Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

D


as Reisen in alle Welt gehört zur
Wissenschaft dazu. Hier die Gre-
miensitzung an der Partner-Uni,
dort die Jahreskonferenz einer Fach-
dis zi plin. Die Auswahl an Zielen ist
groß: In diesen Wochen können Psychologen ins
britische Bangor zu einem Kurs über ko gni ti ve
Neurowissenschaften aufbrechen, anschließend zu
einem Symposium über Suchtkrankheiten nach
Barnstable (USA) fliegen, von dort direkt weiter
nach Kopenhagen zu einer Konferenz für Neuro-
psychologen. Ihre Kolleginnen aus der Physik kön-
nen sich auf einem Work shop über Quantenkon-
trolle im kanadischen Toronto weiterbilden, dann
nach Birmingham zu einer Konferenz über ultra-
kalte Atome reisen und schließlich nach Warschau,
um Vorträge über Zeitkristalle anzuhören.
Beziffert hat die Flugtätigkeit in der Wissen-
schaft bis heute niemand, auch große deutsche
Universitäten wie die in Köln oder München kön-
nen keine Angaben machen, wie viele Kilometer
im akademischen Dienst absolviert werden. Zu-
gleich aber weiß man, dass die Flüge an den welt-
weit klimaschädlichen Koh len dioxid emis sio nen
einen Anteil von ungefähr drei Prozent haben. Ihre

Wirkung ist allerdings weitaus größer: »Die ge-
samte Klimaschädigung durch den Flugverkehr in
Deutschland liegt zwischen sechs und zehn Pro-
zent«, sagt Lars Mönch, Fachgebietsleiter Schad-
stoffminderung im Verkehr beim Umweltbundes-
amt. Das liege an den Emissionen von Stickoxiden
und anderen Substanzen in hohen Luftschichten.
Eine Debatte um klimafreundliches Reisen wer-
de derzeit noch nicht geführt, sagt ein Sprecher der
Ludwig-Maximilians-Universität München, mit
50.000 Studierenden eine der größten Hochschu-
len Deutschlands. Man beobachte aber den Trend,
dass insbesondere bei Flügen CO₂-Kompensatio-
nen mitgebucht werden. Auch die Deutsche For-
schungsgemeinschaft (DFG), wichtigster Geldgeber
für Forschungsprojekte in Deutschland, sei sich der
Bedeutung des klimabewussten Reisens bewusst,
sagt ein Sprecher. Allerdings unterliege die DFG
den Reisekostengesetzen des Bundes und der Län-
der: »Erste Gespräche mit Bund und Ländern über
klimafreundliches Reisen haben bereits stattgefun-
den – und sollen innerhalb der Allianz der Wissen-
schaftsorganisationen auch bald konkreter werden.«
Noch eine Ebene darüber, beim Europäischen
Forschungsrat (ERC), überlässt man die Entschei-

dung über wissenschaftliche Reisen ebenfalls den
Stipendiaten. Dazu gebe es keine Vorgaben, so ein
Sprecher. Der ERC wird im kommenden Jahr
2,2 Mil liar den Euro verteilen, darunter auch nicht
näher bezifferte Reisebudgets. Diese Budgets kön-
nen Forschende meist selbst verwalten – je günsti-
ger die Verbindung, desto mehr können sie auch

reisen. Wissenschaftler verhalten sich dabei so wie
die meisten Geschäftsleute, Journalistinnen und
Urlauber: Sie wählen die günstigere und schnellere
Variante, und die ist häufig das Flugzeug.
»Klimaforscher sind nicht besser und nicht
schlechter als andere Menschen«, sagt der Direktor
des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung
(PIK), Ottmar Edenhofer. Seine persönliche Emis-
sionsbilanz sei viel zu hoch, und das liege auch am
Fliegen, räumt Edenhofer ein. Seine Reisen offen-
legen, wie sein PIK-Kollege Stefan Rahmstorf, will
Edenhofer aber nicht: »Es braucht politische Lö-
sungen wie eine faire CO₂-Bepreisung. Ein solcher
Preis würde auf alle Dienstleistungen und Güter
wirken, also auch aufs Fliegen.«
Stefan Gössling sagt: »Die Politik ist dazu auf-
gerufen, Flüge gerecht zu besteuern.« Er selbst
fliegt aber kaum noch. Der Humanökologe forscht
an der Universität Freiburg sowie im schwedischen
Kalmar und Lund zu umweltbewusstem Reisen.
Zuletzt luden ihn die Vereinten Nationen zu einer
Klimakonferenz nach Brasilien ein – er sagte ab.
Die französische Regierung handelt entschlos-
sener als die deutsche. Anfang Juli verabschiedete
sie eine Kerosinsteuer auf alle Flüge. Eine Gruppe

französischer Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler ist gleich selbst aktiv geworden, sie nennt
sich »labos 1.5«. Der Name bezieht sich auf die Erd-
erwärmung, die entsprechend dem Pariser Klima-
abkommen von 2015 möglichst unter 1,5 Grad
gehalten werden soll. Die Initiative will auch ohne
neue Gesetze ihre Emissionen reduzieren: beispiels-
weise indem weniger Personen in Gremien sitzen.
Universitäten sollten komfortable Videosysteme
installieren. Und: Das Reisen zu Konferenzen solle
an Bedeutung verlieren, vor allem für die Begut-
achtung jüngerer Forscherinnen und Forscher.
Das klingt für viele Wissenschaftler wie eine un-
mögliche Forderung, gilt es doch als Ausweis von
Erfolg und Exzellenz, auf internationalen Tagungen
vorzutragen. Dort werden Pläne geschmiedet, Ver-
öffentlichungen vorbereitet. Aber wie notwendig ist
das wirklich? Stefan Gössling sagt, seine eigenen
Publikationen entstünden meist per E-Mail-Aus-
tausch: »Wer mehr am Schreibtisch sitzt, statt in aller
Welt herumzufliegen, kann wunderbar arbeiten.« Er
hat in einer Feldstudie mit 29 Studierenden erfragt,
wie sie ihre Flüge der vergangenen fünf Jahre ein-
schätzen. Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte der
Reisen erschien ihnen im Nachhinein als unwichtig.

»Ich reise wenig«


Klimafreundliches Reisen ist für mich
ein neues Thema. Ich persönlich reise sehr
wenig. Ich brauche natürlich auch
wissenschaftlichen Austausch, aber viele
Ideen entwickele ich selbst und mache
meine eigenen Fortschritte an meiner
Heimat-Uni.

Peter Scholze, 31, ist Mathematiker an der
Universität Bonn. Scholze wurde mit 24 Jahren
Deutschlands jüngster Professor und wurde 2018
mit der Fields-Medaille ausgezeichnet

Flüge* kg CO₂
Köln – Los Angeles ...........................2980,00
Los Angeles – Chicago ........................672,00
Chicago – Köln .................................2055,00

Bahnfahrten* kg CO₂
Bonn <–> Garmisch-Partenkirchen .......10,40
Bonn <–> Münster ................................0,040
Bonn <–> Berlin .....................................3,40
Bonn <–> Innsbruck .............................13,40

Gesamtbilanz ................ 5734,24 kg CO₂

»Die Diskussion ist wichtig«


Über klimafreundliches Reisen diskutieren
sowohl Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler als auch die Forschungs-
organisationen. Ich finde sie wichtig und
sinnvoll. Wir sollten unnötige Reiseaktivitäten,
die das Klima belasten, wann immer möglich,
vermeiden.

Katja Becker, 54, ist Biochemikerin an
der Universität Gießen. Ab Januar 2020 ist
sie neue Präsidentin der Deutschen
Forschungsgemeinschaft

Flüge* kg CO₂
2x Frankfurt <–> Rostock .................1008,00
6x Frankfurt<–> Berlin .....................1332,00
Frankfurt <–> München .....................140,00
Frankfurt <–> Mailand .......................292,00

Bahnfahrten* kg CO₂
Gießen <–> Marburg ..............................2,80
Gießen <–> Frankfurt .............................6,00
Gießen <–> Heidelberg .........................12,80
Gießen <–> Halle ..................................31,60
Gießen <–> Münster .............................15,20
Gießen <–> Berlin ...................................6,20
Gießen <–> München .............................6,20

Gesamtbilanz .................2852,80 kg CO₂

»Ein Umdenken findet statt«


Am Institut sprechen wir darüber,
wie wir klimabewusster arbeiten können.
An vielen Max-Planck-Instituten gibt
es Nachhaltigkeitsgruppen. In diesem Jahr
sind sie zum ersten Mal alle zu einem
Workshop zusammengekommen. Ein
Umdenken findet statt.

Claudia Schmidt, 27, ist Doktorandin am
Max-Planck-Institut für Biochemie in Göttingen
und Gewinnerin des internationalen Vortrag-
wettbewerbs »Three Minute Thesis Competition«

Flüge* kg CO₂
Frankfurt <–> Krakau .........................574,00

Bahnfahrten* kg CO₂
Göttingen <–> Berlin ..............................1,00

Gesamtbilanz ...................575,00 kg CO₂

CHANCEN

*HINTER DER GESCHICHTE

Die Klimabilanz der Flüge wurde
mithilfe der Non-Profit-Organisation
Atmosfair berechnet, die Bahnfahrten
mit dem Umweltmobilitätscheck von
bahn.de kalkuliert. Da Fernbahnen
mit Ökostrom fahren und Regional-
züge konventionell betrieben werden,
gibt es auf vergleichbaren Strecken
starke Unterschiede beim CO₂-
Ausstoß. Die berufliche Bilanz der
Autorin beträgt 1123 Kilogramm
CO₂ für das erste Halbjahr 2019.

BILDUNG WISSENSCHAFT BERUF


  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 35


»Ich sage Kongresse ab«


Viele Mitarbeiter meiner Abteilung fahren mit
der Bahn zum Jahreskongress der Geowissen-
schaftler in Wien. Videokonferenzen gehören
inzwischen zum Alltag. Aber Wissenschaftler
müssen fliegen, um ihre Arbeit gut zu machen,
und diese beruflichen Emissionen kann man
ihnen genauso wenig persönlich zuschreiben
wie einem Lkw-Fahrer die seinen. Trotzdem
tragen wir Verantwortung. Ich wäge immer
die Emissionen gegen die Wichtigkeit eines
Termins ab und sage viele Vortragseinladungen
und auch wichtige Kongresse in den USA ab.

Stefan Rahmstorf, 59, ist Klimatologe und
Leiter des Bereichs Erdsystemanalyse am Potsdam-
Institut für Klimafolgenforschung (PIK)

Flüge* kg CO₂
Berlin <–> Barcelona ...........................668,00
Berlin <–> Stockholm .........................466,00
Frankfurt <–> Berlin ...........................111,00
Wien <–> Zürich ................................324,00

Bahnfahrten* kg CO₂
5x Potsdam <–> München ....................14,00
2x Potsdam <–> Karlsruhe ......................5,60
Potsdam <–> Frankfurt ...........................2,80
Potsdam – Frankfurt ...............................1,40
Potsdam <–> Leipzig ...............................2,80
Potsdam <–> Tübingen .........................23,60
Potsdam <–> Prag .................................19,20
Potsdam–Zürich ...................................20,50
Potsdam <–> Bremerhaven ......................8,60
Potsdam <–> Kiel ....................................2,80
Potsdam <–> Bad Belzig ..........................5,00
Potsdam – Wien ....................................34,00
Potsdam <–> Hamburg ...........................2,80

Gesamtbilanz: .....................1712 kg CO₂

»Wir erfassen Flugmeilen«


Wir haben eine neue Strategie beschlossen:
Flüge beschränken wir auf unumgängliche
Dienstreisen, bei denen die Nutzung anderer
Verkehrsmittel nicht möglich ist und wo es um
Anlässe geht, bei denen der direkte Kontakt
notwendig ist – bei hochrangigen Delegationen
(Teilnahme an der offiziellen Reise der
Bundeskanzlerin nach China) oder
Feldforschung in entfernten Weltregionen.
Unsere Leitungen verpflichten sich, ihre
Flugmeilen 2019 zu erfassen und individuelle
Zielwerte für 2020 zu setzen. Unser
wissenschaftlicher Beirat soll nur noch ein- statt
zweimal jährlich tagen, weil die Mitglieder teils
aus anderen Kontinenten anreisen.

Jutta Allmendinger, 62, ist Soziologin und
Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin
für Sozialforschung (WZB). Sie ist Mitglied im
Herausgeber-Rat der ZEIT

Flüge* kg CO₂
Berlin <–> München ...........................246,00
Berlin – Stuttgart ................................159,00
Stuttgart – Bremen ..............................176,00
Nürnberg – Düsseldorf .........................93,00
Köln – Berlin ......................................124,00
Berlin <–> Istanbul .............................856,00
Berlin <–> Stuttgart ............................318,00

Bahnfahrten* kg CO₂
Bremen – Berlin ......................................1,20
3x Berlin <–> Hamburg ..........................0,30
Berlin – München ...................................0,10
München – Nürnberg .............................0,03
München – Berlin ...................................0,10

Gesamtbilanz .................1973,73 kg CO₂

Illustration: Anton Hjertstedt für DIE ZEIT


Konferenzen, Vorträge, Feldforschung – Wissenschaftler sind ständig unterwegs. Hier legen
sie ihre beruflichen Flüge und Fahrten des ersten Halbjahrs 2019 offen VON ANNIKA JOERES

Wie viel reisen Sie


für die Erkenntnis?


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