INTERNATIONALIMittwoch, 21. August 2019 Mittwoch, 21. August 2019 NTERNATIONAL
Ein wilder Ritt
an die Grenze
von Europa
Acht Momentaufnahmen einer Entdec kungsrei se
auf zwei Räder n in die Slowakei – ein Land
auf der Suche nach sein em Platz in Europa.
Ivo Mijn ssen (Text und Bi lder), Beni Buess
und Anna Wiederkehr (Grafik)
600 Kilometer Luftlinie östlich von
Wien liegt die Grenze der EU. Dort
endet die Slowakei und beginnt die
Ukraine. Nur eine gute Stunde würde
dieReise mit dem Flugzeug dauern –
wenn es denn eineVerbindung gäbe –,
acht Stunden imAuto, sechsTage sind es
auf demFahrrad. DieFahrt führt durch
dreiLänder,die Hügel des Erzgebirges,
vorbei an Hunderten von Dörfern, Städ-
ten,Friedhöfen, Kirchen, Feldern und
Wäldern; 800Kilometer,inklusive eini-
ger Umwege und Schlaufen.
Der Blick desJournalisten über den
Fahrradlenker ist dabei ein spezieller,
mitVorteilen undTücken. Ohne Motor
zieht dieLandschaft langsamer vorbei
als mit, doch schneller als zuFuss. Es
bleibtZeit für kurze Begegnungen und
langes Sinnieren imTakt derPedale, Ge-
rüche undFarben steigen in die Nase,
stechen insAuge. Doch Stehenbleiben
ist nicht vorgesehen: DerWeg ist zu weit,
die Gefahr derVerzettelung zu gross.
So streift der Blick denWegrand,
verharrt einen Moment lang, manchmal
auch zwei.Das genügt für achtMoment-
aufnahmen, achtAugenblicke aus der
slowakischen Gesellschaft und Ge-
schichte, rasch vorbei, sobald das lange
Strassenband wieder volleKonzentra-
tion erfordert.
- Bratislava: Grenze ohneSinn
Im Kalten Krieg gehörten dieAussen-
quartiere von Bratislava zu den am
stärksten befestigten Abschnitten zwi-
schen der Tschechoslowakei und Öster-
reich. Doch im vereinigten Europa hat
die Grenze ihren Sinn verloren; Zoll-
gebäude undRestaurants sind leer,nur
das knallrote Casino Monaco verbreitet
einen schalen Hauch von Glamour.
Das Leben beginnt hinter der Strasse,
auf dem vielbefahrenen Donauradweg.
Familien auf demWochenendausflug,
einVeloteam aus Bratislavaund einige
Tourenradfahrer zischen aneinander
vorbei.Kein Schild lässt erahnen, dass
hier einstdie Zonengrenze lag.Nur auf
einerWiese steht ein einsamer Schlag-
baum als stummes Monument.
Der Bunker aus den dreissigerJah-
ren, einst alsTeil einesVerteidigungs-
walls gegen Hitler gebaut, zieht deut-
lich mehr Menschen an.Er erinnert an
eine Zeit, als die Tschechoslowakei als
unabhängigerStaat existierte, bevor ihn
die Europäer im Münchner Abkommen
an Hitler auslieferten und er nach dem
Krieg zum sowjetischen Satellitenstaat
wurde. Die Erinnerung an Grenzen zum
Schutz der Bevölkerung fällt offensicht-
lich leichter als jene an die Gefängnis-
mauern des Sozialismus.
- Galanta:Mahnmal mit Helm
AlsBand akkurat gemähterWiesen
zieht der Strassenrand vorbei. Doch
regelmässig unterbrechen improvisierte
Mahnmale diegrüne Monotonie. Unter
die Haut gehen jene, die ausTeilen der
Unfallfahrzeuge bestehen: ein mitRosen
gefülltesRad,eine Schleife, ein Schild
mit dem Geburts- und demTodestag des
jungen Opfers, darunter der zerkratzte
Helm mit seinemFoto.Autosrauschen
mit 100 Kilometern pro Stunde vorbei,
was auf zweiRädern, ohne Metallpanzer,
ein mulmiges Gefühl verursacht.
Der Blick in die Statistik lässt etwas
aufatmen: Die Slowakei hat seit 2010
bei derVerringerung derVerkehrstoten
Fortschritte gemacht und liegt nun unter
dem europäischenDurchschnitt. Der
Hauptgrund ist, dass dieAutos sicherer
wurden. Zweiräder bleiben gefährdet.
Ein aus der Gegend stammenderRenn-
velofahrerkommentiert das Mahnmal
trocken: «Es ist flach hier,und es gibt
nichts zu tun.Ausser schnell fahren.»
- Hronsky Benadik: Durch
Zeitund Raum
In der Mittelslowakei wird es hügelig.
Zuweilen fühlt sie sich an wie der Mitt-
lereWesten der USA, und der Ameri-
can Dream tauchtregelmässig am Stras-
senrandauf; meist etwasverblichen, in
Form von alten Coca-Cola-Schildern
und halbverlassenen Motels. Diese tei-
len sich den Platz mit pittoresken Dör-
fern und mittelalterlichen Kirchen.
Im Städtchen HronskyBenadikkom-
men alle zusammen: Ein im 11.Jahrhun-
dert vom ungarischenKönig Geza I.er-
bautes Benediktinerkloster thront an
der Hauptkreuzung und erinnert die
Besucher daran, dass die Slowakei bis
nach dem ErstenWeltkrieg Oberungarn
hiess. Daneben steht ein Denkmal für
die sowjetischen «Befreier» im Zwei-
tenWeltkrieg. In der «Bikerbar» sitzen
zwei sturzbetrunkene junge Männer und
hören russischenPop.An einerWand
hängen kitschigePoster mit edlen India-
nern aus demWildenWesten und Nost-
algiebildern derRoute 66. Es ist halb elf
Uhr morgens.
Den wilden Ritt durchRaum und
Zeit vervollständigen die Bilder an der
zweitenWand.Vaclav Havel, der Dissi-
dent und erste Präsident der Tschecho-
slowakei nach1989, hängt neben seinem
slowakischen Nachfolger MichalKovac.
Zu ihnen gesellt sich derKommunist
Antonin Novotny, dessenReformunwil-
li gkeit den PragerFrühling1968 mitver-
ursachte. Passend ganzrechts taucht
JozefTiso auf, derFührer des slowaki-
schen Nazi-Vasallenstaats nach1938.
Um die historische Kakofoniekom-
plett zu machen, haben die Besitzer eine
Büste des Sowjetdiktators Stalin auf den
Kachelofen gestellt. Doch irgendwie
passt das zu einemLand mit sozialisti-
scherVergangenheit:Schliesslich diente
die Dialektik dazu,Widersprüche in
einem neuen Ganzen zu vereinen.
- Kokava:Insel im Erzgebirge
Im slowakischen Erzgebirge gibt es
kaum einen flachen Abschnitt. Es geht
auf undab, über Hügel undPässchen,
wobei die Abfahrt als Belohnung für
den mühseligen Aufstieg hinter der
nächsten Kurve warten könnte,dies
aber nur selten tut. DieWälder sind
TSCHECHISCHETSCHECHISCHE REPUBLIKREPUBLIK
ÖSTERRÖSTERREICHEICH
Bratislava
Etappe 1
Etappe 2
Etappe 3
Wien
SLOVAKIEN
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