Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1

Raphael Geiger (l.) lebt seit
2017 als stern-Korrespondent
in Athen. Er mag an der
Stadt, dass sie sich ständig
verändert. Fotograf Christian Kerber hatte ein
Luxusproblem: Er konnte sich bei all den
Motiven kaum entscheiden


Die Griechen, glaubt Marinakis, haben


einen „Appetit auf Kultur“, es liege in ihrer


DNA. Wenn man mit ihm durchs Dorf geht,


kommt man kaum voran, jeder grüßt ihn


mit Namen. Eine Insel ist noch enger als


ein Dorf, man kann sie nicht spontan ver-


lassen. Marinakis allerdings will das auch


gar nicht. Er sagt Sätze wie: „Das hier ist


ein anderer Planet.“ Oder: „Das hier ist ein


Paradies.“


An einem Tisch vor dem „Guten Herzen“

sitzt ein älterer Mann, der hier schon sei-


nen Kaffee trank, als noch der Großvater


den Laden führte. Man habe hier alles, sagt


er, man brauche ja nicht viel. Ziegen haben


sie, Gemüse aus dem Garten und die Fische


aus dem Meer. „Ist doch alles da“, sagt der


Alte. Seine Kinder konnten mit diesem


Leben nichts anfangen, seine Enkel schon


eher. Sie mögen den Fokus auf das, was


wirklich zählt. Auch die Freiheit im Kopf.


Manchmal kommen von einer größeren

Insel zusätzlich drei Polizisten, die drei


Tage bleiben und nach dem Rechten sehen.


„Dann“, sagt der Alte, „halten wir uns drei


Tage lang an die Verkehrsregeln.“


Ein Leben ohne viele Regeln, weil sie zu

wissen glauben, was sich gehört, wie man


gut und glücklich lebt. „In uns drin wissen


wir, was richtig ist.“ Das sagte Nikos, der


Reisebürogründer aus Athen. Es ist Filo-


timo. Und es ist der Traum von Kimolos,


dafür kommen die Menschen hierher. Was


die Insel einzigartig macht? „Wir“, sagt Ver-


douris, der Wirt des „Guten Herzen“: „Es


liegt an uns.“ An seinen Kindern liegt es, ob


sie die Taverne mal übernehmen. Ob sie die


Tradition fortführen oder ob sie keine Lust


haben auf die einsamen Winter.


So wie es an jedem Arzt in Athen liegt,


ob er sich bei der Hilfsorganisation enga-


giert oder ob er lieber ins Ausland geht.


Oder an einem Firmengründer, ob er den


Neustart wagt, trotz der Bürokratie und der


hohen Steuern. Oder an dem Vater aus der


Werbung, ob er auf dem Sofa sitzen bleibt


oder ob er sich traut.


Und anfängt zu tanzen. 2


WAS MACHT DIE


INSEL EINZIGARTIG?


„WIR“


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