Das System Epstein
USADer Multimillionär Jeffrey Epstein, einst befreundet mit Bill Clinton und Donald Trump,
missbrauchte wohl mehr als 100 minderjährige Mädchen, im August tötete er sich in seiner Gefängniszelle.
Wer wusste von seinem mutmaßlichen Netzwerk? Auf den Spuren eines mächtigen Täters.
leicht weitaus mehr, um Vorwürfe des
Menschenhandels, um ein Justizsystem,
das Reiche bevorzugt, es geht auch um ein
Netzwerk von Helfern, Assistenten und
Ermöglichern, die bis jetzt nicht zur Re-
chenschaft gezogen wurden. Es geht um
einen Mann, der einst mit Donald Trump
und Bill Clinton befreundet war, der sich
mit Nobelpreisträgern, Künstlern und In-
tellektuellen umgab.
Epstein besaß mehrere Privatjets und
war so schwer fassbar wie Quecksilber.
Der Milliardär Leslie Wexner, Besitzer der
Unterwäschekette »Victoria’s Secret«, war
sein exklusiver Kunde, das Supermodel
Naomi Campbell flog in seinen Jets mit,
genau wie viele andere.
Wer wusste von Epsteins Vorlieben,
welche Komplizen und Mittäter hatte er?
Gab es einen Missbrauchsring?
Dass Jeffrey Epstein ein Mann mit pro-
minenten Freunden war, macht diesen Fall
so heikel. Prinz Andrew aus Großbritan-
nien zählte zu seinen Bekannten. Es gibt
von Andrew Bilder mit leicht bekleideten
jungen Mädchen, da ist eine Frau, die ihn
beschuldigt, sie als Mädchen vergewaltigt
zu haben, und eine andere, die sagt, er
habe sie betatscht. Andrew dementiert das
und sagt, »die Annahme, dass er dies dul-den, daran teilhaben oder es unterstützen
würde, ist abscheulich«.
Der Fall hat Dimensionen angenommen,
die kaum zu überblicken sind. Mindestens
drei strafrechtliche Verfahren wurden an-
gestrengt, dazu kommen Zivilklagen, die
Tausende Seiten Dokumente produzier-
ten – Zeugenaussagen, Polizeiprotokolle,
eidesstattliche Versicherungen, Beweismit-
tel, außergerichtliche Einigungen.
Epstein war 66, als er sich Anfang August
in seiner Gefängniszelle erhängte, er ent-
glitt seinen Opfern bis zuletzt. Die Men-
schen, die ihn kannten, erzählen von einem
Verführer und Egomanen, der dachte, er
schwebe über dem Gesetz.
Da ist Steven Hoffenberg, ein früherer
Geschäftspartner, der heute sagt, Epstein
sei das Mastermind hinter einem giganti-
schen Betrug gewesen. Da ist Mike Fisten,
ein Privatdetektiv aus Miami, der Epstein
jahrelang beschattete und dabei half, Mu-
nition gegen den Millionär zu sammeln.
Julie Brown, Reporterin beim »Miami
Herald«, spielt eine herausragende Rolle,
eine Wühlerin, die den Skandal zurück in
die Öffentlichkeit brachte. Ihr Gegenspie-
ler ist Alan Dershowitz, einer der bekann-
testen Juristen des Landes. Er vertrat Ep-
stein und verteidigte ihn vor Gericht gegen
Vorwürfe sexueller Ausbeutung.
Und da sind, allen voran, die Opfer. Vie-
le nicht älter als 14 oder 15 Jahre, als sie
Epstein kennenlernten, inzwischen Frau-
en, die noch immer mit dem Missbrauch
ringen und mit der Tatsache, Opfer zu sein.Aus dem Verfahren »L. M. gegen Jeffrey
Epstein«: »L. M. wurde erstmals im Jahr
2002 zu dem Haus des Beklagten Jeffrey
Epstein gebracht. Sie war 14 Jahre alt und
ging in die Mittelschule.«Der Redaktionssitz des »Miami Herald«
befindet sich tief im Westen von Miami an
der 91st Avenue, zwischen Schnellrestau-
rants und Tankstellen. Der Schreibtisch
von Julie Brown steht in einem Großraum-
büro in der zweiten Etage. Brown ist zu-
ständig für die schwierigen, langwierigen
Recherchen, sie verbeißt sich gern.
Sie ist die unwahrscheinliche Heldin in
dieser Affäre. Vor zweieinhalb Jahren, er-
zählt sie, recherchierte sie über Menschen-
handel, als sie auf Epsteins Namen stieß.
Sie las von einer Strafanzeige gegen Ep-72 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019
AuslandSCOTT MCINTYRE / DER SPIEGEL»Es war alles da,
aber niemand kümmerte
sich darum.«Reporterin BrownD
as Foto, auf dem Courtney Wild
zu sehen ist, als die Geschichte
für sie begann, zeigt ein fröhli-
ches, unbeschwertes Mädchen.
Sie trägt ein pinkfarbenes Top, runde Ohr-
ringe und eine Halskette, die braunen Haa-
re sind in der Mitte gescheitelt. Sie strahlt.
Sie sieht aus, als wollte sie die Welt umar-
men. Wild war 14 Jahre alt, als sie Jeffrey
Epstein kennenlernte.
Epstein, den Multimillionär. Den Kerl
mit den berühmten Freunden.
Eine Bekannte hatte ihr erzählt, sie kön-
ne Geld verdienen, indem sie einem rei-
chen Mann eine Massage gebe, in dessen
Villa am Meer, so wird sie es der Polizei
berichten. Sie könne sich aussuchen, sagte
die Bekannte, ob sie bei der Massage ihre
Kleider ablegen wolle oder nicht. Wild
ging hinauf in ein Zimmer, in dem eine
Massageliege stand. Epstein betrat den
Raum im Bademantel. Es dauerte nicht
lange, bis das Mädchen sich ausziehen
musste. Dann wandte er sich ab und mas-
turbierte. Als er fertig war, drückte er ihr
200 Dollar in die Hand.
Viele Jahre später sagt Courtney Wild
in einem Fernsehinterview: »Ich habe
mich eklig gefühlt, ich habe mich ge-
schämt.« Sie ging nicht nur einmal zu Ep-
stein, sondern mehr als 25-mal. Bis heute
gibt sie sich einen Teil der Schuld für das,
was Epstein mit ihr machte, auch wenn sie
ein Kind war. »Ich hatte 200 Dollar, die
ich vorher nicht hatte. Es war eine bittere
Pille, die ich geschluckt habe«, sagt sie.
Die Geschichte von Courtney Wild,
dem Schulmädchen, und Jeffrey Epstein,
dem Multimillionär, reicht bis in die Ge-
genwart. Es ist Dienstag dieser Woche, als
Wild in einen Gerichtssaal in New York
tritt. Mit ihr werden sich an diesem Tag
weitere 22 Frauen zu den Vorwürfen gegen
Epstein äußern. Die erste, die das Wort er-
greift, ist Courtney Wild. Sie ist kein Mäd-
chen mehr, 31 Jahre alt, sie strahlt auch
nicht. Sie kämpft mit den Tränen. Wut und
Trauer spüre sie, sagt sie.
Epstein verfolgt sie bis heute, obwohl
er längst tot ist. Sie findet keine Ruhe. »Ein
Feigling«, sagt Courtney Wild.
Es ist ein wütender und hilfloser Mo-
ment, er zeigt, dass es in der Affäre Epstein
nicht nur um einen Mann geht, der Mäd-
chen für Massagen bezahlte. Es geht um
mehr als 100 Fälle von Missbrauch, viel-