Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

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Sie ist exakte 100 Jahre alt, und vor einigen Wochen kam


sie zum ersten Mal in ein Krankenhaus. Sie wurde ope-
riert. Sie kichert. Denn in ihrem Magen war eine Fisch-


gräte entdeckt worden, eine riesengroße, Moment mal, sie
stoppt mitten im Satz, steht auf, holt einen Plastikbeutel


aus dem Regal, zeigt die Gräte, die tatsächlich furchterre-
gend riesengroß ist, und dort im Krankenhaus also sagten


die Ärzte, die Gräte müsse raus. »Jetzt ist sie raus, und mir
geht es so gut wie vorher«, sagt Kiyo Uema.


Kiyo Uema lebt mit ihren beiden Töchtern, den alten
Damen Rimiko, 62, und Keiko, 76, in einem Häuschen


am Rande von Nakijin auf der Insel Okinawa, die im Sü-
den Japans liegt; eng und niedrig sind die Räume. Wir sit-


zen auf Matten auf dem Holzboden, barfuß. Die Töchter
bringen Früchte, Tee, Gebäck.


Die Mutter trägt ein grünes Polohemd, grüne Hosen, links
einen Ehering, und die Haare hat sie streng zurückgekämmt.


Hundert Jahre alt zu sein, sagt sie, »ist ganz normal. Ich
habe immer getan, was ich tun wollte. Nichts anderes. Ver-


mutlich war es gesund.« Sie macht eine Kunstpause. Und
sagt: »Heute aber stoppen sie mich.« Sie meint ihre Töchter.


Kiyo Uema möchte in den Garten, täglich, immer, und der
Garten ist nah, liegt direkt hinterm Haus, sattgrün. Es tut


der Mutter gut, dort zu säen, zu harken, zu beschneiden,
zu ernten. Aber sie ist halt auch schon gestürzt, mehrfach.


Also bremsen die Töchter, während die Mutter drängelt.
Was kann eine Hundertjährige noch leisten, was sollte sie


leisten, was schafft sie noch allein?
Wir sind im Norden Okinawas, es ist Dezember 2018, und


hier endet unsere Reise in die wundersame Welt der ältesten
Menschen. Diese Reise begann vor zehn Jahren. Der erste


Hundertjährige, den wir je erlebten, 2009, lange bevor die
Autorin Samiha Shafy und ich die Idee und das Konzept


dieser Rechercheweltreise zu den ältesten Alten entwickel-
ten, betrat eines Abends tapsig und fröhlich die Bühne der


New Yorker Carnegie Hall. Das Orchester hatte eines sei-
ner Werke gespielt, und auf einmal erschien er persönlich,


Elliott Carter, damals gleichfalls exakte 100 Jahre alt, einer
der größten Komponisten des vergangenen und auch noch


des aktuellen Jahrhunderts. Er lachte und winkte und ließ
sich vom Publikum bejubeln, für seine Musik natürlich,


aber auch für seine ungebremste Lebenskraft.
Was für ein beglückender Moment in diesem ehrwürdigen


Saal. Standing Ovations, natürlich. Und derart energisch,
so vergnügt, so schöpferisch konnte ein Mensch von hun-


dert Jahren sein? Rund die Hälfte seines enormen Werks
war nach seinem 80. Geburtstag entstanden.


Wie machte er das? Was war sein Geheimnis?
Und weitere Fragen, die ganz großen, stellten sich: Wie


lebt man ein langes, vor allem ein gutes, erfülltes Leben?
Was in unserem Leben lässt sich beeinflussen – und wie?


Worauf sind Menschen, die sehr alt werden, stolz, und was
bedauern sie? Wie blicken sie ganz am Ende zurück auf


ihre rund hundert Jahre – und was können wir mehr oder
weniger Jüngeren daraus lernen?


Die Reise, die wir damals begannen (und bei der uns die
Kollegin Lisa McMinn mit Recherchen und Interviews
half ), führte uns zu rund 50 Hundertjährigen, kreuz und
quer durch Deutschland, die Schweiz, Dänemark und
Österreich und dann immer weiter: nach Thailand, auf die
Seychellen, nach Italien, Russland, China, Japan, an die
amerikanische Ostküste, an die Westküste, nach Hawaii.
Während dieser Reise lernten wir von Wissenschaftlern,
dass die Antwort auf die Frage, wie alt wir werden, zu
30 Prozent nicht in unseren Händen liegt: die Gene halt,
nicht viel zu machen, vorläufig nicht. Die übrigen 70 Pro-
zent aber können wir beeinflussen.
Bewegung ist ein Zauberwort. Schwimmen, Gehen oder
Laufen, Radfahren, sogar Gartenarbeit – Bewegung lässt
auf junge Weise alt werden.
Bindungen sind wichtig: die Kinder, die Freunde, eine
gesunde Ehe. Einsamkeit tötet, das sagten uns Hundert-
jährige, die nicht länger leben wollten, und Gerontologen.
Ernährung ist essenziell: Vielseitig muss sie sein, wenig
Zucker, überhaupt, von allem nicht zu viel.
Licht ist gesund. Wärme auch.
Claudina Melis aus Perdasdefogu auf Sardinien, 103 Jahre
alt, als wir sie trafen, nannte uns diese Weisheit des Alters:
»Du musst optimistisch sein. Und interessiert, also neugie-
rig. Mach nie etwas, das schlecht für andere Menschen ist,
sei ernsthaft. Kämpf nicht mit deinem Ehemann. Versuch,
die Fehler und Schwächen der Männer zu verstehen, man
kann ja damit fertigwerden. Koch das Gemüse aus dei-
nem eigenen Garten. Sei ehrlich. Und wenn ich ganz und
gar die Wahrheit sagen soll, dann ist dies hier das wahre
Geheimnis: Wenn ihr hundert werden wollt, dann glaubt
an Gott. Geht jeden Sonntag in die Kirche.«
Helga Weyhe gab uns diese Worte mit auf den Weg: »Ver-
suchen Sie, zufrieden zu sein. Nutzen Sie Ihre Chancen,
aber seien Sie niemals zu ehrgeizig. Ehrgeiz macht krank.
Und pflegen Sie Freundschaften. Freundschaft ist eine
gemeinsame Erinnerung.« Weyhe ist heute 96 Jahre alt,
und noch immer führt sie ihre Buchhandlung in Salz-
wedel, wenige Kilometer östlich der einstigen deutsch-
deutschen Grenze.
Tatendrang und Leidenschaften sollten wir alle uns bis zum
Tod erhalten, das riet der Berliner Leopold Kuchwalek,
inzwischen 102, der bis vor einem Jahr noch als Bademeis-
ter und Schwimmlehrer arbeitete: »Ich sage immer: Kinder,
ich mach das schon, ich erledige das.«
»Oh«, sagte Toshiko Taira, nun 99, auf Okinawa, »ich
kann sagen, womit man hundert Jahre alt wird: Jasmin-
tee, Süßkartoffeln, Soja, Pfeffer, Zwiebeln, Kohl, Kürbis,
Thunfisch, Karotten, Miso, Tofu, Goya.« Goya ist eine
bittere Melonensorte.
Gladys Goka, am Tag unserer Begegnung 100 Jahre alt,
aus Honolulu, Hawaii, stellt zum Schluss fest: »Wenn ich
nochmals jung wäre und das Geld hätte, würde ich viel
lernen. Meine Eltern hatten damals kein Geld, darum
konnte ich keine Ausbildung machen.«

Vo n KLAUS BRINKBÄUMER


Foto Mark Niedermann
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