Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1
schaft führte so zu einem Gefühl der kollektiven Identität und
Loyalität. Wer davon abwich, wurde stigmatisiert oder kam
bei Auseinandersetzungen mit Gegnern zu Tode.
Heutzutage kennzeichnen Menschen ihre Gruppenidenti-
tät auf vielfältige Weise; ursprünglich jedoch geschah das
vorwiegend durch Verhaltensmerkmale, die sich auf eine
Reihe von Annahmen stützten: Menschen, die reden wie ich,
das Gleiche essen wie ich und auch sonst meine kulturellen
Praktiken teilen, gehören wahrscheinlich zu meiner kulturel-
len Gemeinschaft. Aus solchen Hypothesen erwuchs die
Neigung der heutigen Menschen, die kulturellen Praktiken
der eigenen Gruppe auszuüben. Kindern beizubringen, wie
man Dinge auf die übliche, von der Gruppe definierten
Weise tut, wurde zu einer unentbehrlichen Voraussetzung
zum Überleben.

Gruppenspezifische Normen werden von Generation
zu Generation weitergegeben
Unterricht und Konformität legten auch das Fundament für
eine kumulative kulturelle Evolution, in deren Verlauf sich
lang bewährte Praktiken oder Produkte verbessern ließen,
wobei diese Neuerungen dann im Rahmen der gruppenspe-
zifischen Konventionen, Normen und Institutionen an nach-
folgende Generationen weitergegeben wurden. In solche
kooperativen Sozialstrukturen hineingeboren, blieb den
Individuen nichts anderes übrig, als sich ihnen zu fügen.
Zum entscheidenden psychologischen Merkmal avancierte
das Gruppenbewusstsein: Die Menschen nahmen die kogni-
tive Perspektive der Gruppe als Ganzes ein, um so für ihr
Wohlergehen zu sorgen und sich ihren Gebräuchen anzupas-
sen. Schon bei dreijährigen Kindern konnten wir das beob-
achten.
Individuen, die zu einem bestimmten Kulturkreis gehör-
ten, mussten sich den herrschenden kulturellen Gebräuchen
und sozialen Normen fügen, um so zu demonstrieren, dass
sie sich mit der Gruppe und ihren Praktiken identifizieren.
Dabei ging es aber auch um mehr als nur um Konformität
und Gruppenidentität. Betroffen war ebenfalls das von
Frühmenschen geerbte Gefühl für Sympathie und Fairness,
das sich zu moralischen Normen weiterentwickelte. Genau
wie manche Normen festlegten, wie man etwas bei der Jagd
oder bei der Werkzeugherstellung richtig oder falsch mach-
te, so schufen die moralischen Normen Kategorien für den
angemessenen Umgang mit anderen Menschen. Die kollek-
tiven Ziele und die gemeinsamen kulturellen Grundlagen der
Gruppe schufen eine Perspektive, bei der nicht das »Ich«,
sondern das »Wir« zählt. Es entstand die menschliche Moral
mit ihrem Sinn für richtig und falsch.
Natürlich kann der Einzelne sich entschließen, gegen eine
moralische Norm zu verstoßen. Aber wer von anderen
Gruppenmitgliedern zur Ordnung gerufen wird, dem bleibt
nur ein begrenzter Spielraum: Er kann die Kritik ignorieren
und sich damit außerhalb der gemeinsamen Werte der
Gemeinschaft stellen, was möglicherweise zum Ausschluss
führt. Für Homo sapiens erwiesen sich kulturelle Normen als
legitimes Mittel, um die eigenen Impulse unter Kontrolle zu
halten und ein Signal der Gruppenidentität auszusenden.
Wer von den Normen abwich, musste die mangelnde Ko-
operationsbereitschaft unter dem Gesichtspunkt gemeinsa-

durchbrach bei den gemeinschaftlichen Aktionen das »Wir«
die egoistisch-individuelle Ebene und steuerte die Handlun-
gen der Kooperationspartner »Ich« und »Du«. Der Mensch
entwickelte eine »geteilte Intentionalität«: die Fähigkeit,
gemeinsame Ziele zu definieren (siehe »Die Evolution der
menschlichen Moral«, S. 37).
Die Anpassung der Frühmenschen an eine obligatorisch
gemeinsame Nahrungssuche führte damit zu einer »zweit-
personalen Moral« – zur Neigung, Beziehungen zu anderen
mit einem Gefühl des Respekts und der Fairness einzuge-
hen, basierend auf der Grundlage, dass sowohl ich selbst
als auch die anderen gleichermaßen verdienstvolle Mitspie-
ler des Gemeinschaftsunternehmens darstellen. Dieses
Gespür für Fairness wurde verstärkt durch ein Pflichtgefühl
dem Mitmenschen gegenüber. Zwar verfolgen alle Prima-
ten ihre individuellen Ziele, wegen der gegenseitigen sozia-
len Abhängigkeiten der Frühmenschen fühlten sich die
Individuen jedoch ebenfalls verpflichtet, andere so zu be -
handeln, wie sie es verdient hatten, und erwarteten um-
gekehrt dasselbe für sich. Diese zweitpersonale Moral be -
saß noch nicht alle Merkmale unserer jetzigen, aber die
wichtigsten Elemente – gegenseitiger Respekt und Fair -
ness – waren ansatzweise bereits vorhanden.


Der zweite entscheidende Schritt in der Evolution der
menschlichen Moral trat ein, als zwei demografische Fakto-
ren die gemeinsame, im kleinen Maßstab stattfindende
Nahrungssuche der Frühmenschen destabilisierten und
damit vor mehr als 200 0 00 Jahren Homo sapiens entstehen
ließen. Die neue Ära begann durch die Konkurrenz zwi-
schen Menschengruppen. Auf Grund der Auseinanderset-
zungen mussten sich locker strukturierte Populationen in
engere soziale Verbände verwandeln, die sich gegen äußere
Eindringlinge wehren konnten. In jeder dieser Gruppen
entwickelte sich eine interne Arbeitsteilung, und das alles
führte zu einer kollektiven Gruppenidentität.
Gleichzeitig nahm die Populationsgröße zu. Als die Zahl
der Menschen in den Stammesgruppen wuchs, spalteten
sich die größeren Einheiten in kleinere Untergruppen auf,
die sich immer noch an die Übergruppe – die man jetzt als
eigenständige »Kultur« bezeichnen könnte – gebunden
fühlten. Nun erwies es sich als unverzichtbar, Mitglieder der
eigenen kulturellen Gruppe, die nicht unbedingt enge
Verwandte waren, zu erkennen – und sie von Personen
anderer Verbände zu unterscheiden. Das war wichtig, weil
man sich nur bei Mitgliedern darauf verlassen konnte, dass
sie dieselben Fähigkeiten und Werte teilten und insbeson-
dere bei der Verteidigung der Gruppe vertrauenswürdig
waren. Die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemein-


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