christian Kastrop. Er ist gewis­
sermaßen der Erfinder der deutschen schulden­
bremse, als unterabteilungsleiter im Finanzministe­
rium entwickelte er das Konzept einer im grund­
gesetz verankerten Regel, die die öffentliche Kredit­
aufnahme begrenzt. Heute ist Kastrop Europa­
Direktor bei der Bertelsmann stiftung und beschäftigt
sich immer noch mit schulden – nur dass er sie nicht
mehr begrenzen will, sondern ermöglichen.
Ausgerechnet der Erfinder der deutschen schulden­
bremse macht sich also gedanken darüber, wie die

Regierung zusätzliche Kredite aufnehmen kann. »Wir
brauchen mehr Flexibilität bei der Finanzierung von
Zukunftsaufgaben«, sagt Kastrop. Eine Idee: Nicht
der staat selbst, sondern eine spezielle Investitions­
agentur nimmt die Kredite auf und finanziert die
Projekte. Die Darlehen würden dann nicht auf die
schuldenbremse angerechnet. sie wäre zwar noch da,
in ihrer Wirkung aber deutlich eingeschränkt.
Wenn man wissen will, was eigentlich passiert ist,
dass so unterschiedliche Leute wie Michael Hüther,
Jens südekum, Chris tian Kastrop oder Joachim Lang
auf einmal anders über schulden denken, muss man
sich etwas intensiver mit der
Ära Merkel befassen. genauer
gesagt: mit einem schlüsselsatz
ihrer Kanzlerschaft – und mit
dessen Folgen.
Am 15. september 2008
kollabiert in New York die In­
vestmentbank Lehman Bro­
thers, es ist der Auslöser für die
weltweite Finanzkrise. In dieser
Lage hält Merkel eine ihrer
bemerkenswertesten Reden,
jedenfalls wenn man die Wirkung ihrer Worte be­
denkt. »Man hätte einfach nur die schwäbische Haus­
frau fragen sollen«, sagt Merkel drei Monate später
auf dem Parteitag der CDu in stuttgart. »sie hätte
uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf
Dauer über seine Verhältnisse leben.«
Der Begriff des »Framings« war zu jener Zeit noch
nicht in der politischen Debatte angekommen, aber
natürlich beeinflusste das Bild von der schwäbischen
Hausfrau die Wahrnehmung der Krise. Denn wenn
der Kern der Krise darin bestand, dass man ȟber
seine Verhältnisse« lebte, dann konnte die Lösung ja
nicht darin bestehen, noch mehr geld auszugeben.
Nun aber, in der Endphase von Merkels Kanzler­
schaft, wird Bilanz gezogen – über die Verhältnisse
und darüber, wie sie sich verändert haben.
Als Merkel im Jahr 2005 ihr Amt antrat, lag die
schuldenquote bei 67 Prozent der Wirtschaftsleis­
tung, in diesem Jahr wird sie nach schätzungen des
Finanzministeriums auf 58 Prozent sinken. Das sind

die Zahlen, die die Regierung gern zitiert. Doch es
gibt auch noch andere Zahlen.
138 Milliarden Euro beträgt nach Angaben der
staatsbank KfW die Investitionslücke bei den Kom­
munen, überall im Land fehlen schulplätze, Kitas,
straßenbahnen, Bibliotheken.
3,2 Prozent aller Internetanschlüsse sind in
Deutschland mit einem glasfaserkabel verbunden,
hat die Industrieländerorganisation OECD ermittelt,
so wenige wie in kaum einem anderen Industriestaat.
Zwei Prozent beträgt laut der universität Duis­
burg der Marktanteil der Elektroautos in Deutsch­
land. Das sei im internationa­
len Vergleich »unterdurch­
schnittlich«. In schweden sind
es acht Prozent.
Vielleicht ist dies das größte
Problem an Merkels satz, wo­
nach Deutschland nicht über
seine Verhältnisse leben dürfe:
Er nimmt die Verhältnisse als
gegeben an, dabei sind sie das
Ergebnis politischer Entschei­
dungen. Wie ein Privathaushalt
hat der staat nicht nur schulden, sondern auch Ver­
mögen: straßen, schienen, schulen, universitäten.
Merkel wurde für den Abbau der staatsschulden
gefeiert – aber niemand sah, wie dabei das staatliche
Vermögen zusammenschrumpfte. Wenn in den ver­
gangenen Jahren mehr investiert worden wäre, dann
gäbe es heute mehr schulplätze, die Züge wären
pünktlicher, und die Internetversorgung wäre besser.
Die schuldenbremse war immer auch ein poli­
tisches Projekt. sie beruht auf der Überzeugung, dass
Politiker nicht die langfristigen Interessen des Landes
im Blick haben, sondern geld für Wahlgeschenke
ausgeben – so wie die Koa li tion lieber die Renten
erhöht hat, als frühzeitig die schulen zu sanieren. Aus
diesem grund müsse sich eine Regierung durch Re­
geln gewissermaßen selbst die Hände binden.
Nun aber werden sich die Verhältnisse gewaltig
verändern müssen, das Land steht vor einem enormen
umbau, beim Klimaschutz ebenso wie bei der Digi­
talisierung – und weil das alles gleichzeitig geschieht,

sind die dafür notwendigen Investitionen zu groß,
um sie aus dem laufenden staatshaushalt zu finanzie­
ren. selbst unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus
erwartet, dass der Kampf gegen die Klimakrise »meh­
rere Hundert Mil liar den Euro« kosten wird.
so wird auch der Begriff der generationengerech­
tigkeit noch einmal neu definiert. Ökonomen wie
Michael Hüther sagen: Vom Kampf gegen den
Klima wandel profitieren vor allem die kommenden
generationen. Deshalb sollten sie auch an den Kosten
beteiligt werden. genau das geschieht, wenn Aus­
gaben für den Klimaschutz über Kredite finanziert
werden. sie müssten erst in ein paar Jahren getilgt
werden. Womöglich verstoßen schulden also unter
bestimmten umständen nicht gegen die generatio­
nengerechtigkeit – sondern tragen dazu bei. Es fällt
jedenfalls auf, dass sich vor allem die Jungen gegen
die schuldenbremse aussprechen.
Im Augenblick müsste der Bund noch nicht ein­
mal Zinsen bezahlen, wenn er neue schulden macht.
Er bekäme sogar geld zurück. Diese absurde si tua­
tion ist ebenfalls Zeichen einer Zeitenwende: Es gibt
auf den Finanzmärkten ein Überangebot an geld,
weil zu viel gespart und zu wenig investiert wird. Da­
mit sinkt der Preis des geldes, also der Zins.
Im Kern geht es in der Debatte deshalb nicht
darum, die schuldenbremse komplett abzuschaffen,
sondern sie zu reformieren. Wenn die Kredite etwa
nicht in den allgemeinen Haushalt flössen, sondern,
wie es Kastrop will, von einer speziellen Investitions­
agentur aufgenommen würden, dann könnte das
geld nicht so leicht für sozialprogramme zweckent­
fremdet werden. In gewisser Weise wäre die Politik
immer noch gebunden, aber nicht mehr gefesselt.
Die schuldenbremse ist Merkels Projekt, aber das
politische Problem von Olaf scholz. Er ist der zu­
ständige Finanzminister. Er steht wie kein anderer
sPD­Politiker für die Vorstellung, dass erfolgreiche
so zial demo kra ten zeigen müssen, wie vernünftig sie
mit geld umgehen können. Bislang hieß das: so
wenig wie möglich davon ausgeben. Aber auch das
ändert sich möglicherweise gerade. Im umfeld von
scholz heißt es, er sei für eine Reform offen. Das
müsste er dann nur noch sagen.

B


evor es losgeht, droht bereits die
erste Niederlage. Klara geywitz,
die Frau, die sich Olaf scholz als
Partnerin für den sPD­Vorsitz
ausgesucht hat, bewirbt sich bei
der brandenburgischen Landtags­
wahl am 1. september für das
Direktmandat in Potsdam­Mitte. seit 2004 hat sie
es immer gewonnen. Doch in umfragen liegt sie
derzeit bis zu sechs Punkte hinter der grünen­
Kandidatin. Kann geywitz den trend nicht dre­
hen, startet sie am 4. september in den fünfwöchi­
gen Bewerbungsmarathon um den höchsten Posten
der sPD als geschlagene. Das ist das eine Problem.
Das andere, größere lautet: sie ist wie Olaf.
Wenn man ein bisschen böse zu scholz sein
wollte – und in der sPD gibt es nicht wenige, die
das wollen –, dann könnte man sagen: Er hat mit
maximalem Einsatz eine Frau gesucht, die sich
minimal von ihm unterscheidet.
Auf den ersten Blick ist geywitz zwar ganz anders
als scholz: sie wuchs im Osten auf, er im Westen; sie
ist 43 Jahre alt und hat drei Kinder, er ist 61 und
kinderlos; sie ist unerfahren in der Bundespolitik, er
seit Jahrzehnten dabei. Aber wer geywitz aus der
Brandenburger Landespolitik kennt, für den ist of­
fensichtlich, wie stark diese Frau scholz ähnelt. und
zwar sowohl in ihren Überzeugungen als auch in ih­
rem stil. sie ist parteiintern eisern mittig – wie scholz.
sie hat Karriere gemacht als kühle, intelligente stra­
tegin – er als kühler, intelligenter stratege. sie hat
einen scharfsinnigen, trockenen Humor, den längst
nicht jeder versteht, aber eher nicht das talent, Bür­
gerherzen im sturm zu erobern – alles wie bei ihm.
geywitz kommt aus der einzigen Region in
Deutschland, in der die sPD seit 30 Jahren ununter­
brochen die Regierung anführt, aus Brandenburg
eben. Hier haben die sozialdemokraten noch selbst­
bewusstsein, und hier prägte geywitz ihre Partei
jahrelang als generalsekretärin. Wer aber glaubt,
scholz habe sie als Partnerin ausgesucht, weil sie ein
Leichtgewicht sei, der irrt sich wahrscheinlich. gey­
witz ist geübt darin, mächtige Männer vor den Kopf
zu stoßen. Als Brandenburgs sPD­Ministerpräsident
Dietmar Woidke vor zwei Jahren nach heftigen Pro­
testen sein wichtigstes Reformprojekt absagte, eine
Kreisgebietsreform, schmiss ihm geywitz den Posten
der generalsekretärin vor die Füße. Botschaft: Du
magst dich beugen, ich nicht!
Die Resolutheit, die der Potsdamerin nachgesagt
wird, könnte helfen, jenen Mangel zu beheben, mit


dem das Duo geywitz/scholz nun ins Vorsitzenden­
rennen geht. Die anderen Bewerberteams – von
Kampmann/Roth über Lauterbach/scheer und Pis­
torius/Köpping bis stegner/schwan – präsentierten
sich stets im Duett, wodurch die Frage nach der
Augenhöhe gar nicht erst aufkam. Nun hieß es zu­
nächst: scholz sucht Frau. Doch nur die Frau zu sein,
die da ist, weil ein Mann, der modern sein und etwas
werden will, eine an seiner seite braucht – diese Rolle
wird geywitz garantiert nicht besetzen.
Mit dem Eiserne­Mitte­Duo kommt nochmals
Bewegung ins Kandidatenfeld. Zum einen, weil in
dem Modell »scholz findet scholzin« für zahlrei­
che linke sozialdemokraten zu viel scholz steckt,
um das einfach so zu akzeptieren. Zum anderen,
weil scholz­skeptiker das Duo für schlagbar hal­
ten – nur leider nicht von den linken Kandidaten,
die bislang antreten. und deshalb wächst der
Druck auf Juso­Chef Kevin Kühnert. Bisher wur­
de stets geraunt, in einem Duo Lars Klingbeil plus
Frau werde Kühnert als generalsekretärs­Kandidat
antreten. Doch das hatte sich in dem Moment er­
ledigt, als Manuela schwesig den beiden – wie üb­
rigens auch manch anderem – eine Absage erteilte.
80.000 Jusos, ein Fünftel aller sozialdemokraten,
plus weite teile des linken Flügels wollen einen sPD­
Chef scholz nicht einfach hinnehmen. Ihr Wunsch­
kandidat, der leibhaftige Anti­scholz Kühnert, wird
trotz des Drucks wohl nicht zur Wahl stehen. Deshalb
neigen nun teile des linken Flügels zu einem anderen
Plan: Wir formulieren unsere Forderungen und
machen jene beiden stark, die das Duo scholz/gey­
witz am meisten fürchten muss – und das sind, der
linken Auffassung nach, Boris Pistorius und Petra
Köpping, der niedersächsische Innenminister und die
Integrationsministerin aus Dresden. um ganz nach
oben zu kommen, könnten die beiden auf linke
stimmen angewiesen sein. Ein gegengeschäft zu
beiderseitigem Nutzen.
Das Vorhaben, ausgerechnet auf den nieder­
sächsischen Innenminister und die sächsische In­
tegrationsministerin – er eine Art Mini­schily, sie
eine notorische AfD­Versteherin – zu setzen, zeigt
das ganze strategische Dilemma der Linken. so
chaotisch gehen die scholz­gegner vor, dass ihnen
am Ende nichts anderes übrig bleibt, als einen zu
unterstützen, den sie nicht mögen, um einen zu
verhindern, den sie verachten. »Wir sind dann nur
noch der Veto­Player«, sagt ein führender Linker.
und Kühnert bliebe dort, wo er jetzt schon ist: am
Rand. P. DAUSEND, A. HÄHNIG, R. PAUSCH

Ausgespart


Die »schwarze Null« ist kein Ideal mehr: selbst alte gegner des schuldenmachens finden heute,


der staat solle ruhig etwas mehr Kredite aufnehmen VON MARC BROST UND MARK SCHIERITZ


Überall im Land


fehlen Kitas,


Straßenbahnen,


Bibliotheken


POLITIK 5


Kühl, analytisch, eisern mittig:
Klara Geywitz, 43 Jahre alt und Mutter von
drei Kindern, will die SPD führen

QUAL UND WAHL


Der minimale Unterschied


Mit der Potsdamerin Klara geywitz geht Olaf scholz ins Rennen um den sPD­Vorsitz. Die Linken der Partei stellt das vor ein Dilemma


Foto [M]: Foto: Karsten Thielker/AS Syndication
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