Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1
9


der auf nahezu allen Betriebssystemen lief. Er
machte das World Wide Web letztlich für alle zu-
gänglich. Ein bedeutsamer Beitrag also, den Pel-
low geleistet hat. Da wäre es nur logisch, wenn das
Netz voll wäre von entsprechenden Porträts und
Interviews. Tatsächlich findet sich nur ein einzi-
ges Foto von ihr. Es ist etwa 30 Jahre alt.
Darauf sitzt Pellow schräg hinter Berners-Lee,
die Hände im Schoß verschränkt, neben einem
Computer. Irgendjemand hat einen Wikipedia-Ein-
trag über sie verfasst, ein paar Techwebsites
würdigen sie als einziges weibliches Mitglied im
WWW-Team. Darüber hinaus: nichts. Keine Infos,
was sie nach ihrer Zeit am Schweizer Forschungs-
institut CERN gemacht hat; keine Interviews an-
lässlich des Jubiläums des World Wide Web; keine
Profile in sozialen Netzwerken. Die Frau, die an
der Erfindung des WWW beteiligt war, hinterlässt
im Netz keinerlei Spuren.
Was ist aus ihr geworden? Wie sieht sie das
World Wide Web heute? Das alles und noch viel
mehr würde man sie gerne fragen. Aber dafür
muss man sie erst einmal finden.
Dass Frauen in Technologie und Naturwissen-
schaften aus der öffentlichen Beachtung ver-
schwinden, ist kein neues Phänomen. In der Digi-
talbranche sind sie ohnehin unterrepräsentiert,
und bei großen Forschungsprojekten werden
sie mitunter nicht als Mitautor*innen genannt, ihr
Beitrag wird nachträglich kleingeredet oder
infrage gestellt. Ein bekannter Fall ist der von

Donna Strickland, die im vergangenen Jahr ge-
meinsam mit zwei männlichen Forschern den
Nobelpreis für Physik bekommen hatte. Im Gegen-
satz zu ihren Kollegen gab es zu Strickland nicht
einmal einen Wikipedia-Eintrag, ein Autor der
Plattform hatte sie als nicht bedeutsam genug
eingestuft.

Unwahrscheinliche Revolutionärin
Nun muss nicht immer Sexismus schuld sein,
wenn eine Forscherin oder Entwicklerin aus der
Öffentlichkeit verschwindet. Man habe Pellow zur
30-jährigen Jubiläumsfeier des World Wide Web
im März dieses Jahres einladen wollen, heißt es
beim CERN, aber man habe sie auch nach intensi-
ver Suche nicht finden können. Tim Berners-Lee
lässt ausrichten, er habe keinen Kontakt mehr zu
ihr. Eine Sprecherin ihrer ehemaligen Uni in Lei-
cester schreibt, sie versuche seit Jahren erfolglos,
Pellow zu erreichen. Offenbar hat sie seit damals
nur ein einziges Interview gegeben, für ein Buch
ihres ehemaligen Kollegen Robert Cailliau, der es
gemeinsam mit dem CERN-Sprecher James Gillies
geschrieben hat. Cailliau, mittlerweile 72, will
nicht mehr mit der Presse sprechen. Gillies nimmt
sich Zeit für ein Telefonat.
Ja, er habe mit Pellow für das Buch gesprochen,
sagt Gillies. Das war vor fast 20 Jahren. Er habe sie
als sehr bescheidene Person erlebt. Sie habe über-
rascht gewirkt, dass er mit ihr sprechen wolle. „Für

▼ Pellow sei ein
häufiger Name in
der Region, heißt
es im Heimatmu-
seum. Das macht
die Suche nicht
gerade einfacher

‹+DQGHOVEODWW0HGLDURXSPE+ &R.*$OOH5HFKWHYRUEHKDOWHQ=XP(UZHUEZHLWHUJHKHQGHU5HFKWHZHQGHQ6LHVLFKELWWHQXW]XQJVUHFKWH#KDQGHOVEODWWJURXSFRP

Free download pdf