Mittwoch, 21. August 2019 SCHWEIZ 13
EinZürcher Topbanker soll 24MillionenFranken
gewaschenhaben –jetzt steht er vor Gericht SEITE 14
EinBesuch bei einerGemüsekooperative, wosichStädter
gegendie industrielle Landwirtschaft stellen SEITE 15
Ein «Frauenrutsch» zeichnet sich ab
Frauenförderung ist nicht mehr nu r Sache der Linken – sogar die SVP po rtiert für die kommenden Wahlen viel mehr Kandidatinnen
Frauenstreik und «Helvetia ruft»
zeigenWirkung: Die bürgerlichen
Parteien setzen zahlreiche
Politikerinnen auf aussichtsreiche
Listenplätze. Der Nationalrat
dürfte deshalb deutlich
weiblicher werden.
SIMON HEHLI, NIKOLAI THELITZ (TEXT)
BALZ RITTMEYER (GRAFIK)
Sie sind neben dem Klima das zweite
Thema, das bis jetzt denWahlkampf
prägt: dieFrauen. Im Nationalrat bele-
gen sie derzeit knapp einen Drittel der
Sitze,im Ständerat sogar nur 13 Pro-
zent.Die Hunderttausende vonFrauen,
die am14.Juni anlässlich desFrauen-
streiks auf die Strasse gingen, pochten
auch auf eine stärkereVertretung an
den Schaltstellen der politischen Macht.
Die FrauenorganisationAlliance F und
die Operation Libero lancierten die
überparteiliche Bewegung «Helvetia
ruft»– un dtatsächlichmelden nunviel
mehr Kandidatinnen ihren Anspruch
auf einen Platz im Bundeshaus an.
Die NZZ hat die bis anhin vorlie-
genden Hauptlisten der sieben gröss-
ten Parteien, die einrelativkomplet-
tes Bild ergeben, nach Geschlecht und
Wahlchancen analysiert.DerAnteil der
Frauen ist imVergleich zu 2015 deut-
lich gestiegen, von rund 36 aufrund 42
Prozent. Alibikandidaturen au f chan-
cenlosen hinteren Listenplätzen nüt-
zen jedoch so gut wie nichts. Noch be-
deutsamer ist deshalb der zweite Be-
fund:Frauen belegen für dieWahlen 46
Prozent der aussichtsreichenPositio-
nen. Vor vierJahren waren es lediglich
33 Prozent gewesen.
Die Entwicklung ist vor allem den
bürgerlichenParteien zu verdanken,
die imVergleich zur Linken Nachhol-
bedarf aufweisen. Die SP und die Grü-
nen haben sich dieFrauenförderung
schon lange auf dieFahnen geschrie-
ben undkönnen deshalb auf viele na-
tionaleParlamentarierinnen zählen;in
der sozialdemokratischenFraktion im
Nationalrat gibt es derzeit sogar einen
klarenFrauenüberhang. «Das ist zwar
nie ein Selbstläufer,aber dank unse-
rerVorarbeit in den vergangenenJahr-
zehnten brauchte es dafür jetztkeinen
speziellen Effort mehr», sagt SP-Gene-
ralsekretär Michael Sorg.
Mehr erfahrene Männer
Ganz anders sieht es bei der FDP aus.
Sie gehörte 2015 zu denWahlsiegern,
doch gab es einenWermutstropfen:
Unter den 11 neugewählten freisin-
nigen Nationalräten war eine einzige
Frau, die Zürcherin Regine Sauter.
Das war eine Folge davon, dass nur
wenigeFrauen einen aussichtsreichen
Listenplatz bekommen hatten. 2019
hingegen haben die FDP-Kandidatin-
nen einen klaren Sprung nach vorne
gemacht.Laut demWahlkampfleiter
Matthias Leitner hofft diePartei des-
halb, ihren bisher tiefenFrauenanteil
von etwas über 20 Prozent im Natio-
nalrat steigern zukönnen: «Eine gute
Abbildung der Bevölkerung auch in
der FDP-Fraktion ist uns ein ernstes
Anliegen – zumalwir aus derWirt-
schaft wissen,dass gemischteTeams
besser funktionieren.»
Dafür brauche es gerade für eine
bürgerlichePartei eine Sonderanstren-
gung. «DerPool an engagierten und
ehrgeizigen Männern, welche die Och-
sentour absolvierthaben und beispiels-
weise alsFraktionschefs inden Kanto-
nen amtieren, ist einfach grösser. Des-
halb istFrauenförderung eine langfris-
tige Geschichte.» Leitner betont, man
könne auch nicht einfach unbekannte
Anwärterinnen auf die ersten Listen-
plätze hieven und glauben,es komme
dann schon gut. «Das Risiko ist gross,
dass sie gestrichen und nach hinten
durchgereicht werden, das kann sehr
frustrierend sein.»Damit Kandidatin-
nen nicht verheizt würden, sollte ihr
Listenplatz mit ihrem tatsächlichen
«Standing» inPartei und Kantonkor-
relieren, sagt Leitner.
BessereListenplätze bei der SVP
Von allen massgeblichen Parteien
hat dieSVP derzeit den klar tiefs-
ten Frauenanteil im Nationalrat. Das
ist kein Zufall:Dass Themen wie die
Vereinbarkeit von Beruf undFamilie
oder Lohngleichheit für die National-
konservativen so gut wiekeine Rolle
spielen, zeigt sich schon daran, dass
sie keine Frauensektion mehr haben.
Doch selbst in derSVP gibt es offenbar
Bewegung, sie schickt deutlichmehr
Frauen an den Start, und diese haben
im Schnitt die besseren Listenplätze
erhalten als ihre männlichen Kon-
kurr enten.Die stellvertretendeSVP-
Generalsekretärin Silvia Bär sagt,
sie und derWahlkampfleiterAdrian
Amstutz hätten beiTreffen mit kan-
tonalenSVP-Vertretern immer wie-
der betont, wie wichtig durchmischte
Listen seien.«Dieses Bewusstsein ist
gewachsen, undoffensichtlich zahlen
sich unsere Bemühungen nun aus.»
Die Partei habe heute in den Kanto-
nen mehrFrauen, die sich als Gross-
rätinnen oder als erfolgreiche Unter-
nehmerinnen einenNamengemacht
hätten, als nochvor einigenJahren.
Die CVP macht bezüglichFrauen-
vertretung besonders vorwärts: Die
Christlichdemokratinnen haben jeden
zweiten aussichtsreichen Listenplatz
erhalten, das ist der höchsteWert aller
bürgerlichen Bundesratsparteien.Laut
dem Sprecher Michaël Girod brauchte
es dafürkeine Order aus derParteizen-
trale: Die Sektionen seien schonsensi-
bilisiert genug. Girod spricht von einer
Koinzidenz zweier Phänomene. Da sei
ei nerseits der Zeitgeist,der fürFrauen-
kandidaturen spreche. Und anderer-
seits sei die Zeitreif für zahlreiche
CVP-Politikerinnen, die sich ihre Spo-
ren auf kantonaler Ebene verdient hät-
ten und nun parat seien für den Sprung
auf das nationaleParkett.Als Beispiele
nennt er Heidi Z’graggen in Uri, Mari-
anne Maret imWallis oder Marianne
Binder im Aargau.
Nicht nur Aushängeschilder
EinenWandel durchläuft derzeit die
GLP.In denJahren nach der Grün-
dung 2007 war sie männlich dominiert,
der typische Grünliberale war Natur-
wissenschafter und eher spröde. Doch
die Parteiwirdimmer weiblicher, das
zeigt sich auch im wachsenden An-
teil der Kandidatinnen. Eine wichtige
Rolle spielen dabeiAushängeschil-
der wieFraktionschefinTiana Mo-
ser, Nationalrätin Kathrin Bertschy
oder die Zürcher Kantonalpräsidentin
Corina Gredig. Ihr gesellschaftspoli-
tisch progressiverKurs kommt gerade
bei urbanenWählerinnen (undWäh-
lern) gut an.Das zeigtesich bei den
Wahlen in Zürich im März: Die GLP
brachte 10 neue Gesichter in den Kan-
tonsrat, darunter sind 9Frauen.
«Wir GLP-Frauen haben zwar noch
nicht ganz in allen KantonenParität
auf den Listen, aber wir gestalten die
Politik innerhalb derPartei zu gleichen
Teilen wie die Männer», sagt Kathrin
Bertschy, die zusammenmit der Grü-
nen Maya Graf auch die Organisation
Alliance F leitet.Die Bernerin geht da-
von aus, dass die Kampagne «Helve-
tia ruft» stark mitgeholfen hat, bei der
GLP, aber auch in anderenParteien die
Frauen zu mobilisieren.
Die BDPkonnte ebenfalls mehr
Kandidatinnen gewinnen. Doch sie
läuft Gefahr, im Nationalrat bald ganz
ohneFrau dazustehen: Die einzige Bis-
herige, FraktionschefinRosmarie Qua-
dranti, ist in Zürich akut abwahlgefähr-
det. Immerhin sind die Chancen intakt,
dass die Bernerin Béatrice Simon den
einzigen Ständeratssitz der Kleinpartei
verteidigen kann.
Entscheidend für den Erfolg der
Frauen bei den Nationalratswahlen ist
aber nicht allein die Platzierung auf
den Wahllisten, sondern auch dasPa-
naschier- undKumulierverhalten der
Wähler. Je nach Partei gibt es hier
durchaus Unterschiede, wie einVer-
gleich der Listen von den Nationalrats-
wahlen 2015 mit Ranglisten basierend
auf den tatsächlich abgegebenen Stim-
men zeigt. Die Frauen wurden in vielen
Parteien schlechter gewählt, als sie plat-
ziert waren.
WählerstreichenFrauen
BesondersWähler der FDP und der
BDP habenFrauen von den Listen ge-
strichen und sie durch Männer ersetzt.
Auf einer fiktiven Liste mit zehn Plät-
zen verloren dieFrauen beiderParteien
rund einen halben Listenplatz.Auch bei
CVP, Grünen und Sozialdemokraten
mussten dieFrauen leichte Einbussen
hinnehmen.Am deutlichsten zulegen
konnten sie bei den Grünliberalen. Bei
der SVP wurden dieFrauen immerhin
ein bisschen besser gewählt, als es ihr
Listenplatz vermutenliess.
Zu ähnlichen Schlüssenkommt eine
Analysedes Bundesamtes für Statis-
tik. Der PolitologeWerner Seitz ver-
glich darin den Kandidatinnenanteil
mit dem Anteil gewählterFrauen nach
Partei. Gemässder Studie hatten bei
FDP und BDP dieMänner deutlich
bessere Chancen,gewählt zu werden
als bei der GLP. Über alle Parteien
hinweg gesehen, hatten Männereine
1, 1-mal so hohe Erfolgsaussicht – das
ist ein markanterFortschritt gegenüber
1975, als dieWahlchancen eines Man-
nes noch 3,5-mal so hoch waren wie
jene einerFrau.
Dass Frauen mittlerweile nicht nur
weiter oben auf den Listenplätzen
stehen, sondern auch bei derWähler-
schaft gut ankommen, zeigen a uch die
Ergebnisse der Zürcher Kantonsrats-
wahlen,die im vergangenen März statt-
fand en. Die statistischenWahlchancen
der Frauenkonnten sich weiter ver-
bessern, zwischen dem Kandidatin-
nenanteil von 41,4 Prozentund dem
Anteil der gewähltenFrauen von 40
Prozent besteht kaum noch ein Unter-
schied. Dort schafftenes mehr weib-
liche als männliche Kandidaten, bes-
ser als ihr Listenplatz abzuschneiden.
Die Überraschungskandidatinnen fan-
den sich dabei sowohl auf linker wie
auch auf bürgerlicher Seite.
In Prozent
0102030405060
BDP
SVP
SP
GPS
GLP
FDP
CVP
Platzierung der Frauen auf den Parteilisten und beimWähler
Durchschnittliche Platzierung der Kandidatinnen auf denWahllisten und bei den abgegebenen
Stimmen bei denWahle n
*Als aussichtsreich giltdie Zahl der bisherigen Sitze der Partei pro Kanton, in grossen Kantonen gelten
zusätzliche Plätze als aussichtsreich (siehe Methodikteil).
5
6
5
6
GPS: 5,
BDP: 4,
CVP: 5,
FDP: 5,
SVP: 5,
GLP: 5,
SP: 5,
5,
5,
4,
5,
5,
5,
5,
Rang auf derWahlliste* Rang beimWähler
1 2 3 4 5 6 7 8 9
10
1 2 3 4 5 6 7 8 9
10
Frauenanteilauf denWahllisten der Nationalratswahlen 2015 und 2019
*Die Berechnungbasiert auf einer fiktiven Liste mit 10 Plätzen, um eineVergleichbarkeit zu gewährleisten
(siehe Methodikteil).
QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK NZZ Visuals/brt.
Frauen sindauf de nListen prominenter vertreten als 2015
2015 gesamt 2015 auf guten Listenplätzen*
2019 gesamt 2019 auf guten Listenplätzen*
«Eine gute Abbildung
der Bevölkerung auch
in der FDP-Fraktion
ist uns ein Anliegen –
zumal wir aus der
Wirtschaft wissen,
dass gemischteTeams
besser funktionieren.»
Matthias Leitner
FDP-Wahlkampfleiter