Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1

V


Vor ein paar Jahren haben sich die Grie-


chen in eine Geschichte verliebt. Da gab


es einen Vater, er war nicht mehr der Jüngs-


te, hatte eine Glatze und einen Bauch, bald


würde seine Tochter heiraten. Er wollte ihr


etwas schenken.


Der Vater überlegte, es war mitten in der

Krise, was würde seine Tochter freuen, sie


berühren? Er googelte nach Tanzschulen.


Am nächsten Morgen rief er an.


Er nahm Stunden, er war der älteste


Schüler, nicht sehr talentiert, aber mit der


Zeit wurde es besser. Allen verschwieg er


es, selbst seiner Frau. Schaltete von Tanz-


sendung schnell auf Fußball um, wenn sie


ins Wohnzimmer kam. Am Tag der Hoch-


zeit trank er sich Mut an, dann stellte er


sich vor seine Tochter. Und forderte sie auf.


Sie sagte: Papa? Dann tanzten sie vor


allen, und sie sah ihn an, wie sie ihn lange


nicht mehr angesehen hatte.


Die Griechen sahen dem Vater beim Tan-

zen zu, wenn sie ins Kino gingen, es war ein


zwei Minuten langer Werbespot für Alfa,


eine Biermarke. Sie suchten den Spot, auf


Youtube hat er bis heute fast 2,7 Millionen


Klicks, nicht schlecht in einem Land mit


nicht mal elf Millionen Einwohnern.


Warum diese Geschichte?
Weil sie viel darüber erzählt, wie sich

Griechenland verändert hat in zehn Jah-


ren Krise, einer Krise, so tief, dass sie bei-


nahe ein neues Land hinterlässt.


Eines, in dem die Menschen nicht mehr

unbedingt reich werden wollen. Ein gutes


Leben möchten sie, aber nicht das schnel-


le Geld. Der Kapitalismus hat in Zusam-


menarbeit mit dem Staat so gründlich ver-


sagt, dass die Menschen kaum noch etwas


erwarten. Sie setzen andere Prioritäten.


Davon erzählt die Geschichte, der Spot


vom Vater, und diese hier auch: die vom


neuen Griechenland.


Nichts Materielles wollte der Vater sei-

ner Tochter schenken, er wollte ihr eine


Freude machen.


an zu arbeiten, als die Krise begann. Als
Einzige in ihrem Freundeskreis fand sie
einen Job, alle anderen gingen ins Ausland.
Ihre Freunde arbeiten über die USA und
Europa verteilt, ihre Schwester lebt in
Zürich.
„Die Griechen haben sich verändert“,
sagt sie. „Wir verbringen mehr Zeit mit der
Familie oder Freunden, weniger mit
Bekannten, weil wir schon genug damit
beschäftigt sind, zu arbeiten und durch-
zukommen.“
In den Jahren, in denen die Wirtschaft
einbrach, haben sich viele Griechen Ge-
danken gemacht, machen müssen, es ging
nicht weiter wie bisher. Im ganzen Land
nicht und für jeden Einzelnen. Voulgari
nennt es einen kollektiven Schock.
Ein anderer ihrer Spots erzählte von
einem Gemüseverkäufer und seinem
Sohn, der studiert und in die Stadt zieht,
sich vom Vater entfremdet und am Ende
wieder zu ihm findet. Einem Sohn, der sich
Gedanken macht darüber, wo er eigentlich
herkommt. Es ist auch eine Geschichte
vom alten Griechenland und von dem neu-
en, das gerade in der Krise steckte.
Früher mochten die Griechen Biere aus
dem Ausland. „Wir haben versucht, das Le-
ben der anderen Europäer zu imitieren“,
sagt Voulgari. „Jetzt suchen wir das Ein-
fache, das Authentische aus unserer alten
Zeit.“ Das günstige Bier Alfa, das nichts
darstellen will, hat davon profitiert, in der
Krise wurde es zum meistgekauften Bier
in Griechenland.

„Einen kleinen Schritt auf sie zugehen“,
sagt Aliki Voulgari, die Frau hinter dem
Spot, sie ist Werberin bei der Brauerei. Man
trifft sie in ihrem Büro an der Athener
Stadtautobahn, es ist nachmittags, sie
bietet alkoholfreies Bier an und erzählt.
Von dem Spot, vom griechischen Drama,
von sich.

DIE STADT


Voulgari macht einen Job, den es überall
auf der Welt gibt, aber in Griechenland
ist er außergewöhnlich. Sie ist 33, sie fing

Altstadt Plaka Im 19. Jahrhundert wurde hier italienisch inspiriert gebaut.
Die Patina hat seit Krisenzeiten zugenommen

Gemütsmenschen Marketing-
leiterin Aliki Voulgari und
ihr Chef Laurent Delmoul

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