SEITE 18·FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201 Menschen und Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
E
r wiegt das Messer in der
Hand. Er ist unzufrieden.
Es ist nicht ausbalanciert,
das Messer kippt nach
rechts und links. Es ist ein
europäisches Messer: Hält
man es zwischen Klinge
und Schaft, kippt es Richtung Schaft. Japa-
nische Messer kippen Richtung Klinge, er-
klärt Kinya Terada seiner Kundin. Das sei
für den Arm und das Handgelenk besser.
Er könne auch Ikea-Messer schärfen, doch
denen fehle immer noch die Balance. Ki-
nya – so nennen ihn Stammkunden, und
so heißt sein Laden – steht hinter der The-
ke seines Standes in der Kleinmarkthalle
in Frankfurt. Gemeinsam mit seiner Frau
zelebriert er hier japanische Esskultur.
Von mittwochs bis samstags gibt es Sushi,
montags und dienstags schleift und ver-
kauft er Messer und bietet grünen Tee an.
Aus einer Schublade nimmt er eines sei-
ner japanischen Messer – er hat seine eige-
ne Marke. Die meisten kosten mehr als
300, manche auch an die 2000 Euro. Um
der Kundin zu demonstrieren, wie scharf
sie sind, hält er eine F.A.Z. des Vortages
auf Bauchhöhe vor sich. Das Messer fährt
durch die Zeitung wie durch Butter, Strei-
fen fallen auf den Boden. Die Kundin, die
Geburtstag hat, ist beeindruckt. Nächstes
Jahr zum Geburtstag mache sie einen
Schleifkurs bei ihm, scherzt sie. Auch das
bietet Kinya an – für 100 Euro je Person.
Ein bis zwei eigene Messer soll man mit-
bringen, heißt es auf einem Schild.
Der Stand geht fast unter im Gedränge
der Halle. Die Obststände, Cafés, Fleische-
reien und kleinen Restaurants sind bunter,
moderner oder dominanter. Und wenn
man Kinya so stehen sieht an seinem
Schleifstein, unterscheidet er sich kaum
von den vielen anderen Standbetreibern
aus aller Welt, die das Leben hierhin ge-
spült hat: ob aus Iran oder aus Italien. Für
viele ist ein Restaurant oder Geschäft eine
naheliegende Option, wenn sie nach
Deutschland kommen: Solange sie nicht
gut Deutsch sprechen, haben sie auf dem
Arbeitsmarkt schlechte Chancen.
Als Kinya nach Deutschland kam, trug
er Anzug und Krawatte. Er hatte eine Se-
kretärin und war für viele Angestellte und
noch mehr Geld zuständig. Er war Trai-
nee der Deutschen Bank, arbeitete als
Fondsmanager für große japanische, nie-
derländische und deutsche Versicherer. Ir-
gendwann wechselte er das Lager, wurde
Marketingdirektor einer Oper – um
schließlich einen Traum zu verwirklichen:
von der Hände Arbeit zu leben. Im Septem-
ber wird er 68 Jahre alt.
Seine Begeisterung für Europa hatte er
früh entdeckt. Während seines Studiums –
renommierte Universität, BWL – nimmt
er Kurse in deutscher Literatur, liest Tho-
mas Mann auf Deutsch. Ein Jahr länger
habe er deshalb studiert, aber weil er ja an
einer guten Uni gewesen sei, habe er sich
keine Sorgen um einen Job gemacht. To-
nio Kröger, Felix Krull, der Zauberberg,
Tod in Venedig – er rattert durch die Wer-
ke. Immer gehe es um Persönlichkeiten
zwischen Kunst, Bürgertum und Politik.
So sei er auch ein bisschen, irgendwo da-
zwischen, mit vielen Interessen.
I
n den neunziger Jahren war er
Geschäftsführer des Getränke-
herstellers Yakult Deutschland
und kümmerte sich um die
Markteinführung hierzulande.
Damals hatte er große Pläne mit
den kleinen Fläschchen mit pro-
biotischer Milch, die dem Darm helfen
soll. 700 Millionen Mark wollte er im Jahr
umsetzen, eine Million Verbraucher für
das Getränk gewinnen. Das war in den
Neunzigern. Jetzt steht er in der Ecke sei-
nes Standes, wo er Messer schleift, und do-
ziert darüber, was ihm wichtig ist: die Kör-
nung seiner Schleifsteine, die richtige
Schärfe von Messern und dass man drei
Handwerksmeister für ein gutes Messer
braucht – für das Eisen, für die Klinge, für
den Schaft. Doch wenn das Messer bei
ihm ankomme, sei es trotzdem nur zu 90
Prozent scharf. Den Feinschliff müsse
man den Messern im Laden geben. Viele
andere Läden, die japanische Messer ver-
kauften, wüssten das nicht.
Drei Jahre lang hat er das Messerschlei-
fen gelernt, in Japans früherer Hauptstadt
Kyoto. Sein Lehrer war Shinichiro Teraku-
bo, der die Messerdynastie Aritsugu in 18.
Generation führt. Zunächst hat Kinya
auch Aritsugu-Messer verkauft. Jetzt habe
er seine eigene Marke und arbeite mit japa-
nischen Meistern zusammen. Seit seiner
Lehre habe er sich immer weiter verbes-
sert. Es gehe nicht um die maximale, son-
dern um die richtige Schärfe. Mache er sie
zu scharf, würden die Kunden sie als Waf-
fen empfinden. Dann mache das Kochen
auch keine Freude.
„Ich war immer ein guter Schüler, war
auf einer guten Highschool, dann habe ich
für gute Unternehmen gearbeitet“, erzählt
Kinya. Nach seiner Zeit bei Yakult hätte es
so weitergehen können: „Asahi Beer hat
mir gute Konditionen angeboten“, sagt er.
Auch da hätte er als Deutschland-Chef die
Markteinführung gestalten sollen. „Aber
ich wollte nicht mehr für ein japanisches
Unternehmen arbeiten.“ Er berichtet von
kulturellen Problemen während seiner Ya-
kult-Zeit. Sechs Jahre lang hatte er davor
für einen deutschen Versicherer gearbei-
tet. Als er seinen ersten Urlaub beantrag-
te, habe er das Hotel, in dem er übernach-
ten wollte, und die Telefonnummer seiner
Eltern angegeben. „So hatte ich das in ja-
panischen Firmen gelernt.“ „Was soll das,
Kinya?“, habe ihn Peter, sein deutscher
Chef, gefragt und gelacht: „Wenn du Ur-
laub hast, hast du Urlaub.“ Nach und nach
habe er sich dann an die deutsche Unter-
nehmenskultur gewöhnt.
Unter der Woche ist die Kleinmarkthal-
le ein Rückzugsort – zwischen den Touris-
ten am Römer, der Shopping-Crowd auf
der Zeil und den Bankern in den Türmen.
Händler drängen Passanten Nüsse und
Datteln auf, bis die sich nicht mehr weh-
ren können und Päckchen kaufen. Am Wo-
chenende kämpft man sich durch Men-
schenmengen. Vor der Halle stehen die
Wohlhabenden dieser Stadt und trinken
Wein. Sie tragen weiße Hosen, und auf
den Hemden wechseln sich Krokodile und
Polo spielende Reiter ab. Auch bei Kinya
ist es voll am Samstag. Das Sushi ist häufig
schon um kurz nach halb drei ausverkauft,
mehr können Kinya und seine Frau mor-
gens nicht vorbereiten, auch so fangen sie
am Samstag schon vor 5.00 Uhr mit der
Produktion an. Angestellte möchten sie
nicht, sonst könnten sie die Qualität nicht
aufrechterhalten. Auch Kinyas Gäste
strahlen die Zufriedenheit finanzieller Si-
cherheit aus. Auch die besten Köche der
Stadt kommen zu Kinya. Er kümmert sich
um ihre Messer, auch seinen Tee und sein
Sushi schätzen sie. Auf Zeitungsausschnit-
ten, die er an einer Pinnwand sammelt, be-
zeichnen sie seinen Laden als „Oase“.
Nach der Zeit bei Yakult gibt es den ers-
ten Bruch in Kinyas Karriere. Er verlässt
die Welt der Wirtschaft, bekommt ein An-
gebot der Oper in Köln, wird dort Marke-
tingdirektor. Damals verkehrt er in den be-
tuchten Kreisen, erzählt von Abendessen
mit Alfred Biolek, Alice Schwarzer und
der Kunstsammlerin Gabriele Henkel.
Den Kontakt zur Oper hatte er davor
schon: Yakult hatte den Aufbau der Köl-
ner Kinderoper gefördert, die erste in
Deutschland, wie er betont. Bald danach
gibt es einen „Yakult-Saal“, er freundet
sich an mit Günter Krämer, dem damali-
gen Generalintendanten der Bühnen der
Stadt Köln. Kinya liebt Oper und Musik.
Er geht zu Premieren, erzählt, wie er be-
rühmten Solistinnen nach Auftritten den
Regenschirm hält und sich die Leute frag-
ten, wer denn dieser Japaner sei. Er ver-
bringt seine Sommer in Salzburg und auf
anderen Festivals. Doch auch die Beatles
haben es ihm früh angetan: „Life is very
short“, zitiert Kinya aus „We can work it
out“. Das habe ihn angetrieben: Das Le-
ben ist kurz, und er sei neugierig. Auch als
er einige Jahre später dann auf der Suche
nach einer Frau war, spielte die Musik
eine Rolle. Drei Eigenschaften seien ihm
wichtig gewesen: Sie müsse Klavier spie-
len, die japanische Teezeremonie beherr-
schen und eine gute Hausfrau sein: Seine
Frau ist, wie er, Teezeremonienmeister,
hat Klavier studiert und arbeitet mitt-
wochs bis samstags im Laden. Inzwischen
haben sie drei erwachsene Kinder.
Durch ein Lied, das im Hintergrund
läuft, wird Kinya an die Jahreszeiten erin-
nert: Sie zu genießen, dafür sei die traditio-
nelle Teezeremonie da. Vor dem Tee gibt
es kleine bunte Süßigkeiten, viele in Form
von Blättern, die nur aus Mehl und Zucker
hergestellt werden. Die sollen den Gau-
men süßen, weil der grüne Tee ohne Zu-
cker serviert wird. Kinya verkauft Ippodo-
Tee, ebenfalls von einer Familiendynastie
aus Kyoto. „Eine der besten Marken Ja-
pans“, sagt er. Lange sei er der Einzige ge-
wesen, der den Tee außerhalb Japans ver-
kauft habe. Seit 2013 gibt es einen Ippodo-
Laden in New York, inzwischen auch ei-
nen Online-Handel. Der günstigste kostet
bei ihm 14,90 Euro für 100 Gramm, für 40
Gramm des teuersten zahlt man 45 Euro.
Kinya erzählt, wie er Ippodo überzeugt
hat, die empfohlene Brühdauer zu ändern.
Früher sei die viel länger gewesen, er habe
es dann mit zweimal 15 Sekunden auspro-
biert. Jetzt empfiehlt die Packung, den Tee
30 Sekunden lang zu brühen.
Der zweite Bruch in Kinyas Karriere ist
ein Übergang. Um die Jahrtausendwende
spricht er mit einem Freund, einem Foto-
grafen, der ihm von der Begeisterung vie-
ler Deutscher für japanische Messer er-
zählt. Das trifft bei Kinya auf einen Nerv.
Er hatte zwar eine erfolgreiche Karriere,
aber: „Ich war immer neidisch auf die
Handwerker und Künstler, die mit ihren
Händen schöne Sachen schaffen“, sagt er.
Anfang der 2000er – Kinya ist fünfzig Jah-
re alt, bestes Manageralter – macht er in
Frankfurt in der Nähe des Opernplatzes
ein Geschäft für Messer auf, eine Bühnen-
bildnerin gestaltet den Laden. Nebenbei
arbeitet er weiter im Operngeschäft. 2005
zieht er um in die Kleinmarkthalle. Einer
der Stammkunden – älterer Herr in sportli-
cher Kleidung, kurze Hose, teure Sneaker
- kommt vorbei: „Seit zwanzig Jahren kau-
fe ich bei Kinya ein. Ich liebe Messer“,
sagt er. Drei ältere, die er hat nachschlei-
fen lassen, holt er ab. Dazu kauft er ein
neues von Kinyas Marke. Mehr als 500
Euro habe er gezahlt, verrät Kinya.
A
m meisten Umsatz ma-
che er mit dem Sushi
und den Messern, sagt
er. Vor allem in der
Weihnachtszeit gingen
diese gut. Der Laden lau-
fe. Dennoch schnallt er
seinen Gürtel ein wenig enger. Früher war
er Jaguar-Fahrer, das komme aus seiner
Zeit in London: „In England war das der
Rolls-Royce für arme Männer“, witzelt Ki-
nya. Jetzt fährt er einen Mazda: „Der Jagu-
ar für arme Männer“, sagt er und lacht.
Aber in drei Jahren, wenn er dann siebzig
ist, soll es wieder ein Jaguar sein.
Mit dem Mazda fährt er zu seinen Fein-
kosthändlern im Nordwesten Frankfurts.
Er ist einer der ersten Kunden, kurz nach
der Ladenöffnung um acht Uhr. Mit Hand-
schlag, einem Klaps auf den Rücken oder
Küsschen links und rechts auf die Wange
begrüßt er die Angestellten. Seine Frau
hat ihm morgens den Einkaufszettel ge-
schrieben: Schnell sucht er sich das Gemü-
se im Kühlraum zusammen. Dann geht es
zum Fischhändler: „Der hat gute Augen
für den Fisch“, sagt Kinya. Deshalb ver-
traue er ihm – so wie viele andere japani-
sche Restaurants. Einer der Angestellten
des Fischhändlers hievt im Kühllager, wo
es intensiver riecht als auf einem Fisch-
markt, einen vielleicht achtzig Zentimeter
langen Lachs aus einer der Styropor-Kis-
ten in eine Plastiktüte. In einem Zwischen-
raum entdeckt Kinya auf einer Theke ein
großes Stück Thunfisch. Er inspiziert es,
freut sich über die Farbe und das viele
Fett. Er ruft nach einem Angestellten, der
wiegt das Stück und verpackt es in eine
Tüte. Er will es Kinya reichen, doch der
wehrt ab: Er sei doch ein alter Mann, die
acht Kilogramm seien ihm zu schwer. Der
Angestellte legt den Thunfisch in Kinyas
Einkaufswagen. Der schiebt den Wagen
weiter, legt ein Gläschen Kaviar dazu und
geht zur Kasse. Lachs, Thunfisch und Kavi-
ar kosten am Ende etwa 450 Euro.
Auf Plexiglas-Ständern steht Kinyas
Speisekarte. Das Papier ist nach all den
Jahren vergilbt. Sechs Menüs gibt es zur
Auswahl: Das Mini-Menü kostet 11,
Euro, das Kinya-Luxus-Menü 28,90. Die
Menüs bestehen aus einem Teller Sushi,
als Vorspeise Misosuppe, Wassermelone
zum Nachtisch und so viel Ippodo-Tee,
wie man trinken kann. Es ist anders als in
vielen Restaurants. Kinya umgarnt Kun-
den nicht und tarnt Anweisungen nicht als
freundliche Bitte. Stattdessen steht auf
der Karte: „Absolutes Verbot bei Kinya:
Sojasauce in die Misosuppe... Nein!“ Da-
hinter sieben rote Ausrufezeichen. Unter
einem Bild mit einem Schälchen voll Soja-
sauce: „Viel Sojasauce nach dem Essen –
typisches unerzogenes Benehmen!“
Die Online-Bewertungen seines La-
dens sind positiv, bis auf eine Ausnahme.
Das sei ein Kunde am Telefon gewesen,
der sich über den Preis der Messer be-
schwert habe, sagt Kinya: „Der soll zu
Amazon gehen.“ Der Ton ist halb verächt-
lich, halb amüsiert. Kinyas Kinder sind
den Weg des Vaters gegangen. Alle drei ar-
beiten für Banken. Als Kinder haben sie
im Laden geholfen. Ein bisschen hofft er,
dass sie ihr Weg, wie seiner, wegführt aus
der Finanzbranche: „Der Älteste hat auch
Interesse an handwerklicher Arbeit.“ Viel-
leicht übernehme der ja mal seinen Stand
in der Kleinmarkthalle, sinniert er.
Blickt Kinya zurück auf seine Karriere,
ist sein Urteil klar: Nirgendwo war es so
schön wie hier. „Die Karriere als Handwer-
ker abzuschließen ist wunderbar.“ Kürz-
lich sei er beim Arzt gewesen, um den Kör-
per durchchecken zu lassen. „Alles gut, su-
perfit“, sagt er. „Zehn Jahre lang will ich
noch genießen.“ Er sagt es tatsächlich so,
er meint die Arbeit in der Kleinmarkthal-
le. Natürlich nur, wenn sein Körper das
mitmache. Er denkt darüber nach, in Zu-
kunft auch mittwochs Messer zu schleifen
und nur noch von Donnerstag bis Samstag
Sushi zu verkaufen. Das wäre weniger
stressig und seine Frau hätte einen Tag
mehr, um sich auszuruhen, sagt er.
Manchmal nehmen sich die Teradas
spontan frei. Kurz nach 5.00 Uhr postet er
auf Facebook: „Kein Sushi heute. Meine
Frau wollte ein schönes und ruhiges Wo-
chenende.“ Darum machten sie einen kur-
zen Urlaub. Nach seiner langen Karriere
sei sein Job in der Kleinmarkthalle der ers-
te ohne Klimaanlage. Doch das scheint
ihm wenig auszumachen. In einem Post
auf Facebook fasst er das zusammen: „An
der Ecke in der Kleinmarkthalle ohne Kli-
maanlage arbeite ich mit großer Freude.
Ohne Krawatte, ohne Sekretärin, ohne
Chefsessel und ohne Stress lebe ich.“
(Eine Langfassung dieses Artikels mit weiteren
Fotos finden Sie unter http://www.faz.net/sushi)
Der Schleifer
Vom Fondsmanager zum Messerverkäufer: Der Japaner Kinya Terada
ist ein Wandler zwischen den Kulturen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere
hat er sich einen Traum erfüllt und lässt sie nun als Handwerker ausklingen.
Von Gustav Theile und Frank Röth (Foto)
Messerschleifer, Teezeremonienmeister und Sushi-Chef:All das ist Kinya Terada momentan gleichzeitig. Früher hatte er noch viele andere Berufe.