Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

KLOSTERMEDIZIN


VON MONTE CASSINO


NACH BINGEN


Benedikt von Nursia legte den Grundstein der klösterlichen
Heilkunde, die in Hildegard von Bingen ihre wohl eigen-
willigste Vertreterin fand. Jahrhundertelang oblag es Geist-
lichen, das medizinische Wissen der Antike zu bewahren
und zum Wohl der Patienten zu erweitern.




Dass das Mittelalter in gesellschaftlicher wie wissen-
schaftlicher Hinsicht eine Epoche der Finsternis war, ist
ein weit verbreitetes Klischee. Im 17. Jahrhundert
ersonnen, um die Leistungen der eigenen Gegenwart durch
den Kontrast zur düsteren Vergangenheit noch strahlender
erscheinen zu lassen, prägte es unser Bild jener Zeit – auch
in der Forschung. Beispielsweise sprach der Medizinhisto-
riker Julius Pagel, ein Pionier seines Fachs, um 1900 abwer-
tend von einem Jahrtausend der Stagnation. Nur zögerlich
gewannen Historiker ein differenzierteres Bild und trennten
Fakten von Vorurteilen. 1964 bezeichnete der Heidelberger
Arzt und Historiker Heinrich Schipperges das frühe und
hohe Mittelalter als eigenartigste Epoche in der Geschichte
der abendländischen Medizin und charakterisierte sie als
Zeit ohne Universitäten, in der sich in Europa nur Benedik-
tiner auf die Heilkunde verstanden, als »Zeitraum, den man
deshalb auch als Epoche der Klostermedizin oder als Zeit-
alter der Mönchsärzte bezeichnet hat«.
Zum Klischee der allgemeinen Düsternis gesellte sich ab
dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Hinblick auf die
gesellschaftlichen Aspekte noch ein romantisch verklärtes
Bild, geprägt von Burgen und edlen Rittern, Minneliedern
und Heldensagen. Und auch zum Negativbild der stagnie-
renden Klostermedizin existierte ein solcher Gegenentwurf:
Hildegard von Bingen (1098–1179). Dank der polnisch-fran-
zösischen Ärztin Mélanie Lipinska (1865–1933) avancierte
die Äbtissin zunächst zur Ikone der Frauenbewegung, da sie

es verstanden hatte, sich in einer Welt der Männer bis in
höchste Kreise Respekt zu verschaffen. Schließlich schrieb
Lipinska ihr sogar die Kenntnis des Blutkreislaufs wie auch
der Gravitation zu. Zur Erinnerung: Als nachweislich Erster
beschrieb der Londoner Arzt William Harvey den Blutkreis-
lauf 1616 in seinen Vorlesungen, und gut 70 Jahre später
formulierte der britische Naturforscher Isaac Newton das
Gravitationsgesetz. Wie konnte ihnen eine Nonne des

12. Jahrhunderts zuvorgekommen sein? Lipinskas Schluss-
folgerung lautete: Ein solches Wissen musste Gott ge-
schenkt haben – Hildegard war schon zu Lebzeiten für ihre
Visionen berühmt.
Ihre heutige Popularität verdankt sie aber vor allem dem
österreichischen Arzt Gottfried Hertzka, der seine angeblich
auf den Werken der Äbtissin basierte »Hildegard-Medizin«
ab 1970 Gewinn bringend vermarktete (siehe Bild S. 76).
Auch er postulierte einen visionären Ursprung ihrer Natur-
und Heilkunde; sie sei die »Sekretärin des Heiligen Geistes«
gewesen. Von Anweisungen zur richtigen Ernährung und
Rezepten für die Behandlung diverser Krankheiten ganz
abgesehen habe die Nonne bereits von Viren, Blutgruppen,


Dieser Artikel war als gemeinsamer Beitrag des Medizin his torikers
Tobias Niedenthal (links) von der Forschergruppe Klostermedizin in
Würzburg und des Medizin- und Pharmaziehistorikers Johannes
Gottfried Mayer, dem Leiter der Gruppe, geplant. Mayer verstarb
unerwartet im März 2019. Der Artikel ist seinem Gedenken gewidmet.

 spektrum.de/artikel/1647248

Hildegard von Bingen empfängt eine Inspiration Gottes.
Diese einzige zeitgenössische Darstellung der Äbtissin
entstammt ihrer ersten visionären Schrift, der »Scivias«.
Das Original ist durch Fotografien erhalten.

PETRA ROTHÜTL PETER RAIDER
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