Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1
in Brasilien boomen. Ihr Versprechen ist,
dass einem alles verziehen wird, wenn
man nur neu anfängt und sein Leben in
die Hände Gottes legt. Im Juli postete Mar-
celo auf Instagram ein Video von seiner
Taufe. »Jetzt bin ich für die Welt gestor-
ben«, sagt er, »und in Jesus wiederauf -
erstanden.«
Der Fußball ist eine ewige Gegenwarts-
blase, in der einem die wiederkehrenden
Abläufe einen gewissen Halt geben. Nun,
am Ende der Karriere, in dieser Über-
gangszeit, in der die alte Struktur wegzu-
brechen droht und sich mit dem Fleck im
Gehirn die Zukunft meldete, füllt die Kir-
che mit ihren Dogmen eine Lücke.
Viele kritisieren Einrichtungen wie die
Assembleia als Geschäftemacherei, aber
für Marcelo bietet sie eine Exitstrategie.
Seit seiner Taufe, sagt er, habe er kein Bier
mehr angerührt. Er gehe jetzt nicht mehr
aus, kümmere sich mehr um seine Frau
und seine Kinder.
Am Freitag, nach der David-und-Go -
liath-Messe, sitzt er in der Lobby des
Hotels. Auf einem Fernseher läuft Fußball,
aber Marcelo schaut nicht hin. Vielleicht
wäre er Weltmeister geworden 2002, aber
der damalige Trainer der Nationalmann-
schaft lud ihn nach seiner Promillefahrt
über den Kaiserdamm nicht mehr ein.
Gibt es irgendwas, das er bereut?
Marcelo senkt den Kopf.
»Gott hat alles so gewollt«, sagt er. »Ich
habe gelebt. Andere sterben und haben
ihr Konto voller Geld. Das Einzige, was
ich bereue, ist das Leid, das ich meiner
Frau und meinen Kindern zugefügt habe.«
Dann zieht er sich zurück aufs Zimmer.
Knapp 10 000 Menschen sind am Sams-
tag ins Stadion gekommen, eine große, zu-
gige Schüssel aus verwittertem Beton. Sie
sehen ein dramatisches Spiel, das an Mar-
celinho weitgehend vorbeiläuft. Sein Vater
flucht auf der Tribüne, als er zu Beginn der
zweiten Halbzeit einmal frei zum Schuss
kommt, den Ball aber am Tor vorbeischiebt.
Wenig später schlurft er dann mit schweren
Schritten zur Auswechselbank.
2:2 endet das Spiel, das Treze die Klasse
sichert. Marcelo, der noch lange bei den
Fans steht, ist der Letzte, der vom Rasen
geht.
Und jetzt?
»Ein paar Tage ausspannen und den
Kopf in Ordnung bringen«, sagt er am
nächsten Abend, als er nach der Kirche
mit seiner Familie die Klapptische vor
Arrudas Dönerbude zusammenstellt. Den
Laden gibt es seit drei Monaten.
»Wenn die Sache erst mal brummt«, sagt
Arruda, »dann ziehen wir das als großen
Franchise auf. São Paulo und Recife ...«
Marcelo klopft ihm lachend auf die
Schulter.
»Ist gebongt, Bruder. Amen!«

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EVGENY MAKAROV / DER SPIEGEL

EVGENY MAKAROV / DER SPIEGEL

EVGENY MAKAROV / DER SPIEGEL

Gottesdienstbesucher Marcelinho, Heimatviertel, Stadionszene*
»Mein Körper hat mir ein Zeichen geschickt«

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