Neue Zürcher Zeitung - 21.08.2019

(John Hannent) #1

Mittwoch, 21. August 2019 FEUILLETON 39


Für einmal ist das Schwelgen erlaubt,


die Vernunft muss dafür draussen bleiben


Ein Ausflug ins umweltpolitisch Unkorrekte bietet ec hte Erholung. Und er lässt innig geniessen, was eigentlich verboten wäre


HERBIE SCHMIDT


Diesmal lasse ich alles hinter mir. Kein
CO 2 -Fussabdruck,keine sozialverträg-
liche Stille.Ich befreie mich von all dem
grünenTand, der zum achtsamen Leben
unserer Zeit gehört.
Stattdessen wende ich mich angejahr-
tem Blech in seiner schönstenForm zu,
die dasAuge mit Ästhetik umschmei-
chelt; glänzendemLack in allenFarb-
facetten und Pigmenten, dessen Spiege-
lungen immer neueFormen zu kreieren
scheinen; feinster Mechanik aus Chrom-
stahl, Aluminium, Magnesium undTitan;
geschmeidigem Leder, das schon bei der
BetrachtungParfums erzeugt, die zu ge-
danklichen Zeitreisen führen; und vor
allem: dem Geruch von Öl undFetten
aus Motoren, Getrieben und Gelenken.
Dazu geselltsich gelegentlichohrenbe-
törenderLärm aus verchromtenRoh-
ren. Mozart für manche, Metal für an-
dere. Strengstens verboten.Dasalles ist
über die Massen aufregend.
Diese ach so archaischeWelt, die sol-
che Urbedürfnisse für alle Sinne greif-
bar macht, ist einer Dynastie von Ost-
schweizer Unternehmern zu verdanken,
die ihreLeidenschaft vielen Enthusias-
ten näherbringen wollte. ImAutobau zu
Romanshorn,einem stillgelegtenTank-
lagerfürIndustriealkohol, hat der Büro-
möbelmagnatFredy Lienhard eineOase
der Begeisterung für dasAutomobil und
den Motorsport geschaffen, die nun von
Fredy junior weitergeführt wird.
Die umfangreiche Sammlung moto-
risierter Preziosen der letzten sieb-
zig Jahre schafft Atmosphäre. Auch
wenn hier vieleRäder stehen, so lässt
sich dochjedes Gefährt mit wenigAuf-
wand zum Leben erwecken und aus der
Halle fahren. Dies geschieht immer wie-
der und immer öfter,denn derAutobau


wird als Event-Location am Bodensee
stetig beliebter.
Was diese Leidenschaftsansammlung
ausmacht,erschliesst sich sehr schnell
beim Flanieren durch die fünf Hallen,
beim Betrachten derWagen, die man
auch anfassen darf, ja eigentlich muss.
Gelegentlich darf man auch einsteigen,
dann wird das Erlebnis hautnah.
Schwelgen ist ohnehin immer er-
laubt, dieVernunft bleibt draussen.Nur
die wenigstenFahrzeuge in der Samm-
lung kann sich der Besucher leisten, und
allein das macht einenTeil derFaszina-
tion und Unerreichbarkeit aus.

Erlebbares Kulturgut


So schlendere ich also vorbei anRari-
täten wie demFerrari F40 von1987 –
Fredy juniors Lieblingswagen,dem
Porsche 356A Speedster von1955 und
dem Mercedes SL W121 von1960. Die
schiere Ansammlung automobiler Meis-
terstückeist schon ein Erlebnis für sich,
das sich jedem Betrachter erschliesst, ob
Experte, Fan oderAutomuffel.
Ein Must ist derLamborghini Miura
von1966, der Inbegriff gepflegten Sport-
wagendesigns, aufAugenhöhe mit dem
Jaguar E-Type – auch der ist hier zu fin-
den. Der 415 PS starke Miura aber ist
deutlich seltener und eines der vielen
Highlights der Lienhard-Sammlung.
Man begehrt sich hineinzusetzen in
solch gepflegtesKulturgut, das Lenkrad
zu spüren, diePedale durchzudrücken,
den Schaltknauf zu bewegen.Das sind
Kunstobjekte, die unmittelbar und er-
lebbar sind.DastörtkeineKordel, der
zurückhaltendeAufseher mahnt nicht
zur Distanz, im Gegenteil. Nicht ein-
mal imFerrari-eigenenWerksmuseum
in Maranello lässt sich der 330 GTO
von1962 so unmittelbar erleben wie

hier am Bodensee. Zwölf Zylinder, vier
Liter Hubraum, 390 PS, ein Blick unter
die Haube ist diereinsteFreudeund be-
schleunigt den Puls desKenners.
Ausser auf die in der Schweiz oft
auch in freierWildbahn zu bestaunen-
denAutomodelle von1950 bis heute
trifft der Flaneur auch auf Überraschen-
des, dasselbst Spezialisten zu verblüf-
fen vermag. Dasteht in unscheinbarem
Schwarz einVector W8 aus den frühen
1990erJa hren, der als erstesAuto über-
haupt mit seinen 634 PS eine Höchst-
geschwindigkeit jenseits der 320 km/h
er reichte.DieserKeil aus Kalifornien
war schon in den1970erJahren die Sie-
gerkarte in allen Quartetten, weil er ge-
nauso schnell war, wie eraussah.Aus
ganz Europakommen dieVector-Fans
nachRomanshorn gereist, um den W8
zu sehen und zu fühlen, von dem nicht
einmal zwanzig Stück gebaut wurden.
Dass es heute eine ganzeReihe von
Autos gibt, die ebenfalls in den Olymp
der Hypersportwagen aufgestiegen sind,
lasse man gerne einmal ausser acht und
fokussiere seine Begeisterung auf die-
sen ultraflachen schwarzen Hobel. Den
kennt heute zwar kaum jemand, doch
gelang es ihm, die Zukunft der automo-
bilenBaukunst vorwegzunehmen.
Ein paar Schritte weiter wandelt sich
die Atmosphäre. Hier wird man unver-
mittelt der Spannung gewahr, die den
Rennwagen in derRacing-Halle inne-
wohnt. Offene und geschlossene Boli-
den scheinen nur darauf zu warten, an
den Start gerollt zu werden und beim
Fallen der Startflagge vorwärtszupre-
schen. Die Geräuschkulisse bildet sich
imKopf: aufheulende Motoren, quiet-
schendeReifen, klackernde Getriebe,
derJubel des Publikums, der Alarmis-
mus des Streckensprechers, die heraus-
geschrienen Befehle an die Mechaniker

in den Boxen. Hier stehen fein inReih
und GliedFormel-1-Autos undRenn-
sportwagen, nicht wenige aus der Hin-
wiler Sauber-Schmiede, viele aus den
Rennfahrerzeiten vonVater und Sohn
Lienhard, dieauf denRundstrecken
allerKontinente anzutreffen waren.
Was jetzt noch fehlt, um das Erleb-
nis abzurunden, sind Bewegung und
Geschwindigkeit dieser Sammlerstücke.
Auch das ist imAutobau möglich.Da
kann es spontan zum «Rollout Light»
kommen, wenn die Lienhards einen der
Wagen aus der Halle holen und ihm
auf demRundkurs vor dem Industrie-
gebäude ein wenig die Sporen geben.
Die Musik erklingt, und es lässt sich er-
ahnen, wie dieKolben in den Zylindern
in perfekter Harmonie aufeinander ab-
gestimmt fürkontrollierte Zündung und
Verbrennung sorgen. Mit etwas Glück
darf man mitfahren und einen Ein-
druck vonPoesie in Bewegung erhalten,
vonFahrtwind, Seitenkräften und dem
sprichwörtlichenTr itt ins Kreuz, wenn
der Pilot unvermittelt Gas gibt.

Formel Frischluft


Garantiert sind solche Erlebnisse bei
denregelmässigen, imVoraus angekün-
digten «Rollouts», wo Hypersportwagen
wie derFordGT, derFerrariLaferrari
oder eben derVectorW8 hervorgeholt
und auf die Event-Besucher losgelassen
werden.Dann ist der brachialeAuspuff-
sound für kurze Zeit die Begleitmusik.
Aber es geht auch fast lautlos, denn
die Lienhards haben erkannt, dass die
Energiewende bevorsteht.Fredy se-
nior hat trotz langerRennfahrerkar-
riere und Benzin im Blut einFaible für
Elektroautos. Zur Sammlung gehört ein
TeslaRoadster von 2010, sein derzeiti-
gerFavorit ist der hybridePorsche 918.

Wenn die Stromer um denRundkurs
huschen, istkeinesfalls Enttäuschung
angesagt.Das Fehlen von Motorgeräu-
schen,Vibrationen und Schubunterbre-
chung beim Schalten ist garkeine Ent-
behrung.Es ist eineAddition zurFas-
zinationAuto, eineReihe zusätzlicher
Eigenschaften. Noch istderAutobau zu
99 Prozent einReich des Benzins, aber
auch das ist beimAutobauRomanshorn
imWandel. Zur heilenWelt desAutomo-
bilsgehört derFortschritt, die Pflege al-
terTr aditionen schliesst diese pragma-
tische Grundhaltung nicht aus. Und bei
denFahrleistungen spielen Elektroautos
bereits in der Liga von Supersportwagen.
In einem neuen Nebengebäude sor-
gen in der «Factory»Spezialisten für fach-
ge rechteReparaturen an Oldtimern und
Neuwagen.Dank viel Glas und offenen
Boxen entsteht hier ein wenig der Ein-
druck eines Schauraums für dasGewerbe,
das es erst möglich macht, automobile
Schätze auch in Bewegung zu halten.
DerTag am Bodensee endet. Schwe-
ren Herzens löse ich den Sitzgurt des
330 GTO,betätige den Chromhebel zum
Öffnen derTür. Ein letztes Mal streichle
ich über den Lenkradkranz aus edlem
Nardi-Holz, sauge den Geruch des Con-
nolly-Leders ein und verlasse denWa-
gen. Ein letzter Schulterblick und dann
die unwilligeRückkehr in dieRealität,
woVernunft so gar nichts mit derFaszi-
nation desAutobaus zu tun hat.
Hierregiert brave Leisetreterei ohne
Emotionen.Daüben wir lieber zivilen
Ungehorsamundkehren schon bald
wieder zurRomanshornerOase zurück.
Denn die Sammlung ist mit neunzigFahr-
zeugen so gross, dass es jedes Mal wieder
Neues zu bestaunen gibt. EinWiederse-
hen mit demVector W8 ist garantiert.

Nähere Informationen: http://www.autobau.ch

In Romanshornwurde aus einemTanklager ein neuer Lebensraum für alte und neue Sportwagen undRennautos.JedesFahrzeug lässt sichheute nochfahren. PD

Free download pdf