Spektrum der Wissenschaft - 05.2019

(Sean Pound) #1

Wieder kann man Tapetenfunktionen definieren, die
periodisch in jeder von fünf Variablen sind. Zudem sollen
sie unverändert bleiben, wenn man jede Variable durch
ihre Nachfolgerin und die letzte durch die erste ersetzt
(zyklische Permutation). Dann betrachtet man die Tapeten-
funktion eingeschränkt auf die Ebene, die durch die End-
punkte der fünf Einheitsvektoren geht. Diese ist wieder
zweidimensional und damit der Anschauung zugänglich.
Sie ist durch die fünf genannten Punkte eindeutig be-
stimmt, die auf ihr ein regelmäßiges Fünfeck bilden. Das
Muster, das sich dabei ergibt (siehe Bild S. 77 unten), ist
fünfzählig-symmetrisch; so ist es konstruiert.
Aber es ist keine Tapete! Das ist auch gar nicht möglich,
denn fünfzählige Symmetrie und doppelte Periodizität
vertragen sich grundsätzlich nicht. Keine der 17 kristallo-
grafischen Gruppen enthält eine Drehung um 72 Grad,
was einem Fünftel des Vollwinkels entspricht. Nur: Warum
sieht das Muster dann so tapetenartig aus? Wieso finden
sich dieselben fünfzählig-symmetrischen Bildelemente an
so vielen Stellen wieder?
Einerseits ist die Tapetenebene im fünfdimensionalen
Raum schiefer als ihre dreidimensionale Kollegin. Bis auf
die fünf Punkte, durch die sie definiert ist, trifft sie über-
haupt keinen Gitterpunkt. (Auch in fünf Dimensionen kann
man verallgemeinerte Würfel lückenlos stapeln und erhält
ein Gitter aus deren Eckpunkten). Zur Erklärung lässt sich
anführen, dass = (√5+1)/2, die Zahl des goldenen
Schnitts, die bei fünfzähliger Symmetrie stets vorkommt,
»so irrational« ist, dass sie weitere Treffer verhindert.
Andererseits verfehlt die Tapetenebene manche Gitter-
punkte nur sehr knapp. In der Umgebung einer solchen
Stelle sieht das Muster zwar nicht genauso aus wie bei


einem Treffer, ist diesem aber zum Verwechseln ähnlich.
Man kann die Zahl t niemals durch einen Bruch ausdrü-
cken, kommt ihr mit Brüchen allerdings beliebig nahe, und
zwar indem man ein Glied der Fibonacci-Folge 1, 1, 2, 3, 5,
8, 13, 21 ... durch seinen Vorgänger teilt. Solchen Nähe-
rungswerten entsprechen die Fast-Treffer in der fünfzähli-
gen Pseudotapete. Die wiederum liegen nicht in gleichen
Abständen über die Ebene verteilt, sondern irgendwie auf
regelmäßige Weise unregelmäßig.
Ein genialer Kunstgriff macht nun aus den angenäher-
ten Treffern perfekte und damit aus einer ungefähren
Wiedergabe eines Musters eine genaue: Man projiziert alle
Gitterpunkte, die hinreichend nahe an der Tapetenebene
liegen, auf die Ebene selbst und verbindet die Projek tions-
bilder zweier Gitterpunkte durch eine Kante, wenn diese
Gitterpunkte benachbart sind, das heißt zu einer Kante
eines Gitterwürfels gehören. Was »hinreichend nahe«
bedeutet, will zwar sorgfältig definiert werden; aber im
Prinzip ist es auch im fünfdimensionalen Raum kein Prob-
lem, den Abstand zweier Punkte zu berechnen. Und einen
Punkt P auf eine Ebene zu projizieren heißt, den Punkt der
Ebene zu wählen, der P am nächsten liegt.
Was dabei herauskommt, ist nichts weniger als das
berühmte Penrose-Muster aus dicken und dünnen Rauten,
das als zweidimensionales Analogon eines Quasikristalls
intensiv studiert wurde (siehe Bild links). In der Tat ist die
Projektion aus dem fünfdimensionalen Raum eines der
bedeutendsten Hilfsmittel, um nichtperiodischen Pflaste-
rungen der Ebene, insbesondere dem Penrose-Muster, auf
die Spur zu kommen (siehe Spektrum Februar 2002, S. 64).
Mitte der 1980er Jahre war Peter Stampfli, damals an
der Freien Universität Berlin, auf eine ganz ähnliche Idee
gekommen: Man nehme zwei Gitter aus regelmäßigen

Diese Penrose­Pflasterung der Ebene lässt sich bis ins
Unendliche fortsetzen. Sie ist fünfzählig­symmetrisch um
ihren Mittelpunkt; und obwohl immer wieder die
gleichen Motive auftauchen, wird sie niemals periodisch.


Zwölfzählig­symmetrische Pseudotapete von Frank
Farris, Farbgebung nach einem echten Foto.

MIT FRDL. GEN. VON FRANK FARRIS

WHITEWAY / GETTY IMAGES / ISTOCK
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