Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1

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Russlandliebe, Protestwähler und Wir-Gefühl – vier


Woher kommt die Liebe zu Russland?


UWE PETER


Der Politikredakteur erlebte die


gesamte Wendezeit in Moskau, wo er


ab 1986 zunächst für ein Gewerk-


schaftsblatt arbeitete und später für


die „Sächsische“.


A


ls früherer Moskau-
Korrespondent habe
ich mich in letzter Zeit
ziemlich gewundert, wie
vie le Russland-Freunde und
Putin-Versteher es plötz-

lich in meiner sächsischen Heimat gibt.


Zumal die meisten davon einst ganz sicher


keine Anhänger der verordneten deutsch-


sowjetischen Freundschaft waren und Rus-


sisch für sie – trotz obligatorischen Unter-


richts in der DDR – bis heute eine recht


fremde Sprache blieb.


Was also ist passiert?
Die Welt hat sich gedreht, ziemlich kom-

plett – jedenfalls aus östlicher Sicht. Manch


einer hatte da wohl wenig Lust, sich mit-


zudrehen. Aus den einstigen Feinden in


Washington waren ja damals über Nacht


enge Verbündete geworden, aus den Freun-


den in Moskau auf einmal politische


Gegner. Wieder alles von oben verordnet.


Und wieder reagiert man hier bockig auf


Anordnungen.


Für andere, mit etwas schlichterem


Weltbild, ist hingegen klar: Wenn der


Mann im Weißen Haus aktuell als böse
gilt, muss der im Kreml – als Hauptgegen-
spieler – natürlich der Gute sein. Nach dem
Motto: Schwarz-Weiß erklärt die Welt
am besten, Grautöne verwirren nur. Dass
Putin einst KGB-Offizier war und dem
nahezu gleichen militaristischen Nationa-
lismus huldigt wie sein Ami-Kollege,
wird dabei gern ausgeblendet.

Frust-Wähler im Dreiländereck

JANA ULBRICH
Die Reporterin arbeitet seit der
Wendezeit in Zittau an den Grenzen
zu Polen und Tschechien.

I


ch lebe im Dreiländereck,
einem kleinen Zipfel
Grenzregion ganz im Süd-
osten Sachsens. Den kennt
kaum jemand in Deutsch-
land, obwohl er eine gran-
diose Landschaft und ein reiches kul-
turelles Erbe zu bieten hat. Aber darauf
allein können die Leute hier nicht bauen.
Sie fühlen sich am Rande, wirtschaftlich
und infrastrukturell abgehängt, von der
Leuchtturm-Politik vergessen.
Die jüngste Studie des Instituts der
Deutschen Wirtschaft bescheinigt uns kei-
ne große Zukunftsfähigkeit. Im bundes-
weiten Ranking liegen wir unter den fünf
am meisten benachteiligten Regionen.
Wir haben hier in den 1990er Jahren einen

wirtschaftlichen Niedergang ohneglei-
chen erlebt. Industriezweige mit langer
Tradition wurden abgewickelt. Tausende
haben über Nacht ihre Arbeit verloren.
Kinder und Enkel gingen in den Westen.
Schulen wurden geschlossen.
Heute schließen auch die Arztpraxen,
weil sich kein Nachfolger findet. Die
Grenzkriminalität blüht, während die
Polizei jahrelang Personal abgebaut hat.
Eine für die Region lebenswichtige Straße
wird seit 20 Jahren nicht fertig. Und kaum
einer hier kann von seiner Rente noch den
Pflegeheimplatz bezahlen. Und jetzt ver-
sprechen die Werbeplakate der Sachsen-
CDU, die seit 30 Jahren regiert: mehr Poli-
zisten, mehr Lehrer, mehr Ärzte. Wer soll
das noch glauben?
Die etablierte Politik ist diesem Land-
strich hier gefühlt keine große Hilfe ge-
wesen. Jetzt findet der Unmut ein Ventil:
Bei der Bundestagswahl 2017 hat in unse-
rem Wahlkreis jeder dritte Wähler für die
AfD gestimmt. Ein bis dahin völlig unbe-
kannter Malermeister hat das Direktman-
dat gewonnen – und der CDU-Politiker
und heutige Ministerpräsident Michael
Kretschmer seinen bis dahin stets siche-
ren Platz im Bundestag verloren. Bei der
Europawahl im Mai kam die AfD in
manchen Dörfern auf über 40 Prozent.
Und auch bei der Gemeinderatswahl in
unserem Dorf punktete ein AfD-Kandidat,
den vorher so gut wie niemand kannte.

UNSER

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