Spektrum der Wissenschaft - 08.2019

(Ron) #1

Aber nicht bloß das offenbare Ausscheiden einer semi-
klassischen Theorie enttäuschte die Physiker. Laut Gisins
Ergebnis war es auch unmöglich, die Quantenphysik so zu
modifizieren, dass sie die vielen offenen Fragen aus diesem
Bereich beantwortet. Tatsächlich gibt die Quantenphysik
auch heute noch vielen Forschern Rätsel auf. Beispielswei-
se möchte man verstehen, ob Überlagerungen real sind und
warum Messungen diese vielfältigen Zustände zerstören.
Einige Physiker argumentieren, dass sich Messgeräte
fundamental von mikroskopischen Teilchen unterscheiden
und sie deshalb bei einem Kontakt zwingen, einen einzigen
Zustand anzunehmen. Warum sollten Messgeräte eine
andere Natur als Quantenteilchen haben, wenn sie doch
aus Atomen bestehen, die für sich den Gesetzen der Quan-
tenwelt gehorchen?
Physiker suchten daher Ende der 1980er Jahre nach
einer übergeordneten Theorie, die erklärt, weshalb es keine
makroskopischen Überlagerungen gibt. Ihre Idee bestand
darin, die Schrödingergleichung so zu verändern, dass
große Systeme automatisch in einen einzigen Zustand
kollabieren. Doch wie sollte man das tun, ohne der speziel-
len Relativitätstheorie zu widersprechen?
Den Grundstein dafür legte Gisin selbst bereits im
Jahr 1984, als er der Schrödingergleichung einen Term
hinzufügte, der vom Zufall bestimmt ist. Daraufhin mittelten
sich die nichtlinearen Beiträge über die Zeit weg – die
überlichtschnelle Informationsüber-
tragung blieb in diesem Modell also
ausgeschlossen. Gisins innovativer
Ansatz führte zu einer modifizierten
Version der Quantenmechanik, die als


»spontane Lokalisierung« bezeichnet wird (siehe Spektrum
August 2018, S. 12).
Zunächst ignorierten Wissenschaftler jedoch die Mög-
lichkeit, damit eine semiklassische Gravitationstheorie zu
konstruieren. Sie dachten, dass sich daraus entstehende
Vorhersagen ohnehin nicht experimentell testen ließen. Die
Situation änderte sich um das Jahr 2010, als sich mehrere
Physiker unabhängig voneinander einige Versuche überleg-
ten, die den quantenmechanischen Charakter der Gravitati-
on erforschen könnten.
Um den Ausgang eines solchen Versuchs mit theoreti-
schen Vorhersagen zu vergleichen, braucht man aber eine
semiklassische Theorie der Gravitation. Und die gab es um
2010 noch nicht. Mangels Alternativen waren theoretische
Physiker gezwungen, den fehlerhaften Ansatz von Møller
und Rosenfeld zu nutzen. Sie hofften, damit wenigstens die
Größenordnungen der experimentellen Ergebnisse grob
abschätzen zu können.
Dvir Kafri und Jacob Taylor von der University of Mary-
land gaben sich damit nicht zufrieden. 2014 entwickelten
sie zusammen mit Gerard Milburn von der University of
Queensland erstmals ein konsistentes semiklassisches
Gravitationsmodell, indem sie eine Variante eines sponta-
nen Lokalisierungsmodells nutzten. Allerdings entspricht
die daraus abgeleitete gravitative Anziehung zweier Objekte
nicht der Realität. Sie stimmt nicht mit den Gesetzen über-

Spontane
Lokalisierung
durch »Blitze«

Wie Schrödinger mit seiner zeit-
gleich toten und lebendigen Katze
verdeutlicht hat, sind überlagerte
Zustände – zumindest theoretisch –
nicht auf den Mikrokosmos be-
schränkt. Wendet man die Schrö-
dingergleichung auf Alltagsgegen-
stände an, die aus einer großen
Anzahl von Teilchen bestehen,
ergeben sich daraus immer Überla-
gerungen. Ein solcher Zustand
wurde jedoch noch nie beobachtet.
Um das zu erklären, schlugen
Giancarlo Ghirardi, Alberto Rimini
und Tullio Weber (GRW) 1986 ein
Modell vor, in dem die Wellenfunk-
tion eines Teilchens manchmal
einen »Blitz« erfährt. Das Teilchen

materialisiert sich dann an einer
präzisen Stelle (»spontane Lokalisie-
rung«). Dieses Ereignis soll aber
bloß mit sehr geringer Wahrschein-
lichkeit eintreten, so dass es durch-
schnittlich weniger als einmal in
mehreren Milliarden Jahren passiert.
Dadurch beeinflusst ein Blitz
kaum die mikroskopische Dynamik.
Dafür materialisieren sich in einem
makroskopischen Objekt, das aus
etwa 10^20 Atomen oder mehr be-
steht, jede Sekunde Milliarden
Elementarteilchen, was Überlage-
rungen zerstört.
Das GRW-Modell fügt der Quan-
tenmechanik allerdings neue Para-
meter hinzu (zum Beispiel die

Häufigkeit, mit der sich Partikel
materialisieren), ohne zu erklären,
woher sie kommen. Nur wenige
Physiker glauben daher, dass das
GRW-Modell die konzeptionellen
Probleme der Quantenphysik
lösen wird.
Die spontane Lokalisierung
erlaubt es aber, mögliche Wege zu
einer semiklassischen Theorie zu er-
kunden. In dem 2015 von Antoine
Tilloy und Lajos Diósi entwickelten
Modell führt der zufällige Blitz
(Mitte, rot) dazu, dass ein Teilchen
eine Masse erhält und dadurch ein
Gravitationsfeld erzeugt, das die
anderen Wellenfunktionen anzieht
(rechts).

POUR LA SCIENCE JANUAR 2019
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