Focus - 24.08.2019

(Brent) #1

WISSEN


Fotos: Thomas Schweigert/13 Photo, Getty Images, Markus Hurek für FOCUS-Magazin

68 FOCUS 35/2019


Neben dem Schmerz sei die Eitelkeit der
wichtigste Grund, sich der Haltungsfrage
zu stellen, und oft sei sie das nachhaltige-
re Motiv. Er begrüße das. Die Leute wür-
den rechtzeitig etwas tun gegen drohen-
de Verspannungen, Migräne-Attacken
oder Bandscheibenvorfälle. Sie handeln
damit vorbeugend, auch wenn
der Begriff in dem Zusammen-
hang nicht ganz passen mag.
Die Diagnose ist bei Schreib-
tischkrümmlingen oft klar. Das
viele Sitzen verkürzt die Brust-
muskeln, schwächt den unte-
ren Teil des Trapezmuskels,
verspannt Halsbeuger und
Schulterblattheber. Würde sich
erst einmal ein Rundrücken,
einst auch Lehrlings- oder
Schneiderbuckel genannt, ver-
festigen, so ließe sich daran nur
mehr schwer etwas machen,
warnt der Orthopäde. Man
habe dann ein Problem am
Hals, das sich selbst verstärkt.
Ich müsse korrigierend
arbeiten, mich re-konditionie-
ren, höre ich. Der Arzt spricht
von einem Halteapparat und
einer tiefen Muskulatur, die
es zu trainieren gilt. Kurioser-
weise empfiehlt er dazu eine
Übung, bei der Männer ihre
Hoden hoch-, und Frauen ihre
Vagina zusammenziehen sollen. Dann
zeigt er mir den Kraft- und Übungsraum
seiner Praxis voller Maschinen, Gewichte,
Seile und Stangen, aufgereiht wie Instru-
mente der Folter. Einen Rat zur Aufrich-
tung meiner selbst gibt er mir sofort mit
auf den Weg: das Brustbein nach oben
schieben und die Schultern nach hinten
und nach unten, als wollte man sie in die
Gesäßtaschen einer Jeans stecken.
Draußen auf der Straße treffe ich auf
eine Welt voll von Gebeugten. Wer einmal
beginnt, darauf zu achten, sieht sie über-
all. Jugendliche, die ihre Köpfe über ihre
Handys sinken lassen. Frauen, die sich in
sich zusammenziehen, als wollten sie ihre
Brüste vor zudringlichen Blicken schüt-
zen. Groß gewachsene Männer, die sich
ducken, als müssten sie beständig den
Kopf einziehen. Nicht nur Anzugträger,
auch Kerle in Handwerkerkluft zeigen
Schwächen. In U-Bahnen und Cafés, an
Konferenztischen und auf Parkbänken –
ein einziges großes Abhängen.
Hat niemand davon gehört, dass eine
aufrechte Körperhaltung die Attraktivität


steigern soll, weit mehr als jede Schlank-
heitskur? Dass sie angeblich vor Über-
fällen schützt, weil sie Selbstbewusstsein
und Stärke ausstrahlt? Der Stimme mehr
Raum gibt? Ja, dass sie die Laune hebt?
Von einem Zusammenhang zwischen
Haltung und seelischer Gestimmtheit

spricht zumindest der Psychologe Johan-
nes Michalak von der Universität Witten/
Herdecke. Er erforscht das sogenannte
Embodiment, die Wechselwirkungen zwi-
schen Körper und Psyche.
Zwar geht er nicht so weit wie seine
amerikanische Kollegin Amy Cuddy von
der Universität Harvard. Die
hatte in einem der erfolg-
reichsten aller TED-Talks
behauptet, simples Power
Posing – das kurzzeitige Ein-
nehmen machtvoller, domi-
nanter Körperstellungen –
erhöhe die Testosteronwerte,
führe zu mutigerem Auftreten
und verschaffe Bewerbern
mehr Erfolg. Diese Thesen
wurden von anderen For-
schern angezweifelt und lie-
ßen sich nicht beweisen. Doch
glaubt Michalak an subtilere
Formen des Feedbacks.
In seinen Experimenten
konnten sich Probanden, die
sich auf eine beschwing-
te, fröhliche Weise beweg-
ten, positive Begriffe besser
merken als diejenigen, die
dem niedergeschlagenen und
bedrückten Gangbild einer
Depression folgten.
Unsere Motorik, so schließt
Michalak, aktiviere unser emo-
tionales Gedächtnis, triggere gute oder
schlechte Erinnerungen. Erhöhtes Glück
mag mir der Professor nicht in Aussicht
stellen, sollte ich meinen Habitus ändern,
aber doch zumindest mehr Offenheit für
das Positive. Persönlich übt er sich im auf-
rechten Gang. Er habe die chinesische
Bewegungskunst Qigong für sich ent-
deckt, erzählt er. Sie lehre ihn, auch wenn
das etwas esoterisch klingen mag, sich zu
verbinden mit dem Himmel und der Erde.
Ich besuche eine Frau, die gelernt hat,
sich so zu bewegen, als könne sie sich
von der Schwerkraft der Erde lösen, und
die das Prinzip der aufrechten Haltung
im wahren Sinne des Wortes verkörpert.
Nadja Saidakova kam 1995 als Erste Solo-
tänzerin an die Staatsoper Unter den Lin-
den. Heute trainiert sie als Ballettmeiste-
rin die gemeinsame Compagnie aller drei
Berliner Opern. So kerzengerade ist ihre
Erscheinung, dass sich die Gäste auf Par-
tys automatisch etwas recken und stre-
cken, wenn sie den Raum betritt.
Mit neun Jahren, so erzählt sie stolz, sei
sie auf einer der härtesten Ballettschulen

Sozialer Imperativ Die Frage der falschen und der richtigen Körperhal-
tung thematisierten auch britische Benimmbücher des 19. Jahrhunderts

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Wenn ich Fotos von mir
sehe, denke ich manchmal:
Bildet sich da der Buckel
eines Büro-Quasimodos?

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Ein Journalist, bemüht um Contenance
Lümmeln bleibt erlaubt: FOCUS-
Redakteur Bernhard Borgeest will den Kopf
nicht mehr hängen lassen
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