CONNY EHM, FREIBURG
ETHIK
»DIE ÜBERGÄNGE
SIND FLIESSEND«
Der Ethiker Joachim Boldt über
künstliche Lebewesen, Patentierun-
gen und Enhancement.
Die Bottom-up-Biologie möchte aus Biomolekülen
künstliche Strukturen erschaffen, die Merkmale
von Lebewesen aufweisen. Ab wann lassen sich
solche Strukturen als echtes Leben ansehen?
Eine konkrete Schwelle gibt es wohl nicht, weil die Über
gänge fließend sind und wir keine punktgenaue Definition
davon haben, was Leben ist. Selbst aus der Natur kennen
wir Übergangsformen wie die Viren. Doch wenn es gelän
ge, Strukturen zu entwickeln, die alle wichtigen Kriterien
des Lebens erfüllen – Stoffwechsel, Evolutionsfähigkeit und
so weiter –, dann müsste man wohl von Leben sprechen.
Welche Merkmale muss ein System unbedingt
haben, um als lebend zu gelten?
Hierzu existiert kein echter Konsens. Aus meiner Sicht ist
ganz entscheidend, dass ein solches System sich gegen
über einer Umwelt selbst erhält und organisiert, wobei es
von dieser Umwelt abgrenzbar ist und zugleich mit ihr in
Stoffaustausch steht.
Wären künstliche Lebewesen Erfindungen?
Ich würde eher von einer Zwischenkategorie zwischen
Erfindung und Entdeckung sprechen. Einerseits wären sie
konstruiert, andererseits handelte es sich um eigenständig
existenzfähige Gebilde, über die wir keine vollständige
Verfügungsgewalt hätten, zumal wenn sie evolvieren. Sie
als Entdeckung einzuordnen, unterstellt quasi, man müsse
keine Verantwortung für ihre Folgewirkungen übernehmen.
Spricht man von Erfindungen, dann ignoriert das zu einem
gewissen Grad ihre Selbstorganisationsfähigkeiten. Wir
brauchen etwas dazwischen.
Inwiefern sollten künstliche Lebewesen patentier-
bar sein?
Erfindungen sind patentierbar, Entdeckungen sind es nicht,
so die juristische Festlegung. Wenn wir synthetische Orga
nismen als etwas ansehen, was dazwischenliegt, brauchen
wir auch patentrechtlich neue Regelungen für sie. Die
könnten vielleicht so aussehen, dass einige Teile oder
Eigenschaften dieser Systeme patentierbar wären, andere
aber nicht – oder dass ein Patentschutz nur in bestimmten
Anwendungsbereichen gälte.
Forscher wollen den genetischen Code von Zellen
grundlegend neu strukturieren – mit dem Ziel,
virusresistente Zellen zu erschaffen. Wie ist das
aus ethischer Sicht zu bewerten?
Das geht in Richtung Enhancement, also Verbesserung von
Lebewesen durch gentechnische Eingriffe, und wäre
ethisch vor allem dann relevant, wenn es Menschen beträ
fe. Denn es gibt ja durchaus Überlegungen, auch mensch
liche Zellen so zu verändern. Im Bereich des Enhancement
lautet die wichtigste Frage, ob die immer vorhandenen
Nebenwirkungen den Nutzen wert sind. Zumal es gar nicht
so leicht ist zu sagen, was denn »besser« genau heißen soll.
Noch problematischer wird es bei einem Enhancement von
Keimbahn zellen, bei dem nicht nur das jeweils behandelte
Individuum betroffen ist, sondern auch seine Nachkommen.
Genthera pien, die nicht in die Keimbahn eingreifen, akzep
tieren wir heute schon, etwa als Behandlungsmethode
gegen Krebs, sofern sich die Nebenwirkungen beherrschen
lassen. Bei einem Enhancement der Keimbahn hingegen
verändern wir Menschen, die wir nicht nach ihrem Einver
ständnis fragen können. Wir legen damit bis zu einem
gewissen Grad fest, was diesen Menschen als gutes Leben
erscheinen sollte. Ist das fair? Ich denke, da sollten wir eine
Grenze ziehen.
Lebende Gebilde im Labor zu erzeugen: Wäre das
der endgültige Abschied von Gottesvorstellungen?
Das glaube ich nicht. Es heißt zwar oft, wenn wir aus
unbelebten Molekülen etwas Belebtes bauen, dann haben
wir final bewiesen, dass Leben nichts weiter ist als Chemie.
Doch an der Faszination des Lebens, die mit seiner Selbst
organisation zu tun hat, würde sich ja dadurch nichts
ändern. Vielleicht sollten wir deshalb auch nicht davon
sprechen, Leben zu erschaffen, sondern davon, Bedingun
gen herzustellen, unter denen es sich bildet und erhält.
Das Gespräch führte SpektrumRedakteur Frank Schubert.
Joachim Boldt ist stellvertretender Direktor am Institut
für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität
Freiburg. Er hat unter anderem als Sachverständiger
für den Ethikbeirat des Deutschen Bundestags sowie
für den nationalen Ethikrat Dänemarks gearbeitet.